Vermächtnis, Vertrauen, Verantwortung

Bern, 29.08.2014 - Rede von Bundesrat Ueli Maurer anlässlich der 950-Jahr-Feier der Gemeinde Schwerzenbach vom 29. August 2014

Es gilt das gesprochene Wort

Vermächtnis
1064 wird Schwerzenbach zum ersten Mal erwähnt. Das ist jetzt 950 Jahre her. Stellen wir uns das mal vor: Bern wurde „erst" 1191 gegründet, die Eidgenossenschaft 1291, 1492 entdeckte Kolumbus Amerika. Da hatte Schwerzenbach schon eine lange Geschichte.
Das Dorf ist uralt und trotzdem sehr lebendig. Es ist Geschichte und Gegenwart gleichzeitig. Wir sehen und spüren hier unsere Herkunft und unsere Wurzeln. Das Dorf ist ein Vermächtnis all dieser unzähligen Generationen, die früher hier gelebt haben. Wenn man sich das vor Augen hält, wird man selbst etwas demütig.
Gottfried Keller geht wunderschön auf dieses Thema ein: Er beginnt seinen berühmtesten Roman „Der grüne Heinrich" mit einem Kapitel, dem er den Titel „Lob des Herkommens" gab.
Ganz am Anfang heisst es: „Mein Vater war ein Bauernsohn aus einem uralten Dorfe ..." Und weiter beschreibt er, wie in einem ewigen Kreislauf eine Generation von der nächsten abgelöst wird. Politische Ereignisse werden zu Geschichte und die Geschichte wird zur Legende. Die Menschen weichen der Zeit - „Aber das Dorf steht noch da, seelenreich und belebter als je ..."

Heute sind es oft nicht mehr die unmittelbaren Eltern wie bei Keller, sondern allenfalls unsere Gross- und Urgrosseltern, die als Bauern in einem „uralten Dorf" gelebt haben und dann vielleicht in die Stadt oder in die Agglomeration gezogen sind. Die meisten haben ihren Beruf gewechselt und sind nicht mehr in der Landwirtschaft tätig, auch wenn sie noch im „uralten Dorf" wohnen. Auch Schwerzenbach, das über Jahrhunderte ein Bauerndorf war, hat sich verändert.
Die Zeiten haben sich seit Gottfried Keller gewandelt. Das „uralte Dorf" aber hat uns geprägt. Wir pflegen dieses Dorfleben und diese dörfliche Gemeinschaft weiter, von den Vereinen bis zu unserer Politik, die - eben wie in der kleinen, überschaubaren Dorfgemeinschaft - auf Kompromissen und Ausgleich beruht.
So ist das Dorf und das Dörfliche für uns in der Schweiz eine stabile Konstante im Wandel der Zeit. Die alten Dörfer wie Schwerzenbach sind unser prägendes Vermächtnis, vom Landschafts- und Dorfbild her, aber auch bezogen auf unseren Gemeinsinn, das Zusammenleben und unsere Mentalität:
Oder eben, wie es Keller gesagt hat: „Aber das Dorf steht noch da, seelenreich und belebter als je ...", auch im übertragenen Sinne: als Teil unserer Wesensart.


Vertrauen
Das ist der kulturelle Aspekt - es gibt auch noch einen wichtigen staatspolitischen Aspekt: Die Schweiz ist ein Kleinstaat. Und diesen Kleinstaat unterteilen wir nochmals in 26 Kantone. Und diese Kantone unterteilen wir dann nochmals in Gemeinden. Der Kanton Zürich zum Beispiel hat 170 davon. Wenn man mit ausländischen Politikern darüber spricht, dann staunen sie regelmässig, dass diese Gemeinden nicht nur administrative Verwaltungseinheiten auf dem Papier sind, sondern sich weitgehend selbst verwalten.
Auf den ersten Blick könnte man das für altmodisch, ineffizient oder kleinkrämerisch halten. Aber es ist gerade das Gegenteil. Alle diese Gemeinden sind kleine Demokratien. Für unsere freiheitliche Schweiz erfüllen die Gemeinden eine ganz wichtige Funktion: Sie sind die kleinste politische Einheit. Hier sind sich Bürger und Behörden nahe, man kennt sich, die Verhältnisse sind übersichtlich, es wird nicht einfach über die Betroffenen verfügt, sondern diese bestimmen selber mit.
Man kann es auch so beschreiben: Die Gemeinde ist das Scharnier zwischen Bevölkerung und Staat sowie das Fundament unserer Demokratie. Man lebt Tür an Tür, arbeitet zusammen, diskutiert zusammen - und man vertraut sich insgesamt, auch wenn man nicht immer gleicher Meinung ist.
So entsteht der wichtigste Wert einer funktionierenden Demokratie: Das Vertrauen - Vertrauen in das Staatswesen, in die politischen Prozesse, in die Mitbürger.
Darum stehe ich allen Tendenzen kritisch gegenüber, die Kompetenzen zentralisieren und höhergeordneten Instanzen übertragen. Sei es nach Zürich, nach Bern oder nach Brüssel.
Solche Tendenzen kennen wir aus der Geschichte: Jahrhundertelang wehrten sich die Zürcher Gemeinden gegen Zentralisierungsabsichten der Stadt Zürich. Später dann, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurde die Rolle der Gemeinden in liberalen Kreisen diskutiert. Einige hielten auch damals die Gemeindeautonomie für überholt; man entschied sich dann aber gerade aus liberaler Überzeugung ganz bewusst für eine starke Stellung der Gemeinde: In der Debatte im Vorfeld der ersten liberalen Kantonsverfassung von 1831 wurden autonome, sich selbst verwaltende Gemeinden als „Schule der Demokratie" bezeichnet. Diese wichtige Erkenntnis setzte sich zum Glück durch und hat ganz wesentlich zum Erfolg unseres Staatsmodells beigetragen. Ich warne darum ausdrücklich vor einer Bevormundung der Gemeinden, denn man bevormundet damit auch die Bürger und gefährdet das Fundament des demokratischen Bewusstseins.


Verantwortung
Das Vermächtnis und das Vertrauen bleiben uns nicht erhalten, wenn wir diese Werte nicht auch bewusst pflegen. So wie zum Beispiel heute Abend mit dieser Feier.
Damit ist es aber noch nicht getan. Das Schöne und gleichzeitig auch das Herausfordernde in unserer Demokratie ist ja, dass wir die Verantwortung tragen. Wir selbst, als Bürgerinnen und Bürger. Wir tragen die Verantwortung dafür, wie sich unsere Gemeinden, wie sich unser Kanton und wie sich unser Land entwickeln.
Wir haben nie die Ausrede, „man sollte halt". Der Ball liegt immer bei uns; wenn „man halt sollte", so sind es wir, die sollen. Das gilt auf allen Stufen unseres Staatswesens, in der Gemeinde ebenso wie im Bund.
So lange die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, die Verantwortung zu tragen, bin ich sehr optimistisch - für Schwerzenbach wie für die Schweiz.


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