Kassandras Ruf

Bern, 03.05.2012 - Referat von Bundesrat Ueli Maurer, Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS, anlässlich der Eröffnung des 42. St. Galler Symposiums vom 3. Mai 2012.

Es gilt das gesprochene Wort!


Ich darf Ihnen im Namen der Landesregierung die besten Grüsse überbringen. Ich wünsche Ihnen interessante Debatten und spannende Kontakte. Sie haben in den kommenden zwei Tagen die Gelegenheit, abseits der Geschäftshektik Grundsätzlichem nachzugehen.

Und Sie haben ja für das diesjährige Symposium ein grundsätzliches Thema gewählt. Sie nennen es zeitgeistig „facing risk". Aber das Phänomen ist alt und hat in der Geschichte schon Namen vieler Sprachen getragen. Die alten Griechen umschrieben es sogar mit einer Legende.

Es ist die Legende der trojanischen Priesterin Kassandra. Sie hatte die Gabe, in die Zukunft zu sehen. Aber sie musste mit dem Fluch leben, dass ihr nie jemand glauben würde. Für sie war das tragisch, für ihre Heimat Troja war es fatal. Sie warnte vor der Bedrohung durch die griechische Flotte, sie wurde ignoriert; sie sah den Untergang der Stadt voraus, niemand hörte auf sie; sie warnte vor der Kriegslist mit dem trojanischen Pferd, alle lachten sie aus.

Die griechische Antike hat mit der Kassandra-Legende die beiden grossen Schwierigkeiten abgehandelt, die sich im Umgang mit Risiken stellen: Zuerst die Schwierigkeit, ein Risiko überhaupt zu erkennen. Und dann die noch grössere Schwierigkeit, aus den erkannten Risiken auch die richtigen Handlungen abzuleiten. Die Legende hat diese Problematik so treffend auf den Punkt gebracht, dass der „Ruf der Kassandra" noch heute ein geflügeltes Wort ist.

Liberalismus versus Staatswirtschaft
Der Umgang mit dem Risiko ist also ein ewig aktuelles und grundsätzliches Thema. Darum gehe auch ich das Thema grundsätzlich an: Staatspolitisch betrachtet gibt es zwei Möglichkeiten zum Umgang mit dem Risiko.

Die eine Staatsordnung setzt auf die Verantwortung der Privaten und der Wirtschaft; sie überlässt ihnen darum auch den Umgang mit dem Risiko. Die andere Ordnung erklärt den Umgang mit dem Risiko zur Staatsangelegenheit. Der Staat wird so zum Vormund, der die Gesellschaft und die Wirtschaft bis ins Detail reglementieren und steuern will.

Die erste Ordnung ist der Liberalismus. Die liberale Ordnung akzeptiert, dass Risiken und damit auch das Scheitern nicht zu vermeiden sind. Das gilt insbesondere für die Wirtschaft. Der Liberalismus bejaht das Risiko, weil dieses auch immer eine Chance ist. Denn ohne Fehltritte gibt es keinen Fortschritt; ohne Misserfolge gibt es keinen Erfolg.

Für Sie als Spitzenkräfte der Wirtschaft ist der Liberalismus die Voraussetzung, um mit Ihren Unternehmen arbeiten zu können. Nur der Liberalismus garantiert Ihnen den notwendigen Handlungsspielraum.

Ihre unternehmerischen Stärken, Ihr Know-how, Ihre Qualität, Ihre Strategien, Ihre Innovationskraft - das alles kann sich nur dank einer liberalen Ordnung entfalten. Wie weit Sie dabei Risiken eingehen, müssen Sie selbst entscheiden. Dafür haben Sie auch mit den Folgen zu leben. Im schlechten Fall müssen Sie den Verlust bewältigen, im guten Fall steht Ihnen der Gewinn zu.

Die zweite Staatsordnung ist diejenige des Zentralismus und der Staatswirtschaft. Sie spricht Ihnen als Unternehmer die gesunde Risikobeurteilung und damit auch die Verantwortung ab. Der Staat gibt vor, das Risiko eliminieren zu können. Damit wird der Staat zum Aufpasser, der sich in Ihre wichtigen Entscheide einmischt.

Über den Erfolg der beiden Systeme muss ich nicht viele Worte verlieren. Der Liberalismus hat sich als Grundlage für Wohlstand und Lebensqualität bewährt. Dagegen ist die Geschichte voller Beispiele, wie Zentralismus und Staatswirtschaft den wirtschaftlichen Ruin bringen.

Liberalismus in Gefahr
Trotz seines Erfolges ist der Liberalismus in Bedrängnis. Denn die Schuldenkrise entwickelt gefährliche politische Auswirkungen. Auf drei Ebenen gerät das liberale Staatsmodell unter Druck.

1. Staaten wollen reglementieren:
Der Staat hat immer die Tendenz zur Expansion seiner Aufgabenbereiche. Und in Krisenzeiten ganz besonders. Denn dann tönt das Argument verführerisch, dass der Staat doch den Umgang mit Risiken bestimmen solle.

Das erleben wir aktuell: Die unternehmerische Freiheit wird für die Krise verantwortlich gemacht. Die Folge ist eine Ausweitung der Staatsmacht zulasten der liberalen Ordnungen. Der unternehmerische Handlungsspielraum wird so unter dem Deckmantel der Krisenbekämpfung eingeschränkt.

Besonders bedenklich ist, dass auch in Wirtschaftskreisen der eine oder andere der Versuchung erliegt, die eigenen wirtschaftlichen Risiken auf den Staat abzuschieben. Das ist nicht nur verantwortungslos; das ist auch staatspolitisch verhängnisvoll: Auch hier gilt, „wer zahlt, befiehlt". Die Staaten verlangen für ihre Unterstützung mehr Kompetenzen. Und Kompetenzen, die der Staat einmal hat, gibt er nicht mehr ab.

2. Flucht in den Zentralismus:
Der zweite Verlust an liberaler Ordnung bertrifft die Institutionen: Überforderte Systeme - also Staaten oder überstaatliche Organisationen wie die EU - flüchten sich in noch mehr Zentralismus. Diese Systeme verschaffen sich zusätzliche Kompetenzen, zusätzliche Macht; dies immer mit dem Argument, nur so könne die Krise überwunden werden.

Das muss misstrauisch machen: Die gegenwärtige Krise ist eine Staatsschuldenkrise. Ihre Ursachen liegen also bei überdehnter Staatstätigkeit und fehlender Wirtschaftsfreiheit. Nun wird diese Schieflage sogar noch verstärkt.

Es entstehen neue Entscheid-Ebenen und neue Zentren der Machtausübung: Die EZB beispielsweise erhält immer mehr die Rolle einer politischen, überstaatlichen Gewalt. Komplexe Vehikel, die der Einfachheit halber als Rettungsschirme und Brandmauern bezeichnet werden, spuren die Richtung vor. So werden wichtige Entscheide von sogenannten Experten getroffen. Dadurch entsteht eine zentralistische, anonyme Herrschaft von Technokraten. Ohne demokratische Legitimation. Ohne demokratische Kontrolle.

Das ist gerade das Gegenteil der liberalen Demokratie: In der liberalen Demokratie kennen Sie die wirtschaftlich und politisch Verantwortlichen. Diese können im Notfall zur Rechenschaft gezogen werden. Im zentralistischen Technokratensystem wird nur noch von Verantwortung gesprochen, wahrgenommen wird sie nicht mehr.

3. Wirtschaftskrieg:
Der dritte Verlust an Liberalismus bringt das internationale Vorgehen gegen freiheitliche Staatsmodelle. Schuldenstaaten und die EU greifen erfolgreiche Konkurrenten an. Das haben wir in der Schweiz bereits erlebt. Sie verlangen den Verzicht auf Liberalismus und zielen dadurch auf die wirtschaftliche Freiheit.

Wenn in einem Wirtschaftskrieg erfolgreiche Unternehmen oder erfolgreiche liberale Staatsmodelle ausgeschaltet werden, hat das weitreichende und globale Konsequenzen: Der Wettbewerb spielt nicht mehr. Damit kommt der Motor der liberalen Wirtschaftsordnung ins Stottern. Der Wirtschaftskrieg gegen die Erfolgreichen hat darum letztlich dieselben Folgen wie der Sozialismus: Zuerst Gleichschaltung, dann Niedergang.

Fazit
Facing risk ist ein aktuelles und grundsätzliches Thema. Ich meine, dass ein Symposium wie dieses sich anbietet, das Thema wirklich grundsätzlich anzugehen. Vertrauen Sie darum nicht auf zentralistische und etatistische Fesseln, die von der Politik als Scheinlösungen präsentiert werden. Hören Sie auch auf Stimmen, welche die internationale Zentralisierung kritisch hinterfragen - So wie ich es beurteile, kann man die Rufe der Kassandra immer deutlicher hören. Und vielleicht haben Sie als Spitzenkräfte der Wirtschaft sogar die Möglichkeit, Kassandras Fluch der Nichtbeachtung zu brechen.


Adresse für Rückfragen

VBS Kommunikation
Bundeshaus Ost
CH - 3003 Bern


Herausgeber

Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport
http://www.vbs.admin.ch

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-44413.html