Helvetia Latina und Alliance Française de Berne

Bern, 04.12.2012 - Ansprache von Bundesrat Ueli Maurer, Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS, gehalten am 4. Dezember 2012 in Bern.

Es gilt das gesprochene Wort!

Ich beginne mit einer Episode aus einem Märchen, das mir sehr gut gefällt. Vielleicht kennen Sie „Der kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry...

Dass der Autor Militärpilot war, spielt hier keine Rolle ... Ich habe keine versteckte Botschaft ... Ich spreche heute Abend nicht über Kampflugzeuge!

„Der kleine Prinz" beginnt mit einem Missverständnis. Ein kleines Kind zeigt den Erwachsenen eine Zeichnung. Dann fragt es die „grossen Leute": „Macht Euch das Bild Angst?" Aber die Erwachsenen fragen: „Warum sollen wir vor einem Hut Angst haben?"

Das Kind hatte aber eine sehr grosse Schlange gezeichnet. Und diese Schlange hatte einen Elefanten verschluckt. Die Konturen sahen dann aus wie ein Hut.

Der eine zeichnet eine Schlange und einen Elephanten. Andere sehen nur einen Hut.

Das passiert uns auch im Alltag immer wieder. Man spricht nicht vom selben. Man missversteht sich. Das kann an der Sprache liegen. Das kann an der unterschiedlichen Kultur liegen. Das kann an der unterschiedlichen Meinung liegen.

Verstehen als Herausforderung
Verstehen ist immer eine Herausforderung. Für jeden von uns.

Sie von der Helvetia Latina fördern das Verstehen zwischen Sprachen und Kulturen in der Bundesverwaltung. Sie von der Alliance Française de Berne fördern das Verständnis für die französische Sprache und Kultur in der Region Bern. Sie bauen damit Brücken des Verstehens. Innerhalb unseres Landes. Und auch zwischen Ländern.

Für diese wichtige Tätigkeit möchte ich mich bei Ihnen bedanken!

Das Verstehen ist für uns als Land eine permanente Herausforderung. Weil wir ein unglaublich vielseitiges Land sind, ist das Verstehen so wichtig. Und nur weil das Verstehen möglich ist, können wir ein so vielseitiges Land sein. Die Schweiz hat das Verstehen über Jahrhunderte gelernt. Es gibt die Schweiz nur, weil sie Lösungen gefunden hat für das sprachliche Verstehen, das kulturelle Verstehen und das politische Verstehen.

Dass verschiedene Sprachgruppen friedlich zusammenleben ist nicht selbstverständlich. Auch in Westeuropa nicht. Auch hier leben Sprachgruppen oft im Konflikt. Denken wir an Belgien. An das Baskenland. An Korsika. An Südtirol.

In Barcelona haben diesen Sommer Hundertausende für ein autonomes Katalonien demonstriert. Und die Schotten wollen 2014 über ihre Unabhängigkeit abstimmen.

Es ist nicht selbstverständlich, dass die verschiedenen Sprachkulturen der Schweiz sich immer auf einen gemeinsamen Weg einigen können. Dahinter steht eine Leistung. Darauf dürfen wir Schweizer stolz sein. Aber wir dürfen nicht zurücklehnen. Das Verstehen ist eine permanente Aufgabe und eine permanente Arbeit.

Auch wir sind nicht immer gleicher Meinung. Die Rätoromanen, die Tessiner, die Romands und die Deutschschweizer haben verschiedene Mentalitäten. Man spricht vom Röstigraben und vom Polentagraben.

Für mich ist beruhigend, dass zur Rösti die St.Galler Bratwurst ebenso gut passt wie das Zürigeschnetzelte oder die Waadtländer Saucisson.

Übrigens: Wer auf Google Rösti eingibt, der findet Röstirezepte aus der ganzen Schweiz, auch aus der Romandie und dem Tessin. So tief kann der Graben also nicht sein!

Die staatspolitische Leistung der Schweiz
Aber die Schweiz wird nicht allein vom Bauchgefühl zusammengehalten. Wir haben gemeinsame Werte. Werte, die noch viel tiefer reichen als alle unsere schönen und interessanten regionalen Unterschiede. Salsiz oder Saucisson ist einerlei, wenn es um Freiheit geht.

Unser ganzes politisches System ist auf das Verstehen ausgerichtet. Wir haben den Föderalismus. Wir haben die direkte Demokratie. Wir haben das Milizprinzip.

Das ist das Rezept für das gegenseitige Verstehen. Und das ist das Erfolgsrezept für die Schweiz. Darauf möchte ich näher eingehen:

Föderalismus:
Der Föderalismus hilft dem Verstehen zwischen den Sprachen und Kulturen. Der Föderalismus garantiert, dass die Entscheide nahe bei den Bürgern gefällt werden. Es gibt keine Bevormundung durch eine ferne Zentrale. So werden die vielen regionalen Besonderheiten auch in der Politik berücksichtigt. Für ein Land mit verschiedenen Sprachen ist das ganz wichtig. Denn Föderalismus verhindert die Dominanz einer Mehrheit. Passen wir darum auf: Immer mehr Kompetenzen gehen von den Kantonen an den Bund! Das ist eine gefährliche Entwicklung, weil damit die Regionen an Gewicht verlieren. Zentralismus führt aber nicht zu einem besseren Verstehen, sondern nur zu Gleichschaltung. Die lateinische Schweiz sollte sich ganz besonders gegen diese Tendenz wehren!

Direkte Demokratie:
Die direkte Demokratie hilft dem Verstehen zwischen Volk und Regierung. Wenn die classe politique abhebt, kann das Volk mit dem Referendum auf die Bremse stehen. Wenn die Politik Probleme ignoriert, kann das Volk mit der Initiative das Problem selbst anpacken. Darum ist wichtig, das Volksentscheide auch wirklich umgesetzt werden. Sonst ist auch das gegenseitige Verständnis gefährdet. Und das ist gefährlich für unser Land.

Milizprinzip:
Das Milizprinzip hilft dem Verstehen zwischen Bürgern und Staat. Unser Staat ist uns nicht fremd. Denn er ist nicht einfach eine mächtige Verwaltung, die uns befiehlt - auch wenn die Verwaltung oft zu mächtig ist, wie man auch als Bundesrat immer wieder feststellt ...

Der Staat sind wir alle zusammen. Wir übernehmen im Milizprinzip staatliche Funktionen. In den Laiengerichten, in der Schul- oder Kirchenpflege. In der Politik in den Gemeinden, in den Kantonen und beim Bund. In der Armee.

Die Armee spielt eine wichtige Rolle für den nationalen Zusammenhalt. In der Armee haben ganz verschiedene Leute die selbe Aufgabe. Nur gemeinsam kann man sie lösen. Man ist darum zur Zusammenarbeit gezwungen. Daraus entsteht eine gemeinsame Erfahrung über alle Regionen hinweg. Auch das fördert das Verstehen in unserem Land.

Neutralität und gute Dienste:
So wie wir innenpolitisch das Verstehen pflegen, pflegen wir es auch aussenpolitisch. Wir haben auch da bewährte Prinzipien. Es sind die Neutralität und die guten Dienste. Seit der Schlacht von Marignano 1515 mischen wir uns nicht mehr in fremde Konflikte. Und seit Henry Dunant nach der Schlacht von Solferino 1859 das Rote Kreuz gründete, lindert die Schweiz Leid in den Krisen überall auf der Welt.

In den Krisenregionen braucht es nicht auch noch Schweizer Soldaten. Es braucht jemanden, der vermitteln und das Verstehen fördern kann. Das tut die Schweiz. Denn das können wir. Da haben wir lange Erfahrung aus unserer Geschichte.

Wir sind ein kleines Land. Wir wissen, dass es nicht gut kommt, wenn wir Grossmacht spielen. Darum setzen wir auch international auf Verstehen, nicht auf Gewalt oder Macht. Wir sind das Land der Friedenskonferenzen. Und Genf ist die Stadt der internationalen Organisationen. Man kann sagen: Die Schweiz hilft als Dolmetscher dort, wo das Verstehen fehlt. Damit die Waffen schweigen und man wieder miteinander sprechen kann.

Man hat uns schon vorgeworfen, wir würden uns isolieren. Das ist falsch. Wir isolieren uns nicht. Wir bleiben neutral. Weil wir wissen, dass es irgendwann wieder jemanden braucht, der das Verstehen zwischen den Konfliktparteien möglich macht.

Fazit
Solange wir uns um das Verstehen bemühen, bin ich optimistisch für die Schweiz. Dazu gehört, dass wir unseren Staatsprinzipien Sorge tragen: Dem Föderalismus. Der direkten Demokratie. Dem Milizprinzip. Und der Neutralität. Das sind unsere bewährten Mittel, uns zu verstehen und immer wieder den Ausgleich zu suchen.

So finden wir miteinander in der Schweiz immer wieder eine Lösung. Manchmal braucht es gar nicht viel dazu. Manchmal reicht etwas Phantasie - und schon versteht man sich. Dazu nochmals eine kurze Episode aus dem „kleinen Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry...

Der kleine Prinz bittet den Erzähler, ihm ein Schaf zu zeichnen. Er ist dann aber mit keiner der Zeichnungen zufrieden. Aus irgend einem Grund treffen sie einfach seine Vorstellung nicht. So zeichnet der Erzähler schliesslich eine Kiste. Dann sagt er zum kleinen Prinz: „Das Schaf ist da drin". Der kleine Prinz ist zufrieden. Denn in der Kiste kann er das Schaf sowieso besser nach Hause nehmen.


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