In die Zukunft oder in die Bedeutungslosigkeit? Ein Leitfaden für das 21. Jahrhundert

Bern, 12.04.2014 - Rede von Bundesrätin Doris Leuthard, Delegiertenversammlung der CVP, 12.04.2014

Die Technik im digitalen Sturm. Die Wirtschaft im globalen Wettstreit. Die Politik im langfädigen Nachvollzug und die Gesellschaft im Beobachter- und Nutzermodus. Lässt sich das 21. Jahrhundert überhaupt zukunftsgerecht gestalten bei dieser Ausgangslage? Wenn Fakten oft bereits Vergangenheit sind bevor Wirtschaft, Politik und Gesellschaft darauf reagieren können.

Gesellschaft, Wirtschaft und Politik hatten schon immer unterschiedliche Verantwortungen, unterschiedliche Handlungsebenen und unterschiedliche Geschwindigkeiten. Bislang ist die Schweiz durchaus gut gefahren mit den unterschiedlichen Handlungsebenen und Verantwortlichkeiten. Unser politisches System mit Vernehmlassungen, Debatten in den Parlamenten und den Volksrechten hat eine gewisse Trägheit. Das gab uns aber Verlässlichkeit, Rechtssicherheit, Stabilität - wichtige, nicht zu unterschätzende Faktoren für die Gesellschaft, die Zeit hat, sich mit Veränderungen zu befassen. Für die Verwaltung, die dafür sorgt, dass der Vollzug vom ersten Tag an perfekt funktioniert. Für die Wirtschaft, die genau weiss, wohin die Reise geht und diese Rechtssicherheit in der Schweiz als wichtigen Faktor schätzen lernte.

Was nun zunehmend Probleme bereitet, ist die unterschiedliche Geschwindigkeit. Bei drei unterschiedlichen Geschwindigkeiten gibt es immer Verlierer. ZU denen will niemand gehören. Und es gibt Gewinner: ZU denen will jeder und jede gehören.

Seit der Finanzkrise, ausgebrochen in den USA, werden wir überhäuft mit neuen Forderungen nach Regulierung, neuen Gesetzen, Abkommen etc. - und das unter erheblichem Zeitdruck. Der Bundesrat musste das Parlament mehrmals mit Sonderverfahren, mit Schnellverfahren strapazieren, weil andere Staaten kein demokratisch austariertes System kennen wie wir. Dieses Tempo entspricht uns nicht und tendenziell führt es eher zu Ablehnung als zu Akzeptanz.

In der Gesellschaft fühlen sich nicht alle als Globalisierungsgewinner. Diese hat Einige reicher, vermögender gemacht. Betrachtet man den Gini-Index, so hat sich die Verteilung des Wohlstands in der Schweiz gerecht entwickelt. Die Perzeption ist aber anders. Davon zeugen die Angriffe aus den eigenen Reihen auf unsere liberale Wirtschaftsordnung: Abzocker-Initiative, 1:12-Initiative, Masseneinwanderungs-Initiative, Grundeinkommens-Initiative, Erbschaftssteuer-Initiative. Wir sägen am eigenen Ast und wissen offenbar nicht mehr, was uns den Wohlstand gebracht hat, was unseren Erfolg ausmacht, was zu unserem guten Ruf beigetragen hat. Einige stellen sogar in Frage, ob Wachstum gut ist für unser Land.

Da stellen sich schon ein paar grundsätzliche Fragen, was schief gelaufen ist, warum wir immer mehr Volksinitiativen ausgesetzt sind, die so gar nicht zum Erfolgsmodell Schweiz passen, die Unsicherheit verbreiten, die unsere Stabilität in Frage stellen. Der Schweiz und ihrer Bevölkerung ging es noch nie so gut wie heute. Dennoch werden wir eingedeckt mit Vorhaben auf Verfassungsstufe, die einem Bild entsprechen, dass dieser Staat reparaturbedürftig ist, dass es mit unserem System nicht zum Besten steht. Warum ist das so?

Gibt es ein Land mit tieferer Arbeitslosigkeit? Mit besserem Zugang zu Bildung, zu Gesundheits- und Sozialleistungen? Mit besserer Infrastruktur? Mit tieferer Schuldenquote? Mit mehr Sicherheit für die Bürger?

Im Ausland reibt man sich erstaunt die Augen. Was ist los mit der Schweiz? Angesichts dieser Umstände glaube ich, dass es Zeit ist für eine Grundsatzdebatte. Was will unser Land? Wie stellen wir uns die Zukunft 2020/2030 vor?

Um im 21. Jahrhundert erfolgreich zu sein, müssen wir wissen, was uns stark macht, welche Werte und Errungenschaften es zu verteidigen und auszubauen gilt, was unsere langfristigen Interessen sind als Kleinstaat mitten in Europa. Wir müssen die verschiedenen Vorstellungen auf einen gemeinsamen inhaltlichen Nenner und auf eine gemeinsame Zeitachse bringen. Wir leiden heute darunter, dass diese Verantwortlichkeiten und Interessen selten deckungsgleich sind. Alle haben zwar eine Meinung zu den herrschenden Problemen, aber niemand ein allgemein gültiges Rezept. Statt die grossen Linien zu entwerfen für die Schweiz der Zukunft, verlieren wir uns in Detailfragen und vermitteln so der Bevölkerung Verunsicherung, Zerrissenheit, Tageshektik und politische Blockaden.

Der erreichte Wohlstand in unserem Land ist dabei nicht überaus hilfreich. Leicht neigt man dann zu Bequemlichkeit. Leicht meint man, dass dieser Wohlstand gottgegeben ist. Leicht neigen Gewisse zu steter Besserwisserei und verharren im verklärten Dauerblick in den Rückspiegel. Der Freiheit und der Leistungsbereitschaft, die uns so viel Wohlstand gegeben haben, dürfen wir ruhig etwas zutrauen, ja wir müssen ihr etwas zumuten!

So hat der Bundesrat seit geraumer Zeit versucht, auch schwierige Reformen anzupacken, um die Weichen für die Zukunft zu stellen:

  1. Um dem demographischen Wandel zu begegnen, haben wir die Altersvorsorge neu gezimmert, mit einem Ansatz, der AHV und BVG nebeneinander stellt. Mit einem Referenzalter von 65 Jahren und individueller Flexibilität. Mit einer Anpassung des Umwandlungssatzes an die Realität. Mit einem Finanzierungsmechanismus, der auch heutige Rentnerinnen und Rentner mit einbezieht. Wir haben versucht, den bislang unüberwindbaren Graben zwischen Abbau und Zubau von Leistung zu überwinden.
  2. Infrastrukturen sind elementar für Bevölkerung und Wirtschaft. Das Volk hat im Februar den Bahnfonds abgesegnet und somit die Bahnzukunft auf eine sichere Basis mit mehr Transparenz und mit Ausbauschritten bis 2040 gestellt. Nun ist dasselbe für die Nationalstrassen in der Vernehmlassung; auch hier mit derselben Architektur und demselben Ausbaukonzept bis 2040.
  3. Die neue Energiepolitik befindet sich seit September 2013 im Nationalrat. Ob sich die politischen Lager finden, hat viel mit den Wahlen 2015 zu tun. Alternativen habe ich bisher selten gesehen.
  4. Mit den anstehenden Steuerreformen für Ehepaare und multinationale Unternehmen mit Sonderregimes versuchen wir das System ein Stück weit gerechter zu machen, ohne vom Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abzurücken, ohne zig-Milliarden an Einnahmeausfällen zu riskieren, um steuerliche Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Das sind schwierige, aber strategisch wichtige Projekte.
  5. Der Schweiz ist es gelungen, dank Ausgabendisziplin, der Schuldenbremse und konjunkturell bedingten Einnahmen die Schulden zu reduzieren. Aktuell liegt der Bund bei 19%, die Schweiz inklusive Kantone und Gemeinden bei 35,4%, also weit unter den Maastricht-Kriterien. Im Vergleich zu unseren Nachbarn Deutschland mit 78,8% und Frankreich mit 94% weist die Schweiz auch hier eine komfortable Situation aus. Für den Bundesrat stellt sich die Frage, ob wir bei dieser Ausgangslage allfällige Überschüsse weiterhin zur Schuldenreduktion verwenden oder besser um die anstehenden Steuerreformen oder die AHV-Revision mitzufinanzieren.
  6. Bleibt die Europafrage. Der Bundesrat ist vom Bilateralismus überzeugt. Wer in die EU will und ebenso wer meint, die Bilateralen kündigen zu können, spielt mit dem Feuer. Das Volk hat den Bilateralismus mehrfach abgesegnet. Es hat den Marktzutritt in vielen Bereichen gewünscht und akzeptiert dafür, dass dies auch gemeinsame Spielregeln impliziert. Die Zuwanderung beschränken, das kann man auf verschiedene Arten. Und daher sollten wir nicht mit unserem wichtigsten Handelspartner die ausgehandelten Spielregeln neu erfinden und Unsicherheit schaffen. Die EU macht nicht alles gut. Sie ist nicht im Hoch. Aber es gibt zu ihr keine Alternative. Wir hatten 2013 mit der Lombardei 80% so viel Handel wie mit ganz China. Angesichts der Tatsache, dass die EU und die Schweiz an Bedeutung verlieren werden, weil wir im globalen Geschehen wirtschaftlich weniger wichtig sind und an Bevölkerung weniger bedeutend sind als andere Staaten dieser Welt, sollten wir auf Kooperation setzen und das allen voran mit denjenigen Menschen aus dem gleichen Kulturkreis, aus der Nähe, mit verlässlichen Partnern.

Der Föderalismus und der damit verbundene Ideenwettbewerb unter den Kantonen liefert uns eigentlich immer wieder den Beweis, dass man Fragestellungen unterschiedlich lösen kann, dass dies anspornt und der starke Einbezug des Bürgers zumeist die besseren Resultate liefert. Aber wir sollten uns wenigstens über die grossen Linien, die Grundzüge und Stossrichtungen der wichtigsten Reformen einigen. Unser System ist aber ausgelegt auf die einzelne Gesetzesvorlage, auf eine partikuläre Sicht und nicht auf die Gesamtsicht. Wenn der Bundesrat sein Regierungsprogramm vorstellt, so ist das eine technische Auflistung der abzuarbeitenden Geschäfte und weniger eine politische Deklaration. Vielleicht sollte dieses Regierungsprogramm eine Gesamtbetrachtung der zentralen Handlungsachsen sein, ein Überbau und damit eine Orientierungshilfe für die Bürger.

Am meisten Veränderung dürfte sowieso die Nutzung der digitalen Technologie bringen. Die Schweiz ist weltweit führend bei Innovationen und Breitbandinfrastruktur. Gemäss dem OECD Broadband Portal haben wir den 1. Platz punkto Breitbandnutzung und bei den Investitionen pro Kopf im Telekom-Markt. Wir rangieren auf Platz 3 weltweit betreffend der durchschnittlich gemessenen Verbindungsgeschwindigkeit und auf Rang 1 in Europa punkto ICT-Zugang. ICT bringt uns näher zusammen. Ob wir von Klima, Energie, Verstädterung etc. sprechen. Digitale Apps verändern unsere Existenz und sie eröffnen neue Felder, Opportunitäten. Das stärkt das BIP. Das ist die Zukunft. Diese Entwicklung erachte ich als strategisch wichtig für unser Land.

Ich habe vor einigen Tagen einen Ideenwettbewerb gestartet unter dem Titel „morgen? Die Schweiz". Wir laden darin 5 Fachhochschulen ein, Stellung zu nehmen zur Schweiz 2035, zu zentralen Fragen zur Entwicklung von Raum und Gesellschaft. Technisch können wir vieles lösen. Strassen bauen, mehr Häuser bauen, die Versorgung sicherstellen. Aber eine Gesellschaft braucht Bilder. Leider fehlt uns zumeist eine Vorstellung dieses Landes, Bilder dieser Schweiz der Zukunft.

Nur mit einer solchen Vorstellung können wir im 21. Jahrhundert bestehen. Nur dann hat die Schweiz eine Zukunft.


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