Ecopop: "Wie Hagel nach der Ernte" (de)

Bern, 18.10.2014 - Bern, 18.10.2014 - Speech by the President of the Swiss Confederation, Mr. Didier Burkhalter, on the occasion of day of the Liberal Democratic Party (FDP) - Check against delivery

Lieber Philipp,
meine Damen und Herren, liebe Freunde,

Im Oktober ist Erntezeit in den Weinbergen. Die Lese ist ein wichtiger Moment für die Winzerinnen und Winzer, aber nur eine Etappe. Der Weg zu einem guten Wein ist noch weit und hart. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Weg, der uns zum Wiederaufbau der schweizerischen Politik in Europa führen soll.

In meiner Heimatregion, in den schönen Neuenburger Rebbergen, sagt man von etwas Nutzlosem und Zerstörerischem, es sei wie der Hagel nach der Ernte. Die Ecopop-Initiative ist wie der Hagel nach der Ernte: nutzlos (das Volk hat bereits klargemacht, dass es die Migration besser kontrollieren will) und zerstörerisch, weil sie die nächste Ernte (den bilateralen Weg und die damit verbundenen Arbeitsplätze) gefährdet.

Am 9. Februar haben wir einen Auftrag bekommen: Die Migration besser zu kontrollieren und besser eigenständig zu steuern. Die von der Bevölkerung aufgeworfene Frage war legitim: Wie können wir die dynamische Entwicklung unseres Landes in den Griff bekommen?

Antworten auf diese Frage gibt es. Sie finden sich in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, in der Verkehrs- und Infrastrukturpolitik, in einer besseren Umsetzung der bereits verstärkten flankierenden Massnahmen, in Massnahmen zur Stärkung des Arbeitsmarkts und zur Raumplanung.

Es braucht viel gemeinsame Arbeit und auch Zeit, bis diese Massnahmen umgesetzt sind und die Ergebnisse greifen.

Diese Debatte hat stattgefunden, der Entscheid ist gefallen, und der Bundesrat (mit den Kantonen und auch mit den Sozialpartnern) macht seine Arbeit. Der Bundesrat nimmt diesen Verfassungsauftrag wie alle Verfassungsaufträge: sehr ernst.

Der neue Wortlaut der Verfassungsbestimmung steht aber im Widerspruch zum Personenfreizügigkeitsabkommen, dem tragenden Pfeiler des bilateralen Wegs – der Bundesrat hat es vor und während der Abstimmungskampagne gesagt, das wurde seitdem nochmals bestätigt.

Das Schweizer Volk wünscht keine Abkehr vom bilateralen Weg. Das Schweizer Volk hat sich am 9. Februar nicht gegen den bilateralen Weg ausgesprochen. Im Gegenteil, die Initianten machten geltend, die Vorlage sei mit den Bilateralen vereinbar.

Die Bundesverfassung formuliert drei Hauptziele der schweizerischen Aussenpolitik: Die Wahrung der Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Wohlfahrt der Schweiz. Der bilaterale Weg ist aber der einzige, der es uns erlaubt, sowohl unsere Unabhängigkeit als auch unsere Wohlfahrt zu erhalten. Der neue vom Volk angenommene Verfassungsartikel 121a sieht selbst vor, dass die gesamtwirtschaftlichen Interessen zu berücksichtigen sind. Das Stimmvolk hat den bilateralen Weg in den letzten Jahren mehrmals in Abstimmungen bestätigt.

Es tut dies gemäss dem aktuellen Wahlbarometer weiterhin: 76 Prozent wollen nicht auf eine Zusammenarbeit mit der EU verzichten. Weil es auch im Interesse der Schweizer ist, im Interesse unserer Arbeitsstellen, im Interesse unserer Jugend.

Für den Bundesrat ist das strategische Ziel klar: Für unser Land wollen wir die Zuwanderung besser kontrollieren und die Zukunft des bilateralen Wegs sichern. Nicht das eine oder das andere. Nicht das eine auf Kosten des anderen. Wir wollen sowohl das eine als auch das andere. Und das ist möglich, wenn wir hart und zusammen arbeiten, wie die Frauen und die Männer in den Weinbergen seit eh und je.

Der Bundesrat hat auf den Volkswillen gehört und setzt ihn um. Das ist seine Pflicht und er nimmt sie ernst. Wir sagen, was wir tun, und wir tun, was wir sagen.

Und wir sagen es klipp und klar: Wir wollen mit unserem Partner Europa diskutieren. Die EU hat zwar signalisiert, dass sie über das Grundprinzip – für sie sogar ein Gründungsprinzip – der Personenfreizügigkeit nicht verhandeln will. Das ist keine Überraschung. Die EU ist jedoch bereit, über die Modalitäten der Umsetzung zu diskutieren. Wir haben aber ein Problem mit den Modalitäten der Umsetzung der Personenfreizügigkeit, die eine starke und rasche Zuwanderung in die Schweiz auslöst. In den Augen des Volkes zu stark und zu rasch. Es war berechtigt, die Frage nach der Entwicklung der Zuwanderung zu stellen; es ist genauso berechtigt, über mögliche Lösungen zu diskutieren.

Meine Damen und Herren, wie bei der gemeinsamen Arbeit im Weinberg müssen wir in der Schweiz wieder lernen, zusammenzurücken und einen gemeinsamen Willen zu bekunden. Wir sind ein wichtiger Partner der Europäischen Union. Die Schweiz allein trägt einen Zehntel zur Freizügigkeit in Europa bei – ohne dass wir Mitglied der EU sind. Mit knapp einer Milliarde Franken Handelsvolumen pro Werktag sind wir auch ein wichtiger Handelspartner für die Europäische Union.

Zudem ist die Schweiz ein Partner mit Werten, Werten in der Mehrzahl: unverrückbare Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Engagement für Frieden und Rechtsstaat, Kampf gegen die Armut und für die Umwelt auf der ganzen Welt.

Der Bundesrat möchte diesen Weg, der dem Verfassungsmandat entspricht, weiter verfolgen. Dieser gemeinsame Weg führt über ein Gesuch, die Abkommen, die mit den am 9. Februar angenommenen Bestimmungen nicht übereinstimmen, neu zu verhandeln. Genau dies tun wir. Aus diesem Grund hat der Bundesrat vor einigen Tagen bei den Aussenpolitischen Kommissionen, den Kantonen und den Sozialpartnern ein Verhandlungsmandat in die Vernehmlassung geschickt. Dieser Entwurf und dieser Weg sind in der laufenden Woche von der Kommission des Ständerates bereits deutlich bzw. sogar einstimmig unterstützt worden.

Der Bundesrat handelt auch auf innenpolitischer Ebene. Mehrere laufende Projekte sollen die Beschäftigung für alle, die unserem Land leben, fördern. Wir müssen das ganze Potenzial aller, die die Schweiz ausmachen, ausschöpfen – all jener, die ihrer Energie und Wirtschaft Schub verleihen, unsere gemeinsame Geschichte schreiben, unsere Kultur gestalten. Jeder muss sein Talent und seine Fähigkeiten einbringen können, damit sie besser genutzt werden; es gilt, Ideen und ihre Umwandlung in Innovationen zu fördern, Anreize für ältere Arbeitnehmer zu schaffen und Brücken zu schlagen, um Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren.

Diese Bemühungen können unser Land mobilisieren, sofern sie gemeinsam verfolgt werden. Der Bundesrat appelliert an alle Kräfte unserer Gesellschaft und besonders an die Sozialpartner und die Kantone, das konkrete Engagement, ihr alltägliches Engagement, in diesem Sinn fortzusetzen und zu vertiefen.

Meine Damen und Herren,

Aus dem Rebbau kommt ein weiterer weiser Spruch: Wenn der Wein aus dem Fass ist, muss man ihn trinken. Mit anderen Worten: Wenn die Ecopop-Initiative angenommen wird, ist der bilaterale Weg zum Scheitern verurteilt.

Die unrealistischen und extremen Forderungen der Initiative würden jegliche Suche nach einer Verhandlungslösung illusorisch machen. Sie wissen sicher, was Schneekugeln sind – Kinderspielzeuge, mit Wasser gefüllte Glaskugeln mit kleinen Landschaften darin. Wenn man sie schüttelt, rieselt Kunstschnee auf die künstlichen Landschaften.

Die Illusion dauert ein paar Sekunden. Das ist schön – aber tot. Würden Sie in einer solchen Umwelt leben wollen? Geschützt zwar, aber steril?

Genau das will Ecopop...

Die Ecopop-Initiative geht zu weit: Sie beschränkt die Nettozuwanderung auf 0,2 Prozent der Wohnbevölkerung. Dies würde viel weiter gehen als die am 9. Februar beschlossenen Massnahmen. Der am 9. Februar 2014 angenommene Verfassungsartikel 121a verankert nämlich keine Zahlengrenze in der Verfassung.

Die 0,2-Prozent-Grenze würde die Zuwanderung von Personen drastisch beschränken, ohne die unsere Gesellschaft, die wir unermüdlich für unsere Wohlfahrt und jene der künftigen Generationen aufgebaut haben, gar nicht funktionieren kann. Die aktuelle Zuwanderung müsste auf ein Drittel oder ein Viertel reduziert werden. Zehntausende Personen in der Industrie, in der Baubranche, in der Landwirtschaft, im Gastgewerbe und im Gesundheitswesen würden fehlen; sie würden unserem Land fehlen. Um auf das Bild der Weinberge zurückzukommen: Wir könnten keine guten Ernten mehr vorbereiten und nicht mehr für die Zukunft vorsorgen. Wir können die notwendigen Rücklagen für das Alter und zur Finanzierung unserer Sozialwerke nicht mehr bilden.

Die Ecopop-Initative ist starr und bürokratisch. Die Welt ist heute weniger vorhersehbar als früher: Die Wirtschaftszyklen variieren immer stärker.

Unser Land muss sich an die Realität anpassen können – an gute und an schlechte Tage, an reiche Ernten wie an magere Jahre. Indem wir für Zeiten der Hochkonjunktur mehr Personen aus dem Ausland zu uns holen.

Diese Flexibilität ist heute gewährleistet. Sie bleibt es – innerhalb der Grenzen des am 9. Februar beschlossenen Systems, das es dem Gesetzgeber überlässt, die genauen Mechanismen zur Begrenzung der Zuwanderung zu definieren. Die Ecopop-Initiative schreibt einen sehr niedrigen Plafond in der Verfassung fest: Damit nimmt sie den Handlungsspielraum weg und verursacht Probleme...

Die Initiative ist zudem schlecht formuliert. Sie bezieht sich auf alle in der Schweiz lebenden Personen: diejenigen, die zum Arbeiten zu uns kommen, Asylbewerber, Diplomaten, internationale Funktionäre und sogar Schweizerinnen und Schweizer, die aus dem Ausland zurückkehren! Laut der Initiative sitzen sie alle im gleichen (übervollen) Boot. In einer schweren Krise oder im Kriegsfall – und Krisengebiete gibt es leider in diesen turbulenten Zeiten weltweit zuhauf, sogar in Europa – kann die Schweiz wie andere Länder gehalten sein, Flüchtlinge aufzunehmen.

Denken wir an Ungarn und die Tschechoslowakei im letzten Jahrhundert! Denken wir an die Balkankriege in der jüngeren Vergangenheit. Die Aufnahme kriegstraumatisierter Familien, die humanitäre Tradition bei Katastrophen – das ist die eigentliche Seele der Schweiz.

Ist es gerecht und vernünftig, dass die Aufnahme von Kriegsopfern künftig zu Lasten von Personen erfolgen soll, die unsere privaten und staatlichen Betriebe, unsere KMU, unsere Forschungszentren und Spitäler in Schwung halten?

Die Initiative macht kurzen Prozess: Sie würde bereits ab dem nächsten Jahr gelten, wenn auch progressiv. Die Bestimmungen, die mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen unvereinbar sind, würden das sofortige Todesurteil für den bilateralen Weg bedeuten.

Die Ecopop-Initiative ist kostspielig. Sie fordert uns auf, das Geld der Schweizerinnen und Schweizer zu verschwenden. Der Bund müsste mindestens 10 Prozent des Betrags der Entwicklungszusammenarbeit für die freiwillige Familienplanung investieren – auf die Gefahr hin, jährlich über 150 Millionen Franken für Massnahmen mit zweifelhafter Wirkung in den armen Ländern auszugeben.

Menschen, die gar nichts haben, brauchen Hilfe – über Bildung, Gleichstellung und Gesundheit, auch sexuelle Gesundheit. Solche Massnahmen sind wirksam und führen zu einer Senkung von sehr hohen Geburtenraten. Genau dies leistet die Schweiz bereits – mit einem bemerkenswerten und langfristigen Engagement, das 1 Franken pro Tag und pro Bewohner kostet.

Einen Franken pro Tag und pro Bewohner, einen konkreten Beitrag zur Unterstützung der Ärmsten, wie es das Kernstück unserer Verfassung verlangt – das will der Bundesrat für diejenigen aufbringen, die es wirklich brauchen. Und nicht einen Teil davon für eine fehlgeleitete, dogmatische, ja quasi neokoloniale Vision verschwenden.

Die Ecopop-Initiative ist schliesslich unwirksam. Sie erreicht die angeblich anvisierten Umweltziele nicht. Wir müssen beim Verbrauch von Energie, Ressourcen und Boden ansetzen, um die Umwelt zu schützen, und nicht gegen Männer, Frauen und Kinder vorgehen.

Meine Damen und Herren,

Oktober ist die Zeit der Weinlese. Im November gibt es gelegentlich eine Spätlese. Im vorliegenden Fall sollte das Schweizer Volk seine Meinung aber nicht allzu lange reifen lassen.

Im Interesse der Wohlfahrt des Landes empfehle ich Ihnen, zusammen mit dem Bundesrat und dem Parlament, ein klares Votum abzugeben und deutlich zu machen, wohin Weg geht – mit einem Nein zur Initiative.


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