Sehr geehrter Herr Staatsrat
Sehr geehrter Herr Präsident
Meine Damen und Herren

Es liegt in der Natur der Sache, dass Aussenminister viel unterwegs sind. In meinen ersten eineinhalb Jahren als Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten habe ich um die 40 Reisen gemacht und über 200 Minister oder Staats- und Regierungschefs getroffen.

Dabei durfte ich feststellen, wie sehr sich meine Gesprächspartner in aller Regel für die Schweiz interessieren und wie viel Respekt und Wertschätzung sie unserem Land entgegenbringen. Die Schweiz löst häufig Staunen aus: ihr Platz als Innovationsleader, ihre Wirtschaftskraft, ihre tiefe Arbeitslosigkeit – kurz, ihr fast unglaublicher Erfolg. Am meisten Fragen erhalte ich jedoch zu einer anderen Stärke unseres Landes, nämlich zu unserer direkten Demokratie.

Meine Damen und Herren

Mit seiner Europapolitik will der Bundesrat genau diese Stärken der Schweiz bewahren. Wir wollen, dass unser Land auch künftig Wohlstand geniesst. Wir wollen die direkte Demokratie erhalten. Und wir wollen unsere Unabhängigkeit sichern, die uns einen eigenständigen politischen Kurs erlaubt und uns in zahlreichen Bereichen gewichtige Vorteile bringt.

Verantwortungsbewusste Offenheit als Trumpf

Als Vertreter des Bundesrats möchte ich mit Ihnen heute über einen besonderen Trumpf der Schweiz reden, nämlich über die verantwortungsbewusste Offenheit unseres Landes gegenüber der Welt und Europa. Diese Offenheit ist eine entscheidende Voraussetzung für unseren Erfolg – für das, was wir gemeinsam erreicht haben.

Die Schweiz gehört zu den am stärksten globalisierten, innovativsten und wettbewerbsfähigsten Ländern der Welt, das bestätigen sämtliche Ranglisten. Die Schweiz gehört auch – dank den von Ihnen geführten Unternehmen – zu den grossen Investoren.

Meine ausländischen Gesprächspartner sprechen von der Schweiz nicht als Kleinstaat: Sie sprechen von einer bedeutenden Wirtschaftsmacht. Vor einigen Tagen fragte man mich in Bratislava, weshalb wir in der Slowakei nur der zwölftgrösste Investor seien, in der EU hingegen der zweitgrösste (nach den USA) und weltweit der sechstgrösste. Für ein Land mit 8 Millionen Einwohnern ist das fast unglaublich!

Meine Damen und Herren

Es ist die Bundesverfassung, die den Handlungsrahmen des Bundesrats festlegt. Unsere Verfassung erwähnt klipp und klar, welche Interessen mit unserer Aussenpolitik zu verteidigen sind. Konkret sind wir geheissen, die Sicherheit, die Wohlfahrt und die Unabhängigkeit des Landes zu wahren und zu fördern.

In diesen drei Bereichen steht die Schweiz gut da, sogar beneidenswert gut. Die Schweiz ist sicher. Sie ist unabhängig. Sie hat eine prosperierende Wirtschaft, was sich am klarsten darin zeigt, dass unsere Jugendlichen leichter Arbeit finden als anderswo. Ein wesentlicher Faktor dieses Erfolgs ist unser hoher Grad an Offenheit – eine gewollte, verantwortungsbewusste Offenheit.

Weil die Schweiz unabhängig von Allianzen ist, kann sie ihre Aussen- und ihre Handelspolitik selber steuern. Sie kann sich bei Bedarf anders oder früher als andere positionieren.

Der Bundesrat verfolgt die Strategie, die Handelstätigkeit der Schweiz weltweit zu fördern, insbesondere mit strategischen Partnern. Wir denken vor allem an Wachstumsregionen wie Asien (vor allem China und Indien), die Golfstaaten, Russland oder Lateinamerika. Mit Freihandelsabkommen will die Schweiz neue Türen öffnen und Zugang zu vielversprechenden Märkten finden. Diese neuen Märkte werden zu einer immer wichtigeren Ergänzung zum Haupthandelspartner der Schweiz, also zur EU.

Seien wir uns bewusst: Europa ist und bleibt der wichtigste Partner für die Schweiz, auch wenn der Handel mit Staaten wie China an Bedeutung gewinnt. Als Wirtschaftspartner ist für uns das Bundesland Baden-Württemberg allein so bedeutend wie die USA! Der Handel mit Bayern liegt in der Grössenordnung von demjenigen mit Japan. Der Handel mit der Lombardei wiederum ist vergleichbar mit demjenigen mit China.

Deshalb hat der Bundesrat in seiner Aussenpolitischen Strategie letztes Jahr entschieden, die Beziehungen zu den Nachbarländern zu vertiefen. Ebenfalls hat er entschieden, die Beziehungen zur EU und ihren Mitgliedsstaaten zu stärken. Stabile und ausgewogene Beziehungen mit der EU auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens und gemeinsamer Interessen sind für den Wohlstand der Schweiz eine unerlässliche Voraussetzung. Diese beiden aussenpolitischen Prioritäten – Nachbarstaaten und EU – sind natürlich eng miteinander verknüpft, zumal erstere in Europa eine sehr wichtige Rolle spielen.

Die EU: Unser wichtigster Partner

Insgesamt entfallen zwei Drittel des Aussenhandels der Schweiz auf die EU (55% unserer Exporte, 75 % unserer Importe).

Herr Karrer, Sie sind gestern zum Präsidenten von economiesuisse gewählt worden. Ich gratuliere Ihnen und wünsche Ihnen viel Erfolg! Sie werden sich viel mit Europa befassen, da es sich um einen zentralen Partner unserer Wirtschaft handelt. Der Handel mit der EU generiert an jedem Arbeitstag fast eine Milliarde Franken, und jeder dritte Franken unserer Wertschöpfung wird in den 28 EU-Mitgliedstaaten erwirtschaftet. Europa ist ein Schlüssel zum Erreichen unserer Verfassungsziele: Sicherheit, Wohlfahrt, Unabhängigkeit.

Zuerst zur Sicherheit: Die Europäische Union trägt wesentlich zu Sicherheit, Frieden und Stabilität auf dem Kontinent bei. Die EU ist hier eine Chance für Europa und auch für die Schweiz. Eine der grössten Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses ist seine Friedensleistung – durch die Versöhnung vormaliger Erzfeinde und durch die sukzessive Erweiterung der europäischen Sicherheitsgemeinschaft. Angesichts der heutigen Kriege und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Europas Nachbarschaft lohnt es sich, dies immer wieder in Erinnerung zu rufen. Die Schweiz hat diese Bemühungen stets unterstützt. Es gehört zu ihrer Verantwortung und entspricht ihren Interessen, einen Beitrag an die Sicherheit des Kontinents zu leisten. Deshalb wird sie 2014 auch den Vorsitz der OSZE übernehmen.

Andererseits ist der Bundesrat überzeugt, dass der bilaterale Weg die einzige Möglichkeit ist, gleichzeitig den Wohlstand und die Unabhängigkeit unseres Landes zu sichern.

Wenn wir uns von der EU abschotten und einseitig die Unabhängigkeit betonen, gefährden wir den Wohlstand. Denn der Zugang zum europäischen Binnenmarkt ist ein grundlegender Faktor für unseren wirtschaftlichen Erfolg und damit unseren florierenden Arbeitsmarkt und unseren Wohlstand.

Wenn wir uns wiederum allzu einseitig und bedingungslos auf den Marktzugang fixieren (etwa durch einen Beitritt zur EU oder zum EWR), schwächen wir unnötig die Unabhängigkeit unseres Landes. Das ist weder im Sinne der Mehrheit der Schweizer Bevölkerung noch des Bundesrats.

Der bilaterale Weg ist die beste Art, den Verfassungszielen der Schweiz gerecht zu werden. Dass dieses Instrument interessengerecht ist, hat sich in der Vergangenheit bereits vielfach gezeigt. Es liegt in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dies auch in Zukunft so bleibt.

Damit der bilaterale Weg langfristig tragfähig bleibt, müssen wir ihn jedoch erneuern und weiterentwickeln. Wir sind gut beraten, diese Erneuerung bald an die Hand zu nehmen.

Der bilaterale Weg hat Zukunft

Der bilaterale Weg geht bis auf die 1970er-Jahre zurück. Er hat sich bis heute bewährt, weil er immer wieder angepasst und weiterentwickelt wurde. Die Welt um uns herum steht nicht still. Der europäische Binnenmarkt verändert sich täglich. Die Schweiz kann nicht nur zuschauen. Mit anderen Worten: Einen Status quo in unserem Verhältnis zur EU gibt es nicht. Der Status quo würde heissen, aus einem Zug auszusteigen und zuzuschauen, wie er sich entfernt.

Die Beibehaltung des Status quo würde heissen, den bilateralen Weg nicht mehr erweitern und keine neuen Abkommen mehr abschliessen zu können. Es würde auch bedeuten, dass manche der bestehenden Abkommen nicht à jour gehalten werden können. Längerfristig würde dies auf Kosten von Rechtssicherheit und Marktzugang für die Wirtschaft gehen – und damit auf Kosten der Attraktivität und des Wohlstands der Schweiz.

Der Bundesrat hat Verständnis dafür, dass man sich fragt: «Warum sollen wir den bilateralen Weg gerade jetzt erneuern? Der Schweiz geht es gut, können wir nicht zuwarten?» Für den Bundesrat gibt es zwei Antworten: Einerseits bietet sich uns derzeit eine gute Möglichkeit zur Erneuerung. Andererseits ist es in unserem Interesse, eine solche Erneuerung dann vorzunehmen, wenn es der Schweiz gut geht und die Herausforderungen des Bilateralismus überschaubar und gemeinsam lösbar sind.

Noch vor etwas mehr als einem Jahr bewerteten die Schweiz und die EU ihre Beziehungen diametral anders. EU-Kommissionspräsident Barroso sagte deutlich, der bilaterale Weg sei zu Ende. In der Schweiz waren solche Aussagen ebenfalls zu hören und zu lesen.

Hinter dieser Aussage stand die Botschaft, dass die EU den Sonderfall Schweiz nicht mehr akzeptiere und die Schweiz lieber im EWR sähe. In Brüssel glaubte man damals nicht, dass die Schweiz wirklich bereit ist, den Bilateralismus zu erneuern. Man ging davon aus, dass die Schweiz einzig auf ein weiteres Abkommen aus war – in diesem Fall das Energieabkommen.

Der Bundesrat und die Schweizer Diplomatie haben viel investiert, um das Vertrauen wiederherzustellen – in Brüssel und den Hauptstädten. Die Schweiz hat nicht auf Zeit gespielt, sondern Vorschläge gemacht.

Ende Dezember 2012 erklärte die EU, dass sie offen sei für eine Vertiefung der wichtigen Beziehungen zur Schweiz und dass sie bereit sei, den bilateralen Weg auch in den Bereichen des Binnenmarkts weiterzugehen – vorausgesetzt der bilaterale Weg werde erneuert.

Wir haben in der Folge einen «technischen Dialog» zwischen Bern und Brüssel lanciert. Einen lösungsorientierten Dialog. Dabei gelang es, drei mögliche Optionen als Lösungswege zu identifizieren.

Heute ist das Vertrauen da. Das Klima ist konstruktiv. Am 9. Juli 2013 erklärte die EU, dass sie bereit sei, auf der Grundlage der Option 3 ein Mandat auszuarbeiten, also derjenigen Option, für die sich auch der Bundesrat entschieden hatte. Die EU hätte lieber an der Option 1 gearbeitet, die ein Andocken der Schweiz an die EWR-Institutionen vorsieht. Sie ist nun aber bereit, über eine Lösung zu diskutieren, die der Schweiz stärker entgegenkommt.

Erstmals, seit vor fünf Jahren die institutionellen Fragen auf den Tisch kamen, stehen die Ampeln nun auf grün und sind Verhandlungen überhaupt möglich. Diese Verhandlungen sollen es erlauben, den bilateralen Weg für die nächsten 20 Jahre zu konsolidieren, für eine ganze Generation!

Hätten wir das vor einem Jahr gewollt, wir hätten es nicht tun können. Heute können wir es, wenn wir das wollen. Und da nun tatsächlich die Möglichkeit besteht, so ist es unsere Verantwortung, diese Chance vorausschauend zu packen.
Ja, es gehört zu unserer Verantwortung, hier mit Weitsicht zu entscheiden und zu handeln.

Es ist im Interesse der Schweiz, heute zu verhandeln

Denn es ist im Interesse der Schweiz, heute zu verhandeln. Wir verhandeln besser, solange wir in der Lage sind, den Tisch zu verlassen, als wenn wir mit dem Rücken zur Wand stehen.

Heute hat die Schweiz gewiss ein Interesse daran, neue Marktzugänge zu erschliessen, insbesondere in den Bereichen Strom und Chemikalien (Reach). Eine Einigung in diesen Dossiers wäre für uns von Nutzen und wünschenswert. Sie ist aber nicht matchentscheidend.

Die Schweiz ist somit interessiert, die institutionellen Fragen zu lösen, da dies eine Voraussetzung für neue Marktzugangsabkommen ist. Wir sind aber nicht unter Zugzwang. Wir stehen nicht mit dem Rücken zur Wand. Die Schweiz kann ein Verhandlungsergebnis ablehnen, wenn es enttäuschend ausfällt. Die EU weiss dies – weshalb wir mit einem ausgewogenen Verhandlungsergebnis rechnen dürfen.

Aber wird das auch künftig der Fall sein, wenn wir jetzt passiv bleiben? Sollte die Schweiz in einigen Jahren unbedingt darauf angewiesen sein, ein neues Marktzugangsabkommen zu unterzeichnen, etwa im Bereich Finanzdienstleistungen, so müsste sie dannzumal die institutionellen Fragen unter hohem Druck regeln. Sie stünde mit dem Rücken zur Wand und müsste eine institutionelle Lösung akzeptieren, ob gut oder schlecht. Wir tun besser daran, heute vorausschauend eine gute Lösung auszuhandeln.

Mit einer solchen Lösung können wir auch verhindern, dass unsere bestehenden Abkommen Schritt für Schritt veralten. Der Binnenmarkt wird sich weiterentwickeln, wie dies schon immer der Fall war. Ohne Anpassungen an die neuen Marktregeln besteht die Gefahr, dass die wachsenden Unterschiede der angewandten Regeln (innerhalb der EU und zwischen der Schweiz und der EU) uns den Zugang zum Binnenmarkt allmählich versperren. Der bilaterale Weg führt dann in eine Sackgasse.

Man kann das mit einer alten Informatiksoftware vergleichen, die einst leistungsstark war, aber angesichts fehlender Updates nicht mehr funktionstüchtig ist. Die Schweiz muss darauf bedacht sein, ihre Software für den Marktzugang, d.h. ihre entsprechenden bilateralen Abkommen, immer wieder den neuen Standards anzugleichen.

Eine Lösung der institutionellen Fragen wird auch dazu beitragen, dass sich die Gesamtbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU weiter verbessern. Das wird es uns erleichtern, wichtige Kooperationsdossiers wie dasjenige im Bereich der Forschung zu erneuern. Die Bedeutung dieses Abkommens ist hier in Lausanne, dem Zentrum des «Human Brain Project», besonders evident. Das Abkommen ist aber natürlich für alle unsere Universitäten und Forschungszentren sehr wichtig.

Schliesslich spricht auch der Umstand, dass derzeit gleich mehrere Dossiers auf dem Tisch liegen, für Verhandlungen mit der EU. Dadurch bietet sich die Gelegenheit, parallel zu diskutieren und darauf zu achten, dass unsere Interessen insgesamt ausgewogen berücksichtigt werden. Der Bundesrat hat deshalb eine mittelfristige Gesamtstrategie erarbeitet, die zahlreiche Dossiers einbezieht.

Sie sehen also, die Schweiz hat ein Interesse daran, heute zu verhandeln, wo sie wirtschaftlich gut dasteht. Gerade in guten Zeiten muss man Probleme antizipieren. Dies gilt nicht nur für die Sozial- oder die Energiepolitik, sondern auch für die Europapolitik.

Institutionelle Fragen

Worum handelt es sich bei diesen institutionellen Fragen? Konkret geht es um

1. die Modalitäten der Übernahme von EU-Recht in denjenigen Bereichen, die von bilateralen Abkommen abgedeckt sind;
2. die Überwachung der Anwendung dieser Abkommen
3. die Auslegung des EU-Rechts in den Abkommen
4. und die Streitbeilegung

Schliesslich stellt sich auch die damit zusammenhängende Frage des Geltungsbereichs dieser Bestimmungen.

Der Bundesrat hat die drei Optionen, die aus dem technischen Dialog hervorgingen, sorgfältig analysiert. Er hat sich dazu viel Zeit genommen. Nach einer eingehenden Analyse ist er zur Überzeugung gelangt, dass die Schweiz mit der Option 3, die eine neue Aufgabe für den EU-Gerichtshof vorsieht, ihre Interessen eindeutig am besten wahrnehmen kann.

Der Bundesrat ist zudem zur Überzeugung gelangt, dass ein Festhalten am Status quo nicht im Interesse des Landes läge und es deshalb Zeit zum Handeln ist. Am 26. Juni entschied der Bundesrat, einen Entwurf für ein Verhandlungsmandat auszuarbeiten. Er verabschiedete den Entwurf am 21. August 2013 und schickte ihn in die Konsultation bei den parlamentarischen Kommissionen und den Kantonen, wie dies das Gesetz vorsieht. Der Bundesrat wird aber auch die Sozialpartner und die Wirtschaftsverbände informieren und mit ihnen darüber diskutieren.

Die gewählte Option ist die beste für die Schweiz

Welche Gründe sprechen für die vom Bundesrat gewählte Option?

• Es wird keine neuen Institutionen geben. Die Schweiz unterstellt sich keiner allgemeinen Überwachungsbehörde (in den schweizerischen Konsultationen 2012 war dieses Element ja stark kritisiert worden). Eine Überwachungsbehörde wie diejenige des EWR wäre im Übrigen mit beträchtlichem finanziellem und bürokratischem Aufwand verbunden: Zahlreiche europäische Beamte würden laufend überprüfen, wie die Schweiz, ihre Kantone und Gemeinden die bilateralen Verträge umsetzen. Die gewählte Option kommt ohne diese Komponente aus. Die Aufsicht bleibt Sache der Behörden der beiden Parteien.

• Die institutionelle Ordnung der Schweiz bleibt unverändert, insbesondere ist das Referendumsrecht garantiert. Es wird keinerlei Automatismen bei der Übernahme des Rechts geben, sondern diese erfolgt dynamisch.

• Streitigkeiten werden weiterhin politisch beigelegt: Die Schweiz unterstellt sich keinem supranationalen Gericht. Es gibt kein Vertragsverletzungsverfahren und keine ausländischen Richter, die die Schweiz verurteilen können, das ist ein gewichtiger Vorteil.

• Die Schweiz ist zwar bereit, Auslegungsfragen zum EU-Recht, das die Schweiz übernommen hat oder übernehmen wird, dem Europäischen Gerichtshof zu unterbreiten. Die Streitschlichtung verbleibt aber beim Gemischten Ausschuss, der unter Berücksichtigung der Auslegung durch den EuGH eine einvernehmliche Lösung finden muss. Bei den anderen Optionen könnte das supranationale Gericht die Schweiz hingegen direkt verpflichten.

• Die Schweiz behält damit bei Option 3 auch die Handlungsfreiheit, einer Auslegung des EuGH nicht zu folgen. Sie würde in einem solchen Fall zwar Ausgleichsmassnahmen der EU riskieren, könnte diesbezüglich aber jeweils souverän und eigenständig eine Güterabwägung vornehmen.

• In Übrigen – und das ist ein Kernpunkt – bietet die gewählte Option am meisten Rechtssicherheit, da die Europäische Union eine Entscheidung ihres eigenen Gerichtshofs nicht mehr hinterfragen könnte. Bei dem in den anderen Optionen vorgesehenen supranationalen Gericht ist das nicht zwingend der Fall – was aus Sicht des Bundesrats nicht tragbar ist.

• Hinzu kommt, dass bei dieser Option nicht auch noch Verhandlungen mit den EWR-Staaten erforderlich sind – die keinesfalls einfach wären.

Für den Bundesrat ist damit klar: Mit der von ihm gewählten Lösung lassen sich die Ziele von Wohlstand und Unabhängigkeit am besten miteinander in Einklang bringen.

Ein Rahmen und rote Linien

Der Bundesrat hat folglich die beste Option für die Schweiz gewählt. Er hat zudem einen Verhandlungsrahmen mit Zielen und roten Linien definiert. Ein institutionelles Abkommen wird er nicht um jeden Preis abschliessen.

Eine Anwendung der institutionellen Lösung auch auf bestehende Marktzugangsabkommen wird die Rechtssicherheit verbessern. Zudem lässt sich damit die langfristige Tragfähigkeit des bilateralen Wegs sichern. Der Bundesrat hat dabei unmissverständlich festgehalten, dass die Ziele, der Anwendungsbereich und die Tragweite der Abkommen nicht modifiziert werden dürfen.

Insbesondere wird es darum gehen, die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit zu erhalten und die Übernahme der Richtlinie zur Unionsbürgerschaft auszuschliessen.

Das Ergebnis der Verhandlungen wird im Kontext der Gesamtstrategie zu bewerten sein. Der Bundesrat wird das Resultat nur dann dem Parlament unterbreiten, wenn es ausgewogen ist und den Interessen der Schweiz entspricht.
Der Entscheid des Parlaments wird dem fakultativen Referendum unterstellt sein. Das Schweiz Volk wird somit – wie immer! – das letzte Wort haben können.

Bewahren wir unsere Stärken

Meine Damen und Herren

Trotz ihrer aktuell schwierigen Lage ist die EU nach wie vor unser weitaus wichtigster Handelspartner. Wir sollten nicht die ganze Aufmerksamkeit auf sie alleine konzentrieren – die Schweiz ist schliesslich auf vielen anderen Märkten präsent. Wir sollten aber auch nicht aus den Augen verlieren, dass wir ein Interesse an einem privilegierten Zugang zum Binnenmarkt haben.

In der kurzen Zeit seit der Eröffnung der heutigen Tagung haben die Schweiz und die Europäische Union Handel im Umfang von fast 350 Millionen Franken betrieben. Ein gesicherter Zugang der Schweiz zum EU-Markt, der fast 1 Milliarde Franken pro Arbeitstag repräsentiert, ist für unsere Wohlfahrt zentral und auch für die europäischen Partner wichtig. Es ist ein Beitrag an die wirtschaftliche und soziale Stabilität in Europa.

Eine verantwortungsbewusste Offenheit der Schweiz gegenüber ihrem wichtigsten Handelspartner gehört zu den Erfolgsfaktoren der Schweiz. Der Bundesrat will diesen Trumpf bewahren. Eine Erneuerung des bilateralen Wegs ist hierzu unerlässlich. Das wird uns erlauben, den bilateralen Weg auf 20 Jahre hinaus zu sichern – und damit unseren Wohlstand und unsere Unabhängigkeit.

Diese Erneuerung ist jetzt möglich. Es ist jetzt eine Frage des Willens. Der Bundesrat hat diesen Willen. Er ist überzeugt, dass das seine Verantwortung ist. Unsere Verantwortung, für die künftige Generation.

«Weitsicht und Verantwortung:Wir erneuern den bilateralen Weg, um ihn für eine Generation zu sichern» (de)