Den GAV pflegen, gerade jetzt!

Bern, 24.11.2011 - Johann N. Schneider-Ammann, Bundesrat und Vorsteher des EVD | 100 Jahre GAV | Bern

Sehr geehrte Vertreter der Gewerkschaften und Arbeitgeber
Sehr geehrte Vertreter der paritätischen Kommissionen
Meine Damen und Herren
Liebe Sozialpartner

Es freut mich ausserordentlich, an diesem für die Sozialpartnerschaft wichtigen Tag hier zu sein.

Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin ein überzeugter Verfechter der Gesamtarbeitsverträge. Einer der besten GAV kennt meiner Meinung nach die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM) - Industrie. In meiner Präsidialzeit von Swissmem führte ich die GAV-Verhandlungen vier Mal. Und jedes Mal kam die Industrie geschlossener und gestärkter aus der Runde. Nicht bloss die Unternehmer, sondern Arbeitgeber und Arbeitnehmer, also beide Sozialpartner. Ich weiss also sehr wohl, von was ich spreche.

Meine Damen und Herren, wir kennen in unserem Land zumindest bis zur Stunde quasi Vollbeschäftigung. Grund dafür ist, dass die Unternehmen „mit dem Markt atmen können"! Denn die GAV erlauben, die Kapazitäten unter klar vereinbarten Regeln anzupassen. Das wiederum geht, weil die Sozialpartnerschaft funktioniert. Gibt der Markt mehr her, so werden Leute eingestellt. Wird die mangelnde Auftragsauslastung zur Gefahr für die Firma, so kann die Kapazität reduziert werden. Und weil dem so ist, werden hier im Land Mitarbeiter mutig eingestellt. Sie erhalten damit Arbeit, Perspektiven und Chancen. Und die Unternehmen reagieren viel schneller als im internationalen Umfeld. Genau das hat uns weiter gebracht als die Konkurrenz. Wir haben die Nase dank der relativ flexiblen Arbeitsmarktverhältnisse vorne. Und so muss dies bleiben!

Wir geniessen einen sehr hohen Wohlstand und die Schweiz gehört zu den wettbewerbsfähigsten Ländern der Welt. Ich bin fest davon überzeugt, dass es uns ohne die gut funktionierende Sozialpartnerschaft nicht so gut gehen würde.Ausdruck und Instrument dieser Sozialpartnerschaft ist der GAV.

Mit dem heutigen Anlass feiern wir die Aufnahme des GAV ins Schweizerische Obligationenrecht vor genau 100 Jahren. Erste Verträge, die das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer regeln, gab es aber bereits um 1850. Zu den Pionieren der Sozialpartnerschaft gehörten die Typographen und Uhrenarbeiter, in geringerem Masse auch Schreiner und Schuhmacher. Den eigentlichen Durchbruch schaffte der GAV hingegen erst, als sich die MEM-Industrie zu branchenverbindlichen Verträgen bekannte. Der GAV der Maschinenindustrie feierte kürzlich seinen 70. Geburtstag. Damals, in der schwierigen Zeit der Dreissigerjahre, einigten sich die Sozialpartner im Bahnhofbuffet Olten auf ein Streik-, respektive Aussperrverbot. Auf dieser Basis wurde das Vertragswerk aufgebaut und immer wieder ausgebaut. Und das Entscheidende war, dass man über die Jahrzehnte schlicht und einfach immer wieder miteinander an den Tisch sass, um Lösungen zu finden.

Denn letztlich ist jeder GAV ein sozialpartnerschaftliches Dasein, das auf einer Vertrauensbasis ruht. Doch Vertrauen kann nicht einfach eingefordert werden. Vertrauen schenkt man sich dann, wenn man sich aufeinander verlassen kann. Vertrauen muss immer wieder neu erworben werden. So einfach dies tönt, so anspruchsvoll ist die Umsetzung!

Liebe Sozialpartnerinnen, liebe Sozialpartner, Sie haben sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten dafür eingesetzt, damit die zahlreichen GAV immer wieder den neuen Anforderungen angepasst wurden. Mir ist bewusst, dass Ihre Arbeit oftmals nur dann wahrgenommen wird, wenn Meinungsverschiedenheiten so gross sind, dass sie öffentlich ausgetragen werden. Mit unzähligen Verhandlungen und Gesprächen sorgen Sie dafür, dass die Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber immer wieder in Übereinstimmung gebracht werden. Dafür gebührt Ihnen mein Dank. Mit Ihrem Engagement ist der GAV, solide fundiert, der Zeit immer wieder angepasst, schlicht - das Erfolgsrezept für unseren liberalen Arbeitsmarkt.

Warum eigentlich? Was macht insbesondere den GAV zu einem so guten Instrument?

Der Staat greift im internationalen Vergleich wenig in den Arbeitsmarkt ein. Das ist nur möglich, weil die Arbeitsbedingungen in der Schweiz in erster Linie zwischen den Sozialpartnern ausgehandelt werden. Die Regelungen sind jeweils für beide Seiten von Vorteil und sind breit abgestützt. Auch branchenspezifische und regionale Besonderheiten sind berücksichtigt.

Es ist dieser liberale Arbeitsmarkt im Zusammenspiel mit den GAV, der dafür sorgt, dass wir in der Schweiz eine tiefe Arbeitslosenrate haben. Diese gut funktionierende Sozialpartnerschaft fördert den sozialen Frieden, was ein wichtiger Vorteil für den Wirtschaftsstandort Schweiz ist. So gehen beispielsweise in der Schweiz im internationalen Vergleich äusserst wenige Arbeitstage durch Streiks verloren.

Ein weiterer Pluspunkt des GAV ist, dass er einen weiten Wirkungskreis hat. Nicht nur Mitglieder, sondern auch Branchen, Regionen oder Unternehmen, die keinem GAV unterliegen, orientieren sich häufig an bestehenden Verträgen. Der Staat hält sich zurück, und greift nur dann ein, wenn es notwendig ist. So können GAV für allgemeinverbindlich erklärt werden oder der Staat nimmt in Ausnahmefällen die Rolle des Mediators ein, wenn sich die Sozialpartner in einer Sache nicht einig werden, dies aber wünschen. Jüngst hat der Bund diese Aufgabe für die Temporärbranche übernommen. Zwischenzeitlich ist der GAV für den Personalverleih unter Dach und Fach und das Gesuch für eine Allgemeinverbindlichkeit wird durch den Bund geprüft.

Nicht befriedigend ist für mich derzeit die Situation im Bauhauptgewerbe. Wie Sie wissen, läuft der entsprechende Landesmantelvertrag (LMV) per Ende Jahr aus, der die Lohn- und Arbeitsbedingungen für rund 100‘000 Bauarbeiter regelt. Liebe Sozialpartner, für mich ist klar: es darf in der Baubranche nicht zu einem vertragslosen Zustand kommen. Ganz nach dem Sprichwort „Das Bessere ist der Feind des Guten" bin ich fest überzeugt, dass sich die Sozialpartner zumindest rechtzeitig auf eine Vertragsverlängerung einigen müssen. Ein vertragsloser Zustand ist weder für die Arbeitnehmer noch für die Arbeitgeber ein befriedigender Zustand. Ein vertragsloser Zustand erschwerte auch die Anwendung der flankierenden Massnahmen in der Branche. Deshalb hoffe ich sehr, dass sich die Vertragspartner im Bauhauptgewerbe nochmals zusammenraufen und rasch eine Lösung finden.

Meine Damen und Herren, trotz der Erfolgsgeschichte des GAV dürfen wir uns nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Neue Herausforderungen müssen rechtzeitig angepackt werden.

Herausforderung Personenfreizügigkeit
Mitverantwortlich für unseren Wohlstand ist auch die Personenfreizügigkeit. Denn die in den vergangenen Jahren dringend benötigten ausländischen Fachkräfte haben uns nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Wachstum ermöglicht. Wenn ich Farbe bekenne für die Personenfreizügigkeit, so spreche ich nicht von einer blinden Öffnung des Arbeitsmarktes. Die gegenseitige Öffnung bedingt auch, dass Regeln eingehalten werden müssen. Besonders starke Wirkung haben allgemeinverbindliche GAV: Existiert in der Schweiz ein entsprechender Vertrag, so müssen sich auch alle Betriebe aus dem Ausland, die Aufträge in der Schweiz ausführen, diesen Regeln unterwerfen.

Regeln nützen allerdings nur, wenn sie auch angewendet werden. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser", heisst eine meiner Führungsdevisen. Deshalb ist es wichtig, dass die Sozialpartner prüfen und sicherstellen, ob ein GAV eingehalten wird. Mit der Einführung der Personenfreizügigkeit wurden die Kontrollmechanismen professionalisiert. Dieser Prozess ist aber noch nicht abgeschlossen. Ich habe das Seco beauftragt, zusammen mit Ihnen und den Kantonen Vorschläge zu erarbeiten, wie der Vollzug der allgemeinverbindlich erklärten GAV weiter verbessert werden kann. Zudem ist eine Gesetzesrevision in der Vernehmlassung, welche erlaubt, besser gegen Scheinselbständige vorzugehen.

Trotz dieser Anstrengungen werden der Bund und die Kantone kritisiert, sie würden zu wenig tun. Insbesondere die wenigen Normalarbeitsverträge mit zwingenden Mindestlöhnen bieten Anstoss dazu. Ich verstehe dies aber dahingehend, dass die betroffenen Sozialpartner gut gearbeitet haben: Eine Branchenlösung konnte bereits in vielen kritischen Bereichen gefunden werden. Deshalb waren staatliche Interventionen nur in Ausnahmefällen notwendig.

Ich betone, dass derzeit der Arbeitsmarkt durch die kantonalen tripartiten Kommissionen und die paritätischen Kommissionen von allgemein verbindlich erklärten GAV so gut beobachtet wird wie nie zuvor. Ich bin überzeugt, dass wir mit den bestehenden Instrumenten die befürchteten Nebenwirkungen der Personenfreizügigkeit wie tiefere Löhne und Arbeitslosigkeit weitgehend verhindern können. Diese Instrumente müssen indes laufend neuen Gegebenheiten angepasst und allenfalls ergänzt werden.

Herausforderung Wirtschaftskrise
Die Konjunkturaussichten für die kommenden Monate haben sich deutlich verschlechtert. Viele Branchen und Unternehmen in unserem Lande leiden unter dem starken Schweizer Franken. Die Kombination von tieferem Wachstum und starkem Franken verengt den finanziellen Spielraum für viele Betriebe. Viele Unternehmen kommen nicht darum herum, Mitarbeiter zu entlassen.

Meine Damen und Herren, gerade in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten dürfen wir unsere Stärken nicht aufs Spiel setzen. Wenn sich jetzt eine neue Krisensituation ankündigt - die Verwerfungen im Ausland versprechen leider nichts anderes - dann kommt es auf drei Seilschaften an, die nicht reissen dürfen:

  1. Erstens muss die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit aller Sorgfalt gepflegt werden. Dies mit der Zielsetzung, so wenig Arbeitsplätze wie möglich zu opfern. Ich erwarte von den Arbeitgebern, dass sie sich der langfristigen Vorteile unseres Systems bewusst sind und dieses in keinster Art und Weise mit wenig überzeugenden Kurzfristmassnahmen in Gefahr bringen. Arbeitnehmer zeigen sich derzeit vielerorts sehr flexibel: In verschiedenen Betrieben stimmten Mitarbeiter längeren Wochenarbeitszeiten zu, im Wissen, dass die Arbeitgeber ihnen in besseren Zeiten auch wieder ein Zückerchen zukommen lassen werden. Diese Flexibilität gilt es zu leben!

  2. Zweitens darf die Schicksalsgemeinschaft zwischen der Realwirtschaft und der Finanzindustrie nicht reissen. Gerade jetzt müssen Industriefirmen über Kredite verfügen können. Die Bonitätsprüfung wird nicht nur von harten Faktoren bestimmt. Auch weiche Faktoren wie eine gute Führung und die Stimmung im Unternehmen haben Einfluss. Mit letzterem ist eine gute Sozialpartnerschaft gemeint.

  3. Und drittens ist entscheidend wichtig, dass die Politik und die Privatwirtschaft aufeinander zugehen. Was gemeint ist, sei gleich noch einmal im GAV - Kontext ausgedeutscht: Nehmen die Arbeitgeber ihre Verantwortung im grösseren Gestaltungsraum wahr, so suchen die Arbeitnehmer nicht in erster Linie Schutz beim Staat und beim Gesetz.

Fazit: Der GAV ist der Königsweg! Wenn wir das Instrument GAV pflegen, werden wir weiterhin auf der Gewinnerseite stehen. Davon bin ich überzeugt.Ich zähle auf Ihre Unterstützung und danke Ihnen für Ihr Engagement!

Es gilt das gesprochene Wort !


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