Wie die Schweiz sich sieht

Bern, 11.11.2013 - Rede von Bundespräsident Ueli Maurer gehalten am 25. internationalen Europa-Forum Luzern vom 11. November 2013

Es gilt das gesprochene Wort!




Sie haben mir für heute Abend den Referatstitel vorgegeben, „Wie die Schweiz sich sieht". Im ersten Augenblick könnte man denken, das Thema sei ein wenig pauschal geraten: Gibt es denn tatsächlich so etwas wie ein schweizweites Schweiz-Bild? Hier in Luzern sieht man doch vieles anders als in Genf oder in Bellinzona. Und im Val Müstair sieht man vieles anders als an der Zürcher Bahnhofstrasse.

Als Urdemokraten, als überzeugte Föderalisten und Individualisten sehen wir Schweizer die Schweiz alle ein wenig anders. Wenn zehn Schweizer zusammen sind, haben sie doch sicher mindestens elf verschiedene Meinungen.


Schweiz-Bild I: Freiheit als Staatszweck
Aber wenn wir es uns genauer überlegen, dann haben wir gerade damit das Bild gefunden, das sich viele Schweizerinnen und Schweizer von unserem Land machen: Ein Land mit einer grossartigen, historisch gewachsenen Vielfalt, mit einer lebendigen direkten Demokratie, mit Bürgern, die sich nicht gerne dreinreden lassen und die als Souverän selbst bestimmen wollen; wir wollen sagen dürfen, was wir denken und wir wollen als Stimmbürger an der Urne das letzte Wort haben.

Ich bin überzeugt, diese Sicht teilt die grosse Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger - über die Kantone, die Regionen, die Sprach- und sogar die meisten Parteigrenzen hinweg.

Wir sehen die Schweiz als freies Land mit einer liberalen Ordnung. Diese liberale Ordnung hat ihre Wurzeln weit zurück in der Geschichte. Die Freiheit als Staatszweck finden wir schon in den Ursprüngen der Schweiz. Im Laufe der Zeit hat sich der alte Freiheitsgedanke dann zu den liberalen Bürger- und Freiheitsrechten entwickelt.

Eine Antwort auf die Frage, wie sich die Schweiz sieht, finden wir darum auch in unserer Verfassung. Diese Ordnung haben wir uns selbst mit demokratischem Mehrheitsentscheid gegeben. Und diese gemeinsamen freiheitlichen Werte haben wir in der Verfassung verankert mit der Absicht, die Freiheit des Bürgers auch für die Zukunft zu sichern:

Freie Meinungsäusserung, Versammlungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit, Wirtschaftsfreiheit, Schutz des Privateigentums, Schutz der Privatsphäre, Gleichheit vor dem Gesetz, Schutz vor staatlicher Willkür, um nur einige zu nennen. Zu unseren liberalen Prinzipien gehört auch die Transparenz in der Staatsführung. Denn der Staat ist uns Bürgern Rechenschaft schuldig, nicht wir dem Staat.

Mir ist in den letzten Jahren noch stärker bewusst geworden, wie deutlich wir uns mit unserer freiheitlichen Ordnung und der starken Stellung der Bürger von andern Ländern unterscheiden: Als Bundesrat hat man ja immer wieder internationale Kontakte, und als Bundespräsident noch etwas mehr: Man trifft Diplomaten anderer Länder, man trifft Vertreter internationaler Organisationen, man trifft ausländische Minister.
In vielen Gesprächen ist mir immer wieder aufgefallen, wie anders und wie einmalig unsere direkte Demokratie funktioniert: Wir alle zusammen regieren als Bürger dieses Land, wir alle zusammen sind der Souverän.

Als Beispiel vergleiche ich jeweils den Anfang des Vertrages von Lissabon der EU mit dem Anfang unserer Bundesverfassung:

Der EU-Vertrag von Lissabon beginnt mit der Auflistung aller Staatsoberhäupter - ich zitiere nur die ersten Linien: „Seine Majestät der König der Belgier, der Präsident der Republik Bulgarien, der Präsident der Tschechischen Republik, Ihre Majestät die Königin von Dänemark, der Präsident der Bundesrepublik Deutschland ..."[1] usw.

Unsere Bundesverfassung dagegen beginnt in der Präambel mit „Im Namen Gottes des Allmächtigen!" und weiter heisst es: „Das Schweizervolk und die Kantone ... geben sich folgende Verfassung: ..."

Schöner könnte man nicht zeigen, wie die Schweiz sich sieht. Die Schweiz ist das Land, in dem das Volk - wortwörtlich - am Anfang steht. Das Volk bestimmt, das Volk regiert, das Volk erlässt die Ordnung, in der es leben will. Eben, es gibt sich die Verfassung und auch die Gesetze.

Wenn ich in einer Kurzformel zusammenfassen muss, wie sich die Schweiz sieht, dann schlage ich vor: Ein Land, dessen Staatszweck die Freiheit ist.


Schweiz-Bild II: Unbehagen im Kleinstaat
Das ist das eine Bild der Schweiz. Es gibt aber noch ein anderes. Die Schweiz ist ein Kleinstaat. Wir glauben nicht an eine weltgeschichtliche Mission, wie andere Staaten. Wir sind neutral und betreiben keine weltweite Machtpolitik. Nationaler Glanz, nationale Grösse fehlen uns.

Das ist nicht für alle leicht zu ertragen. Immer wieder leiden Schweizer darunter, „niemand zu sein", oder einfach „nicht dazuzugehören". Auch aus diesem Minderwertigkeitsgefühl heraus ergibt sich ein Bild der Schweiz. Man sieht dann das eigene Land übermässig negativ. Man hält es für kleinkrämerisch, kleinkariert, kleingeistig, bünzlig. Daraus folgt die Ansicht, dass dieses Land keine Zukunft haben könne und bald in etwas Grossem aufgehen werde.

Vor fünfzig Jahren, 1963, veröffentlichte der legendäre Karl Schmid, damals Literaturprofessor an der ETH Zürich, sein berühmtes Buch „Unbehagen im Kleinstaat". Der Buchtitel ist mittlerweile zum geflügelten Wort geworden. Schmid bespricht in diesem Buch die Werke von Schweizer Schriftstellern bis zurück ins 19. Jahrhundert. Er beschreibt ihre Begeisterung für die Grösse und die Verachtung für das Kleine und damit auch die Verachtung für den Kleinstaat.

Wenn Sie heute Abend fragen, wie sich die Schweiz sieht, dann ist die Antwort: Die Schweiz hat von sich zwei verschiedene Bilder. Und das war schon immer so. Das Unbehagen im Kleinstaat ist auch Teil unserer Geschichte.
Da war immer einerseits die Schweiz, die an den Wert der Freiheit glaubt; an die Freiheit in Form staatlicher Souveränität und an die Freiheit in Form einer möglichst liberalen Ordnung für unsere Bürger und für unsere Wirtschaft. 

Und da war andererseits auch immer das Unbehagen im Kleinstaat; aus dieser Sicht ist das Bewährte nur altmodisch und hinterwäldlerisch; der Wunsch dominiert, auf irgend eine Art und Weise an einem grossen politischen Schicksal mitzuwirken; der Glaube herrscht, dass eine glänzende Epoche anbricht und dass ein neues Europa oder gar eine neue Welt entsteht. Und da will man dabei sein.

Diese zwei Sichtweisen haben die grossen Diskussionen in unserem Land geprägt und prägen sie weiterhin. Jede politische Diskussion beginnt mit dem Bild, das man sich vom eigenen Land macht. Denn vor konkreten politischen Fragen steht immer zuerst die Grundsatzfrage, ob man an die Zukunft des Kleinstaates Schweiz glaubt, oder ob man der Ansicht ist, das kleine Land solle sich zugunsten einer grossen Vision aufgeben.


Begeisterung für die grosse Vision
Diese Auseinandersetzung zieht sich wie ein roter Faden durch die Schweizer Geschichte der letzten Jahrhunderte: Als die Franzosen 1798 die Schweiz besetzten, trafen sie auf erbitterten Widerstand - aber auch auf Jubel. Nicht wenige glaubten damals, eine neue Zeit breche an, ein neues, geeintes Europa entstehe unter Frankreichs Führung. Die Ernüchterung kam schnell, als das Land geplündert wurde und die jungen Männer in einem fremden Krieg an der Beresina starben.

Die Frage, wie sich die Schweiz sieht, stellte sich auch wieder, als im 19. Jahrhundert grosse Nationalstaaten entstanden, das Königreich Italien im Süden, das Deutsche Kaiserreich im Norden. Auch damals gab es Stimmen, die für den Kleinstaat Schweiz keine Zukunft mehr sahen. Denn hierzulande verkörperte das Deutsche Kaiserreich für manche Zukunft, Glanz und Grösse.

Später versprachen braune und rote Diktaturen einen Aufbruch in eine neue Zeit. Auch diese hatten ihre verblendeten Mitläufer in unserem Land.

Wenn wir eine Lehre aus der Geschichte ziehen können, dann diese: Immer wieder einmal wird eine neue Zeit ausgerufen. Euphoriker begeistern sich dann rasch für grosse Visionen. Da ist Vorsicht geboten, denn die Rechnung wird erst etwas später präsentiert.


Verinnerlichen der Vorwürfe
Das Unbehagen im Kleinstaat äussert sich nebst der Begeisterung für Grösse noch in einer andern Haltung: Im schnellen Übernehmen und Verinnerlichen ausländischer Vorwürfe und Anklagen.

Das erleben wir jetzt schon seit einigen Jahren: Der Druck auf die Schweiz nimmt zu. Immer wieder werden wir kritisiert. Und der Kritik folgen dann meist auch Befehle, was wir zu machen und zu unterlassen hätten. Mal sind es grosse Staaten, die uns Vorschriften machen, mal sind es internationale Organisationen. Die neuesten Forderungen gehen sogar so weit, dass man von uns verlangt, wir sollten fremde Richter akzeptieren. Das wäre das Ende unserer Handlungsfreiheit und unserer Souveränität!

Mir fällt immer wieder auf, wie schnell Vorwürfe an die Schweiz gerade hier im eigenen Land auf fruchtbaren Boden fallen. Vor allem die Medien übernehmen meist unbesehen und sofort die Darstellung der Gegenseite. Und Teile der Politik folgen schnell nach. Manchmal habe ich den Eindruck, gewisse Kreise hierzulande freuten sich geradezu über jede Verunglimpfung und über jede Erpressung.

Das ist etwa so, als müssten Sie sich einen Anwalt nehmen, um sich gegen Rufmord zu wehren. Und dann stellen Sie fest, dass Ihr eigener Anwalt einfach das Plädoyer der Gegenseite vorträgt.

Man muss sich doch einmal fragen: Was sind die Motive hinter dem Druck auf die Schweiz? Man sieht dann rasch, worum es wirklich geht. Nämlich um Macht, nicht um Moral, und um Geld, nicht um Gerechtigkeit.

Die Schweiz steht nicht in der Kritik, weil sie so vieles falsch macht, sondern weil sie so vieles richtig macht und erfolgreich ist. Wir sind als reiches Land ein attraktives Ziel, das ist der Grund für die Angriffe.

Wenn die Schweiz heute wirtschaftlich im internationalen Vergleich sehr gut da steht, haben wir das unserem freiheitlichen Staatssystem zu verdanken. Ich frage mich da: Wäre es nicht besser, andere Staaten liessen sich von diesem Erfolg inspirieren, als dass sie unsere Ordnung verunglimpfen und bekämpfen?

Aber die eigenen Rahmenbedingungen zu verbessern ist harte politische Arbeit. Gerade grosse Staaten kommen in Versuchung, darauf zu verzichten. Stattdessen setzen sie ihre kleineren Konkurrenten wie die Schweiz mit Machtpolitik unter Druck, damit diese ihre Rahmenbedingungen verschlechtern müssen.

Der Druck von Mächtigen auf kleine, aber erfolgreiche Konkurrenten gibt mir zu denken. Denn damit wird der Wettbewerb, der Motor des Fortschritts, abgewürgt. Letztlich gibt es Wohlstandseinbussen für alle. Selbst die grossen Staaten sind nur vorübergehende Gewinner. Wenn der Wettbewerb der Staatssysteme und der Standorte fehlt, erlahmt noch der letzte Rest Reformwille.


Leistungen der Schweiz für die Welt
Das Unbehagen im Kleinstaat äussert sich heute oft in Selbstanklagen. Der populärste Anklagepunkt ist jener des Rosinenpickens. Er wurde in den letzten Jahren so oft wiederholt, dass er heute unser Selbstbild beeinflusst.

Da dürfen wir ruhig selbstbewusst widersprechen. Erinnern wir darum einmal daran, wo und wie andere von der Schweiz profitieren:

Zum Beispiel, dass die Schweizer Wirtschaft gemäss den Zahlen der Nationalbank über 1000 Milliarden Franken im Ausland investiert hat, davon über 40% in der EU.[2] Schweizer Unternehmen schaffen damit weltweit gegen drei Millionen Arbeitsplätze ausserhalb der Schweiz.[3] Dazu kommen noch über 270‘000 Grenzgänger, die bei uns ihr Geld verdienen. [4]   

Nach einer Statistik der Weltbank sind es über 30 Milliarden Dollar jährlich, die von Grenzgängern hier verdient bzw. von Immigranten in ihre Herkunftsländer überwiesen werden.[5]

Über 1.1 Millionen EU-Bürger leben in der Schweiz.[6] Und die Zahl steigt rasant. Jährlich profitieren Zehntausende von der Personenfreizügigkeit, so dass sich für unser kleines Land ernsthafte Fragen der Aufnahmekapazität stellen.

Dazu kommen grosse Ausgaben der öffentlichen Hand zugunsten der internationalen Beziehungen: Allein der Bund hat dieses Jahr fast 3.3 Milliarden Franken dafür budgetiert.[7] Nicht mitgerechnet sind die zusätzlichen Leistungen von Kantonen und Gemeinden.

Die Schweiz beteiligt sich mit riesigen Summen am Internationalen Währungsfonds: Unsere Garantien an den IWF betragen über 23 Milliarden Franken.[8]

Die Schweiz baut mit der NEAT für über 20 Milliarden Franken neue Nordsüdachsen für den alpenquerenden Schienenverkehr in Europa.

Die Schweiz zahlte bis jetzt bereits über 1.2 Milliarden Franken als sogenannte Kohäsionszahlungen an die osteuropäischen EU-Staaten.

Die Schweiz trägt auch viel zu Forschung und Entwicklung bei: Gemäss verschiedenen Ranglisten ist die Schweiz eines der innovativsten Länder der Welt.[9]

Die Schweiz engagiert sich weltweit für den Frieden. Sie bietet ihre Guten Dienste an. Unser neutrales Land ist ein idealer Standort für internationale Organisationen, für Konferenzen und Gespräche.

Als neutrales Land sind wir nie Partei, sondern immer Vermittler. Dieses Jahr feiern wir 150 Jahre Internationales Komitee vom Roten Kreuz. 1863 wurde in Genf das IKRK gegründet. Seither lindern seine Helfer Leid in Krisen und Kriegen überall auf dieser Welt.
Die Schweiz ist Depositarstaat der Genfer Konventionen von 1949 sowie der Zusatzprotokolle von 1977 und 2005. Das zeigt, dass das humanitäre Engagement Teil unserer Geschichte ist.


Fazit
All das sind Beispiele für die grossen Leistungen eines kleinen Landes. Man soll ja immer kritisch sein mit sich selbst. Aber ich sehe wirklich keinen Grund für Selbstanklagen. Im Gegenteil, ich bin der Meinung, dass wir auf unser Land stolz sein dürfen!

Unabhängigkeit, freiheitliche Ordnung, Volkssouveränität und direkte Demokratie haben sich bewährt. Diese Werte definieren den Grundkonsens, auf den wir Schweizer bei aller Verschiedenheit und Vielfalt seit 1848 unseren Bundesstaat bauen.

Es wäre ein grosser Fehler, dieses Erfolgsmodell Schweiz in Frage zu stellen; dieses Erfolgsmodell, das uns Wohlstand, Frieden, Stabilität und hohe Lebensqualität gebracht hat. Und dies aus einem Unbehagen im Kleinstaat heraus, weil man von internationalen Visionen träumt und die eigenen Interessen gar nicht mehr vertreten will.

Wenn ich Ihnen als Bürgerinnen und Bürgern heute Abend einen Ratschlag mitgeben darf: Sie werden auch in Zukunft immer wieder über Fragen zu entscheiden haben, bei denen es mehr oder weniger direkt um die Existenz unserer souveränen und freiheitlichen Schweiz geht. Denken Sie daran, was wir über Generationen in diesem Land alles gemeinsam erschaffen haben - und denken Sie daran, was alles auf dem Spiel steht, wenn wir die Eigenständigkeit aufgeben würden!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!




[1] http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2007:306:FULL:DE:PDF
[2] www.snb.ch/ext/stats/fdi/pdf/de/1_2_CH_Direktinve_Kapitalbestand.pdf
[3] www.snb.ch/ext/stats/fdi/pdf/de/1_3_CH_Direktinve_Personalbestand.pdf
[4] www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/03/02/blank/key/erwerbstaetige0/grenzgaenger.html
[5] NZZ am Sonntag, 7. April 2013, „Nützliche Schweiz", S. 27
[6] www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/07/blank/key/01/01.html
[7] Bericht zum Voranschlag 2013, S. 28
[8] Zur Entwicklung der verschiedenen Positionen und des Gesamtrisikos vgl. NZZ, 1.12.2012, S. 31; www.snb.ch/de/iabout/internat/coop/id/internat_coop_imf#t6, Stand September 2013
[9] NZZ, 30. Oktober 2013, „Attraktiver Wirtschaftsstandort dank hoher Innovationskraft", S. 28


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