Freiheit ist ein Gut, das täglich neu erarbeitet werden muss

Rütli, 01.08.2013 - Rede von Johann N. Schneider-Ammann, Bundesrat, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF | Ansprache zum 1. August 2013 auf dem Rütli

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
Chers et chères compatriotes, chers habitants de ce pays,
Cari concittadini, care concittadine, Cari residenti nel nostro paese,
Chars Svizzers e charas Svizras, chars abitants e charas abitantas da noss pajais

Sehr geehrte Damen und Herren
Liebe Fussballerinnen, liebe Fussballer,
liebe Fussballfreunde und Fans,

Herzlicher Dank, lieber Jean-Daniel Gerber, für Ihren Steilpass.

Damit steigen wir in die zweite Halbzeit ein, diese wird ausnahmsweise nur ein paar Minuten dauern.

Es ist mir eine ausserordentliche Ehre und Freude, heute hier zu sein auf dieser ganz und gar einzigartigsten Wiese der Schweiz. Ganz nüchtern gesehen, wäre das Rütli eigentlich eine Wiese wie viele andere in unserem Land. Leicht abschüssig, umgeben von Wald, zum Fussballspielen jedenfalls völlig ungeeignet.

Wir stünden heute wohl kaum hier, wenn nicht die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft diese Wiese vor 154 Jahren in einem eigentlichen patriotischen Akt gekauft hätte und damit verhinderte, dass hier heute ein Hotel steht.

Der Gemeinsinn der Gemeinnützigen Gesellschaft hat uns das Rütli erhalten und damit jenes Stück Land, von dem der amerikanische Dichter Mark Twain gesagt hat: „Kein anderes Stück Erde ist mehr wert, Ozeane und Kontinente zu durchqueren, um es zu sehen."

Eine Reise über die Meere tut man nicht, um eine gewöhnliche Wiese zu sehen. Wer soweit reist, will mehr. Wer das Rütli besucht, besucht in erster Linie eine Idee. Es ist die Idee der Freiheit, der Selbständigkeit und der Souveränität.

Genau das ist es, was hier seinen Ausdruck findet: Freiheit, Selbständigkeit und Souveränität.

So gesehen spielt es denn auch keine Rolle, ob sich die drei Eidgenossen, der Schwyzer Werner Stauffacher, der Urner Walter Fürst und der Unterwaldner Arnold von Melchtal auch wirklich am 1. August 1291 hier getroffen haben oder nicht.

Es ist auch nicht matchentscheidend, ob der Bundesbrief genau an diesem Tag unterschrieben wurde.

Ob historische Wahrheit oder Mythos ist nicht die zentrale Frage: Was zählt ist etwas ganz anderes, etwas viel Tieferes. Was zählt ist die Bedeutung, die wir Schweizerinnen und Schweizer diesen historischen Ereignissen heute geben. Was zählt ist wie wir den Geist heute leben, der sowohl in der Handlung der drei Urschweizer wie auch im Bundesbrief zum Ausdruck kommt. Der Bundesbrief ist eine Vereinbarung zusammenzuhalten, zusammenzuarbeiten, solidarisch zu sein. Über die Egoismen der einzelnen Täler hinaus.

Im Bundesbrief kommt damit etwas zum Ausdruck, das unser Land und unser Volk tief geprägt hat und zwar über die Sprach- und Religionsgrenzen hinaus: Der Geist von Gemeinsinn, der Geist des Füreinander-Einstehens, des Zueinander-Sorge-Tragens.

Dem widerspricht auch das Wort von Wilhelm Tell nur auf den ersten Blick, der bei Schiller noch trotzig sagte: „Der Starke ist am mächtigsten allein". Auf Stauffachers Frage: „So kann das Vaterland auf Euch nicht zählen, Wenn es verzweiflungsvoll zur Notwehr greift?" gibt Tell zur Antwort; „Bedürft ihr meiner zu bestimmter Tat, Dann ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen."

Der Sinn für das Gemeinsame hat unser Land von jeher geprägt. Der Wille, zusammenzustehen, hat unser Land über die Jahrhunderte stark gemacht. Es ist dieser Grundgedanke, der letztlich den Erfolg bringt. Das erleben Sie als Fussballerinnen und Fussballer, liebe junge Leute, in jedem einzelnen Spiel.

Fussball ist ein Mannschaftssport und jeder weiss, eine Gruppe von lauter Superstars wird nie längerfristig Erfolg haben. Das gilt im Übrigen ebenso für Einzelsportler.

Eine Simone Niggli würde nicht dreiundzwanzigfache OL-Weltmeisterin, ein Roger Federer nicht der Tennischampion, der er ist, und eine Manuela Schär und ein Marcel nicht 4-, resp. 5-fache Weltmeister im Behindertensport, wenn sie nicht getragen würden von einem Umfeld, das mit ihnen als eingespieltes Team auf ihre Ziele hinarbeiten würde.

„Wir könnten viel, wenn wir zusammenstünden" sagt Stauffacher in Schillers Freiheitsdrama. Wir können viel, wenn wir zusammenstehen. Neben dem Willen zur Leistung und der Bereitschaft, dafür lange und hart zu trainieren, braucht es einen Betreuerstab, Sportlehrer, Trainer und Eltern, ganze Teams, um später vielleicht einmal Erfolg zu haben.

„Einer für alle, alle für einen", heisst ein berühmtes Wort. Das gilt im Fussball wie auf dem politischen Parkett wie auf der wirtschaftlichen Spielwiese. Neid und Missgunst sind schlechte Spiel-Kameraden und haben in einem erfolgreichen Team nichts verloren. Neid und Missgunst lassen den eigenen Mitspieler ins offside laufen. Spielt Neid die Steilvorlage, ist sie zu weit, spielt Missgunst einen Rückpass, wird er zur Vorlage für den Gegner und zum Grund für die Niederlage.

Wenn es uns heute in unserem Land so gut geht, dann hat auch das letztlich sehr viel mit Teamgeist zu tun. Innovation entsteht im Team. Ein Spitzenforscher oder ein Top-Ingenieur (ja selbst ein Bundesrat), alle müssen sie auf ihre Leute zählen können. Und jeder Unternehmer weiss, was es bedeutet, auf eine gute Belegschaft zählen zu können.

Teamgeist ersetzt unnötige Regeln und eröffnet Chancen. Wer in die Geschichte unsers Landes geht, entdeckt eine Schweiz, die während mehreren Jahrhunderten gezwungen war, ihre Söhne in fremde Kriegsdienste zu schicken, damit die zuhause überleben konnten. Zu Tausenden starben sie als Emigranten auf den Schlachtfeldern Europas oder kehrten körperlich und seelisch verletzt heim.

Es ist die Zeit, als die Rütligeschichte geschrieben wurden. Auch nach dem Ende der Reisläuferei, waren viele Schweizer gezwungen, ihr Auskommen im Ausland zu suchen. Oft als Saisonniers. Tessiner arbeiteten als Kaminfeger und Ofenbauer in Italien, Engadiner zogen als Zuckerbäcker in den Süden, Berner Käser gingen nach Ostpreussen, wieder andere suchten ihr Glück Übersee, in Südamerika, in den Vereinigten Staaten oder in Kanada.

Heute ist niemand mehr gezwungen, aus wirtschaftlichen Gründen aus der Schweiz auszuwandern. Zu verdanken haben wir das unseren Vätern und Vorvätern. Die Mütter sind damit ausdrücklich auch gemeint. Sie haben die Grundlagen gelegt, dass wir heute mit Stolz sagen können, die Schweiz ist eines der wirtschaftlich erfolgreichsten Länder dieses Planeten.

Gab und gibt es ein Geheimrezept für diesen Erfolg? Ich meine ja. Unsere Vorfahren und auch wir setzen auf drei Grundsätze: Auf Offenheit, auf unternehmerische Freiheit und auf Sozialpartnerschaft. Der Starke kann mächtig sein, aber allein wird er nicht erfolgreich. Diesen Grundsatz haben wir auch in die moderne Bundesverfassung gegossen, wenn es heisst:

„Gewiss, dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen." Die Bundesverfassung definiert die Grenzen der Freiheit. Aber sie fordert uns gleichzeitig auf, diese Freiheit zu nutzen, wenn es heisst: „Frei ist nur, wer seine Freiheit auch gebraucht". Unser System gibt also jedem einzelnen in unserem Land die Möglichkeit, sich einzubringen, sich zu entwickeln und sich zu verwirklichen.

Aber mit dem Hinweis auf die Verantwortung für die Schwachen schafft sie, die BV, ein produktives Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht nennt sich echter Liberalismus. Es ist die Verbindung von gut genutztem Freiraum mit Verantwortung. Auf das Ergebnis bin ich ausserordentlich stolz: Unser Land kennt praktisch Vollbeschäftigung. Quasi allen kann, entsprechend ihren Fähigkeiten und auch Ambitionen, eine Ausbildung und ein Job geboten werden.

Diese Errungenschaft gilt es mit Weitsicht, mit Einsatz, mit Kreativität und mit Eigenverantwortung in die Zukunft zu tragen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Junge,

Ich zähle auf Ihre Offenheit, auf Ihren unternehmerischen Willen und Ihren sozialpartnerschaftlichen Beitrag!

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Gäste in unserem Land,

Erfolg, Wohlstand und Sicherheit machen selbstgefällig und riskieren, auf Abwege zu führen. Solchen Entwicklungen ist mit aller Kraft entgegenzutreten. In den letzten Jahren hat sich etwas eingeschlichen, das nicht eigentlichen schweizerischen Werten entspricht. Nicht überall wurde die Freiheit so mit Verantwortung gelebt, wie es unseren Werthaltungen entspricht.

Ich denke da nicht nur an exorbitante Managerlöhne. Ich denke auch an die Ausnützung der Personenfreizügigkeit, die wesentlich für den wirtschaftlichen Erfolg der letzten Jahre verantwortlich ist. Die Folgen solcher Missbräuche sind fatal. Wir riskieren, dass immer mehr Menschen in unserem Land an unseren traditionellen Grundwerten des Liberalismus, der Selbstgestaltung, der Eigeninitiative und der Eigenverantwortlichkeit zu zweifeln beginnen.

Der Vorrat an Gemeinsamkeiten in fundamentalen Fragen droht zusehends, zu schwinden. Immer mehr Menschen glauben, dass uns nur griffigere Gesetze und schärfere Regulierungen unsere Errungenschaften sicherstellen helfen. Dass zusätzliche Regeln aber genau das beschränken, was die Basis unseres Erfolgs ist, nämlich die individuelle und kollektive Freiheit, das scheinen zu viele Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht mehr zu glauben. Dabei wissen wir alle, dass ein Korsett zwar Stabilität verleiht, gleichzeitig aber die Bewegungsfreiheit einschränkt.

Liebe Fussballerinnen und Fussballer,

Stellen Sie sich einmal vor, Sie müssten mit einem Korsett spielen. Nicht auszudenken, wie schwerfällig dann die Fussballspiele würden. Von Chancen eröffnen und Spiele gewinnen, könnte keine Rede mehr sein.

Wie der Fussball kommt allerdings auch die Gesellschaft nicht ohne Regeln aus. Es braucht hier wie dort aber vor allem Fairness. Aber lasst uns unseren Alltag nur dort mit Regeln definieren, wo es zwingend nicht anders geht. Lasst uns den Pfad der Tugend mit maximal viel Bewegungsfreiheit beschreiten. Lasst uns wegen einigen, die über die Stränge hauen und das System ausnützen, nicht das ganze System in Frage stellen.

Bringen wir uns also nicht wegen einer Minderheit um die Früchte der Arbeit unserer Vorfahren, sondern arbeiten wir dafür, dass Freiheit und Verantwortung, dass Individualismus und Teamwork wieder näher zusammen kommen. Eine florierende, auf liberalen Grundsätzen abgestützte, mit Verantwortung gelebte Wirtschaft ist das beste Mittel, damit die Schweiz weiterhin selbstbewusst auftreten und ihre Interessen wirkungsvoll vertreten kann. Denn wirtschaftlicher Erfolg ist der beste Garant für Souveränität und Freiheit!

Pflegen wir das „tiki-taka", also das Mannschaftsspiel.

Nicht bloss auf dem grünen Rasen, sondern auch in unseren Betrieben, in unseren Werkhallen, in unseren Büros, in unserem Alltag.

Ich wünsche Ihnen allen einen guten Tag und eine erfolgreiche, glückliche Zukunft. Und unsere Fussballverband und der Nationalmannschaft wünsche ich das Beste auf dem Weg nach und dann in Brasilien.

Sie legen für unser Land Ehre ein!

Auch ich stehe mit aller Überzeugung hintere dem SFV und rufe laut: „Hopp Schwiiz".

Aus Liebe zur Schweiz.

Und damit spiele ich den Ball zurück an Jean-Daniel Gerber.

 

Es gilt das gesprochene Wort!


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