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RedeVeröffentlicht am 18. November 2025

Demokratie beginnt mit Fragen, nicht mit Antworten

Bern, 04.11.2025 — Rede zum Nationalen Forum Politische Bildung

Sehr geehrte Frau Nationalrätin Masshardt

Sehr geehrter Herr Nationalrat Nussbaumer

Gentile signora Consigliera di Stato Carobbio Guscetti

Mesdames, Messieurs,

Geschätzte Damen und Herren

Es ist mir eine besondere Ehre, Sie heute hier im Kornhausforum willkommen zu heissen. Als Erstredner darf ich die Geschichte dieses besonderen Ortes in meine Rede einbauen – ein Privileg, das ich als Stadtberner gerne nutze.

Das Kornhausforum ist ein Ort, der nicht nur architektonisch beeindruckt, sondern auch eine Geschichte erzählt, die tief in die DNA der Stadt Bern eingeschrieben ist. Wo wir heute über politische Bildung sprechen, wurde einst Politik ganz handfest betrieben – mit Getreide, Wein und Holz. Im Alten Bern war die Kornverwaltung ein zentrales Geschäft: Sie sicherte die Versorgung in Krisenzeiten, regulierte den Markt, beeinflusste Preise – und bezahlte Beamte in Naturalien. In diesen mächtigen Gewölben im Untergeschoss wurde gehortet, verteilt, entschieden. Im Erdgeschoss wurde Korn gehandelt, in den Obergeschossen gelagert – und durch die schmalen Fassadenöffnungen zirkulierte nicht nur Luft, sondern auch Einfluss.

Nach dem Untergang des Alten Bern wandelte sich das Kornhaus: Es wurde Kaserne, Unterkunft für Geflüchtete, Gewerbemuseum, Festlokal, Malschule. Und schliesslich, nach einer Volksabstimmung im Jahr 1996, zu dem, was es heute ist: ein Ort der Kultur, der Diskussion, der Auseinandersetzung – das Kornhausforum.

Und hier schliesst sich der Kreis: Wo früher mit Korn Politik gemacht wurde, reden wir heute über Politik. Politische Bildung ist gewissermassen ein «Vorratslager» unserer Zeit. Sie schützt uns zwar nicht vor körperlichem Hunger, aber vor geistiger Gleichgültigkeit. Sie ist unser Mittel gegen zu einfache, oftmals nur vermeintliche «Lösungen» – und um Demokratie lebendig zu halten. So, wie das Kornhaus einst für Versorgungssicherheit stand, steht es heute für geistige Nahrung.

Damit begrüsse ich Sie, geschätzte Anwesende, herzlich zum Nationalen Forum Politische Bildung. Es freut mich ausserordentlich zu sehen, wie viele Personen aus Praxis, Forschung, Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft heute zusammengefunden haben, um über politische Bildung zu sprechen.

Demokratie beginnt mit Fragen, nicht mit Antworten. Fragen, so wie sie sich durch die Titel des ganzen Tagungsprogramms ziehen, bilden den Anfang. Demokratie beginnt mit dem Mut, neugierig zu sein und kritisch nachzuhaken. Sie beginnt mit dem gemeinsamen Verständnis davon, was Demokratie bedeutet und wie sie gelebt wird. Fragen bringen uns dazu, genau hinzuschauen und aufmerksam zuzuhören. In einer Welt, in der autokratische Tendenzen zunehmen, ist es umso wichtiger, dass wir immer wieder Antworten suchen – und auch geben – zur grundlegenden Frage: Warum setzen wir auf Demokratie? Und, damit verbunden: Warum ist es notwendig, die Grundlagen unseres politischen Systems zu verstehen und zu verteidigen?

Ich nenne ein aktuelles Beispiel: Vor ziemlich genau einem Monat hat in Syrien die erste Parlamentswahl nach langer totalitärer Herrschaft und einem verheerenden Bürgerkrieg stattgefunden. Mich hat beeindruckt, wie ein Bürger vor laufender Kamera sagte: Das syrische Volk sei sich Demokratie und Freiheit nicht gewöhnt, er sei aber zuversichtlich, dass sie das nun zu verstehen beginnen würden.

Zwar kann die Wahl in Syrien bei weitem nicht als Musterbeispiel demokratischer Mitbestimmung bezeichnet werden – allein der Übergangspräsident bestimmt rund ein Drittel der Parlamentsmitglieder in Eigenregie. Aber das Beispiel zeigt, dass demokratische Institutionen, Prozesse und offene Meinungsfindung nicht selbstverständlich sind. Es ist ein langer Prozess, bis eine Demokratie institutionell verankert ist. Demokratie und Partizipation wollen und müssen gelernt sein – und sie müssen auch gelehrt werden, immer wieder aufs Neue.

Das gilt nicht nur für Länder, sondern auch für jede und jeden Einzelnen von uns. Eine persönliche Erfahrung hat mir dies eindrücklich vor Augen geführt: Mein Vater musste, als er für unsere ganze Familie in den 1970er Jahren das Schweizer Bürgerrecht erlangen wollte, nächtelang Schweizer Geschichte, den Staatsaufbau unseres Bundes, der Kantone und Gemeinden sowie die Rechte und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger büffeln. Am Ende wusste er wohl mehr über die Schweiz, als viele Schweizerinnen und Schweizer, die hier geboren sind, je wissen werden. Mein Vater hat dies nicht in erster Linie als Pflichtübung verstanden, sondern es hat seine Lust auf «mehr» geweckt. Er hat denn auch, wohl ohne Ausnahme, an jeder Abstimmung und an allen Wahlen den Weg an die Urne gemacht. Aber das Beispiel zeigt: Das Verständnis für die Demokratie fällt nicht vom Himmel – man muss es sich erarbeiten. Und genau dabei hilft die politische Bildung.

Politische Bildung stattet uns mit entscheidenden Werkzeugen aus: Sie hilft uns, die richtigen Fragen zu stellen, Informationen kritisch zu hinterfragen, sie einzuordnen, Antworten zu finden, komplexe Zusammenhänge zu verstehen – und damit eine fundierte eigene Meinung zu bilden.

Denn für mich ist klar: Wer keine Fragen stellt, überlässt die Demokratie den anderen. Wer keine Fragen stellt, macht sich abhängig von den «Fragen» anderer – und gibt damit einen entscheidenden Teil der eigenen demokratischen Mitsprache aus der Hand.

Ich vergleiche die politische Bildung gerne auch mit einer Aktivität, die mir am Herzen liegt. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich meine berufliche Laufbahn mit einer Kochlehre begonnen. Viele Jahre später – und einige Haare weniger – ist Kochen noch immer eine grosse Leidenschaft von mir. Mit der Auswahl der richtigen Zutaten verhält es sich ähnlich wie mit einer fundierten politischen Bildung. Natürlich kann jede und jeder von uns auch ohne Vorwissen irgendwie etwas zusammenkochen. Aber ob am Ende wirklich das herauskommt, was man eigentlich kochen wollte, bleibt dem Zufall überlassen. Bei der Kochkunst und der demokratischen Mitbestimmung verhält es sich ähnlich: Politische Bildung kann verhindern, dass Bürgerinnen und Bürger Entscheidungen treffen, die sie eigentlich gar nicht wollten – nur weil ihnen das nötige Hintergrundwissen fehlt. Und ein solides Grundwissen in der Küche verhindert, dass jemand Spaghetti mit Eiern und Rahm als «echte Carbonara» bezeichnet. (Für Antworten zur Frage, warum in eine gute Carbonara nie, aber wirklich nie auch nur ein Tropfen Rahm gehört, stehe ich am Ende gerne zur Verfügung.)

Auch in einer Demokratie zählen, wie in der Küche, die «Zutaten». Gerade in Zeiten von Desinformation wird die Bedeutung einer ausgewogenen und qualitativ hochstehenden Berichterstattung besonders deutlich. Medien nehmen deshalb in einer Demokratie eine zentrale Rolle ein. In vielen Ländern ziehen sich die Bürgerinnen und Bürger in eigentliche Informationsblasen zurück. Oder sie wenden sich ganz von Medienprodukten ab – und damit von der Beteiligung am öffentlichen Diskurs, an der Verständigung einer Gesellschaft mit sich selbst.

Leider zeigt sich dieser Trend auch bei uns in der Schweiz: Fast die Hälfte der Bevölkerung zählt gemäss einer aktuellen Studie der Universität Zürich mittlerweile zu den «News-Deprivierten», nutzt also selten bis gar keine Nachrichtenmedien mehr. Diese Menschen verfügen laut der Studie über deutlich weniger Wissen zu politischen und gesellschaftlichen Themen und bringen Politik und Medien erheblich weniger Vertrauen entgegen. Das ist alarmierend. Denn wer keine verlässlichen Informationen mehr nutzt, kann sich auch kaum fundiert an demokratischen Entscheidungen beteiligen.

Trotz allem bin ich für die Schweiz noch zuversichtlich gestimmt. Aufgrund der hohen Anzahl der Volksabstimmungen haben wir hierzulande immer noch einen vergleichsweise lebendigen öffentlichen Diskurs. Ich bin sehr dankbar für diese Tatsache, denn offene Diskussionen – und manchmal auch harte, kontrovers geführte Debatten, das gehört dazu – stärken unsere Widerstandskraft gegen anti-demokratische Einflüsse.

Politische Bildung ist ein wesentlicher Pfeiler unserer direkten Demokratie. Das Thema nimmt auch auf Bundesebene einen festen Platz ein. Die Bundeskanzlei veröffentlicht jedes Jahr den «Bund kurz erklärt» – oder BUKU, wie wir ihn nennen. Er erklärt verständlich, wie unsere Demokratie funktioniert, und macht die Werte politischer Mitbestimmung deutlich. Wir geben ihn in fünf Sprachen heraus, und er hat mit über 130'000 Exemplaren eine stolze Auflage und gehört in nicht wenigen Schulen zu den Lehrmitteln. Dabei sind elektronische Downloads noch nicht einmal mit eingerechnet. Auch der Bundesrat selbst hat sich mit der politischen Bildung auseinandergesetzt. In seinem Bericht «Entwicklung der politischen Bildung 2018 – 2021» hat er einen umfassenden Überblick über die vielfältigen Initiativen von Bund, Kantonen und Zivilgesellschaft vorgelegt. Im nächsten Jahr soll der Bericht aktualisiert werden.

Erst kürzlich hat zudem der Nationalrat einem Minderheitsantrag zugestimmt, dessen Urheberinnen und Urheber die Demokratieförderung und die politische Bildung auf Bundesebene auch gesetzlich verankern wollen. Der Ball liegt nun beim Bundesrat, dieses Thema erneut vertieft anzugehen..

Geschätzte Damen und Herren, zum Schluss möchte ich betonen, dass politische Bildung keine einmalige oder punktuelle Angelegenheit ist. Sie ist eine lebenslange Aufgabe und Verpflichtung. Denn Demokratie ist lebendig und muss immer wieder aufs Neue weiterentwickelt werden. Und das geschieht auch, Stichworte dazu sind etwa Vorstösse zu Bürgerinnen- und Bürgerräten oder die Entwicklung und Etablierung elektronischer Formen demokratischer Partizipation, konkret E-Voting und E-Collecting.

Mit Ihrer Arbeit und Ihrem Engagement in der politischen Bildung schaffen Sie die Voraussetzungen dafür, dass unsere Demokratie weiter gedeihen kann. Gerade in unsicheren Zeiten ist es entscheidend, dass wir alle – von Jung bis Alt – verstehen, wie unser politisches System funktioniert. Nur wer seine demokratischen Rechte kennt, kann sie auch wirksam nutzen. Lassen Sie uns also neugierig bleiben, Fragen stellen und gemeinsam Antworten finden – im offenen, respektvollen Dialog.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen ein spannendes und lehrreiches Forum.