Gedanken zur Sicherheitspolitik der Schweiz

Bern, 16.03.2013 - Referat von Bundespräsident Ueli Maurer, Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS, anlässlich der Delegiertenversammlung der Schweizerischen Offiziersgesellschaft vom 16. März 2013 in Thun.

Es gilt das gesprochene Wort!



Wenn wir das Weltgeschehen verfolgen, übernehmen wir häufig die Optik der Medien, die sich auf einige wenige - möglichst spektakuläre - Brennpunkte konzentrieren. So sind wir über Einzelereignisse recht gut informiert; einmal ist es Syrien, dann der Inselstreit zwischen China und Japan, momentan Nordkorea usw.

Dabei geht leicht vergessen, dass diese Ereignisse immer Ausdruck grösserer Veränderungen und Zusammenhänge sind. Und genau diese grossen Zusammenhänge müssen wir freilegen, wenn wir eine gute Sicherheitspolitik für unser Land machen wollen. Wir können einen Megatrend beobachten: Die Bedeutung des Westens nimmt ab. Und dieser Megatrend hat in verschiedensten Bereichen vielfältigste Auswirkungen - ich möchte darauf näher eingehen:

I. Die Bedeutung des Westens nimmt ab
Militärisch verliert der Westen an Gewicht. Offensichtlichste Beispiele sind die Niederlagen im Irak und in Afghanistan. Die angestrebten stabilen demokratischen Verhältnisse sind nicht eingetreten. Den einheimischen Widerstandsgruppen ist es vor allem in Afghanistan gelungen, mit einfachsten Waffen den modernsten Armeen der Welt grosse Verluste an Menschenleben zuzufügen - so gross, dass sie innenpolitisch schlicht nicht zu verkraften waren.

Das teure Nato-Engagement in Afghanistan liess die meisten westlichen Partnerstaaten der USA bereits kriegsmüde werden. Zudem werden unter dem Druck der Schuldenkrise europäische Verteidigungsbudgets gekürzt; man lebt in den Armeen zunehmend von der Substanz.

Nebst der militärischen Bedeutung nimmt auch die wirtschaftliche Bedeutung ab. Wenn nun die USA oder EU-Staaten bei aufstrebenden Ländern wie China, Indien oder Brasilien die hohle Hand machen müssen, treten wir in ein neues Zeitalter. Das wird der Westen machtpolitisch zu spüren bekommen. Etwas populär können wir sagen: Kredite gibt es nur gegen Konzessionen.

Die schwindende Kraft der Westens fällt mit dem Aufstieg des Ostens zusammen. Noch bleiben die USA ein politischer Dominator. Allerdings sind sie gezwungen, ihre Aufmerksamkeit vermehrt auf das aufstrebende und auch aufrüstende Asien zu richten.

Neue Welt-(Un)Ordnung
Wenn der Westen militärisch, wirtschaftlich und somit auch politisch an Gewicht verliert, öffnet das neuen Spielraum für aufsteigende Mächte: Diese vertreten ihre Positionen immer offensiver. Aktuellstes Beispiel für die Interessensgegensätze ist die Syrienkrise.  

Ohne schwarzmalen zu wollen, lohnt sich die Betrachtung aus historischer Sicht: Die Ablösung einer dominierenden Macht durch neue aufstrebende Mächte führte in der Geschichte immer zu längeren Phasen des Ungleichgewichtes. Erst nach einem (oft nicht gewaltfreien) längeren Prozess finden sich wieder neue Gleichgewichte - Umbruchzeiten sind instabile Zeiten.

Neue Bruchlinien
In aller Kürze möchte ich auf Konflikte hinweisen, die aus drei neuen Bruchlinien entstehen können: Neue Konflikte zwischen Staaten, Konflikte zwischen Kulturen und Konflikte innerhalb von Staaten.

Die bislang bekannten Verhältnisse zwischen den Staaten verändern sich: Die weltweite Schuldenkrise führt zu neuen Abhängigkeiten zwischen Gläubiger- und Schuldnerstaaten. Ich glaube nicht, dass das in absehbarer Zukunft direkt zu offenen Kriegen führt, aber ich sehe darin ein erhebliches Potential für ganz massive Spannungen. 

Es gibt nicht nur neue Konflikte zwischen Staaten, sondern auch zwischen verschiedenen Kulturräumen. In diese Kategorie gehört beispielsweise der weltweite islamistische Terror.

Als Drittes sind neue Konflikte innerhalb von Staaten zu erwähnen. Es ist anzunehmen, dass Unruhen in der gesellschaftlichen Peripherie (wie in den französischen Banlieues oder in England im Sommer 2011) immer mehr zum Alltag gehören werden. Denn Migration, fremde Kulturen und Religionen führen zu neuen Bruchlinien und Spannungen in allen westlichen Gesellschaften. Die Gefahr, dass rechtsfreie Räume entstehen, wächst. Auch die Überschuldung von Staaten führt zu sozialen Spannungen, die sich immer wieder - begleitet von Gewalt - auf der Strasse entladen.

II. Bedeutung der Sicherheit für die Schweiz
Für die Schweiz ergeben sich aus diesem Megatrend vier Schlussfolgerungen:

Ohne Sicherheit kein Wohlstand
Die Welt wird unberechenbarer. Dadurch gewinnt Sicherheit wieder an Stellenwert. Wir dürfen nicht vergessen, dass Sicherheit der wichtigste Standortfaktor und damit die Grundlage für unseren Wohlstand ist. Wenn wir in die Armee investieren, investieren wir in die Sicherheit - und der Wohlstand ist dann das, was Ökonomen als „return on investment" bezeichnen würden. Nur nebenbei: Setzen wir die Ausgaben für die Armee und den grossen Wohlstand der Schweiz ins Verhältnis, haben wir wahrscheinlich die weltbeste Kapitalrendite! Aber passen wir auf: Das ständige Sparen der Armee bleibt nicht ohne Folgen für das Wohlstandsniveau der Zukunft!

Neutralität als Maxime
In einem verschärften Wettlauf um Ressourcen und in wirtschaftskriegsähnlichen Verhältnissen vermischen sich wirtschaftliche, politische und militärische Mittel. Die Nähe zu einem wirtschaftlichen oder militärischen „Block" ist für ein kleines Land gefährlich. Die Schweiz muss mit allen Ländern - gerade auch mit den aufstrebenden Nationen Asiens - hervorragende Beziehungen unterhalten können.

Sicherheitsverbund Schweiz
Mit dem Sicherheitsverbund Schweiz verbessern wir die Zusammenarbeit mit kantonalen Behörden. Ohne neue Strukturen aufbauen zu müssen, bringen wir so alle Kräfte zusammen, die in irgendeiner Art und Weise mit Sicherheit beschäftigt sind. Wir bauen dabei auf unseren bewährten föderalen Strukturen auf und schaffen die Möglichkeit, pragmatisch und fallbezogen direkte Kontakte herzustellen. Damit erhöhen wir die Reaktionsfähigkeit bei Krisen.

Milizarmee und Flexibilität
Unsere moderne, dynamische und vernetzte Welt ist von Überraschungen und Ungewissheiten geprägt. Eine globalisierte Gesellschaft ist störungsanfällig. Darum können wir nicht mit Vorwarnzeiten rechnen. Unser Land muss ein Reservemittel haben, dass sofort eingesetzt werden kann. Das heisst für uns: Truppen müssen rasch aufgeboten, bewaffnet und eingesetzt werden können.

Zudem muss die Armee in Zukunft noch besser in der Lage sein, unter verschiedensten Umständen aktiv zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Teile der Armee zivilen Behörden unterstellt werden um Sicherheit zu gewährleisten, ist sehr hoch. Es ist keine Armee denkbar, die über mehr gesammelte Kompetenzen verfügt und sich besser in unser ziviles Leben einfügen kann, als eine Milizarmee.

III. Weiteres Vorgehen
Für das weitere Vorgehen ist es wichtig, trotz tausend Details die Gesamtsicht nicht zu verlieren - auch dann, wenn diese Details wichtig sind. Ein solch wichtiges Detail ist der Gripen. Bei aller Bedeutung dürfen wir nicht vergessen, dass es nicht um ein Flugzeug allein, sondern um das Gesamtpaket Sicherheit geht. Der Gripen muss darin Platz haben, ohne dass wir andere Bereiche der Armee vernachlässigen.

Das weitere Vorgehen unterteilen wir in zwei Phasen: Eine erste, primär der Konsolidierung dienende Phase bis 2020 und eine zweite Phase der weiteren Entwicklung ab etwa 2020.

Konsolidierungsphase bis 2020
Zuerst geht es bis 2020 darum, die Vorgaben der Politik umzusetzen, die Mängel der Armee XXI zu beheben und ein besseres Gleichgewicht zwischen Investitionen und Betriebsaufwand zu erreichen:

Die Politik verlangt eine massive Verkleinerung der Armee auf einen Personalbestand von 100‘000. Diese Reduktion hat wesentliche Neuerungen im Budget, in der Armeeorganisation, sowie im Ausbildungs- und Dienstleistungsmodell zur Folge. Hinzu kommen viele Anpassungen, namentlich in den Bereichen Doktrin, Ausrüstung, Immobilien, Logistik und Führungsunterstützung.

Bei der Umsetzung der Armee XXI haben sich Defizite vor allem in der Führungsausbildung und der mangelnden Bereitschaft bemerkbar gemacht. Diese Schwächen sind - soweit finanzierbar - zu korrigieren. Alle Schritte der Weiterentwicklung sind dabei auf das Ziel auszurichten, mit einer robust ausgerüsteten, einsatzgerecht ausgebildeten und kompetent geführten Armee flexibel auf verschiedenste und unerwartete Formen der Bedrohungen reagieren zu können. Konkret setzen wir in drei Punkten an:

Ausbildung verbessern: Unsere Soldaten und alle Kader müssen so ausgebildet sein, dass sie vielseitige Aufgaben erfüllen können. Das ist entscheidend, denn wir müssen uns ja auf Unvorhergesehenes einstellen, das wir nicht im vornhinein detailliert üben können. Bei der Ausbildung wird wieder auf Milizkader abgestellt, damit diese im Umgang mit der Truppe so früh wie möglich Führungserfahrung sammeln können. Auch soll jeder Armeeangehörige wieder eine ganze Rekrutenschule absolvieren müssen, was die Beurteilung über eine längere Zeit für die Kaderselektion ermöglicht. Für beförderte Unteroffiziere, brevetierte Leutnants und angehende Kompaniekommandanten wird wieder das bewährte Abverdienen des Grades eingeführt.

Bereitschaft verbessern: Wir führen ein neues, differenziertes Bereitschaftssystem ein. Dieses sieht vor, Teile der Armee aus dem Stand aufbieten zu können. Die Abstufungen der Bereitschaft reichen bis zu einem Aufgebot von 20‘000 AdA innert drei Wochen.

Ausrüstung verbessern: Um sofort reagieren zu können, sind mehr Truppen als bisher vollständig auszurüsten. Die Korpsausrüstung ist heute ungefähr für einen Drittel der Armee vollständig vorhanden. Die Mehrheit der Truppen könnten wir im Ernstfall also nur teilweise ausrüsten. Wir wollen darum den Grad der Ausrüstung auf bis zu zwei Drittel steigern.

In die Konsolidierungsphase bis 2020 gehört auch, dass das Gleichgewicht zwischen Investitionen und Betriebsaufwand verbessert wird. Momentan sind ein grosser Teil unserer Mittel durch Betriebsausgaben gebunden, so dass für Investitionen nicht mehr genügend Spielraum bleibt. Aus diesem Grund müssen wir harte Sparmassnahmen vorsehen, um die Fixkosten zu senken. Dazu gehören schmerzhafte Schritte wie die vorzeitige Ausserdienststellung von Material, die Schliessung von Standorten oder möglicherweise sogar von Flugplätzen.

Phase der weiteren Entwicklung ab etwa 2020
Der Bundesrat beabsichtigt, diese Legislatur einen neuen sicherheitspolitischen Bericht vorzulegen. Dieser ist dann die Grundlage für weitere Anpassungen der Armee, damit die Investitionen und Ausrüstungen auf die neuen Bedrohungen ausgerichtet werden. Ich greife nicht vor, aber wenn wir den heute skizzierten Megatrend einerseits und die technologischen Entwicklungen andererseits vor Augen haben, werden die grossen Umrisse klar:

Entwicklung unbemannter Flugkörper: Diese Waffen sind in einem grösseren Zusammenhang zu sehen, nämlich der Auflösung des traditionellen Schlachtfeldes, wo sich klar definierte Kräfte gegenüberstehen. Wir haben das Phänomen im Zusammenhang mit Terrorgruppen erlebt, die irgendwo und irgendwann zuschlagen können. Parallel dazu läuft aber die selbe Entwicklung bei den modernsten Armeen; auch die Grossmächte führen einen anonymen Krieg auf Distanz, wo sie gezielt und unberechenbar zuschlagen, aktuell immer wieder in Jemen oder in Pakistan.

Sonderoperationskräfte: In eine ähnliche Richtung geht die Entwicklung bei Sonderoperationskräften. Auch diese werden ausserhalb der traditionellen Konfliktführung für rasche und wirkungsvolle Schläge eingesetzt. Deshalb nimmt in vielen Armeen ihre Bedeutung zu.

Cyberkonflikte finden sogar tagtäglich statt und werden ebenfalls ausserhalb eines Schlachtfeldes geführt. Im ersten Weltkrieg erhielten die Schlachtfelder mit den Kampffliegern eine dritte Dimension. Heute erleben wir, wie Konflikte sich um eine vierte Dimension erweitern: Um den virtuellen Raum, in dem Cyber-Aktionen stattfinden. Möglicherweise revolutioniert das die Kriegsführung ähnlich, wie früher einmal das Schwarzpulver, das Aufkommen von Büchsen, Mörsern und ersten Kanonen oder vor etwa 100 Jahren von Flugzeugen und Panzern. Wer solche technologischen Revolutionen verschläft, dem droht ein böses Erwachen.

Weniger schwere Mittel: Im Bereich traditioneller schwerer Mittel wurden in der Rüstungsindustrie in den vergangenen Jahren tausende von Stellen abgebaut, weil weniger in schwere terrestrische Waffen investiert wird. Überraschung, Präzision und Geschwindigkeit ersetzen die Masse. Diese Entwicklung haben auch wir bei der Weiterentwicklung unserer Armee in Rechnung zu stellen. Ein Präzisionsfeuer statt eines Flächenfeuers wäre gerade für unser dichtbesiedeltes Land zwingend.

Wenn wir vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen unsere Sicherheitsbedürfnisse anschauen, stellen wir fest: Wir müssen auf neue Konfliktformen vorbereitet sein. Wir dürfen nicht mehr allein nur an den traditionellen Krieg denken, der mit einer Kriegserklärung beginnt, mit schwerem Material nach bekannten Mustern und mehr oder weniger sogar nach völkerrechtlichen Regeln geführt wird. Wir haben uns einzustellen auf unterschwellige Aktionen, Überraschungen, Nadelstiche, Erpressungen, gezielte Angriffe etwa auf die Verkehrs-, Energie- oder Informations-Infrastruktur usw. - und dabei ist vielleicht nicht einmal offensichtlich, wer hinter solchen Aktionen steht.

Vor diesem Hintergrund gewinnt Aufklärung und Frühwarnung an Bedeutung. Denn in neuen, asymmetrischen Konflikten wird der Überraschungseffekt als Mittel genutzt, um die Gesellschaft und die Wirtschaft zu treffen.

Der Schutz der kritischen Infrastruktur gehört in den nächsten Jahren zu den ganz wichtigen Aufgaben. Wenn wir bedenken, wie schon kleine Störungen im normalen gesellschaftlichen Funktionieren grosse volkswirtschaftliche Kosten verursachen, sehen wir auch hier wieder, dass sich Investitionen in unsere Sicherheit wirklich lohnen.

Wir brauchen gut ausgerüstete, gut ausgebildete und gut geschützte Bodentruppen, die rasch aufgeboten werden können - wir müssen mit ihnen die Flexibilität gewinnen, auf absolut überraschende Ereignisse reagieren zu können, sogar auf Ereignisse, die wir uns heute noch gar nicht genau vorstellen können, denn diese sind die wirklich gefährlichen. Und als Verteidigungsarmee müssen wir die Sicherheit der Bevölkerung sowie die Unabhängigkeit des Landes jederzeit glaubwürdig garantieren können.


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