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RedeVeröffentlicht am 16. Mai 2025

Wissenschaftliche Tagung der Schweizerischen Vereinigung für Verwaltungsorganisationsrecht (SVVOR) 2025

Bern, 16.05.2025 — Digitale Transformation der öffentlichen Verwaltung - Rede von Bundeskanzler Viktor Rossi

Keynote: Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung im föderalen System der Schweiz

Monsieur le Conseiller national, cher Gerhard

Chères et chers Collègues des autorités fédérales, cantonales et communales,

Geschätzte Kolleginnen und Kollegen von Bundes-, Kantons- und Gemeindebehörden

Mesdames et Messieurs les Experts en droit,

Geschätzte Rechtsspezialistinnen und -spezialisten

Mesdames et Messieurs les Représentants du corps professoral et des équipes de recherche de diverses universités suisses,

Geschätzte Lehrende und Forschende von verschiedenen Schweizer Universitäten

Mesdames et Messieurs,

Meine Damen und Herren

Stellen Sie sich vor, es gibt bei Ihrer Gemeindeverwaltung einen Schalter und niemand geht hin. Sie ziehen in eine neue Gemeinde und erledigen den gesamten administrativen Aufwand online in wenigen Minuten – ohne Gang zum Einwohneramt und ohne Papierkram. Oder Sie wollen heiraten und ihren Namen ändern. Stellen Sie sich vor Sie könnten das mit einem einzigen elektronischen Auftrag in die Wege leiten – und alle ihre Ausweise würden Ihnen kurze Zeit später mit der Post nach Hause geliefert oder als digitale Dokumente aufs Handy geschickt. Oder – noch etwas gewagter – Ihre Steuererklärung würde Ihnen bereits fixfertig ausgefüllt und Sie müssten nur noch kontrollieren, ob alles stimmt, und dann auf «Senden» klicken.

Oder – wenn Sie ein Unternehmen sind – Sie müssten die Angaben zu ihrer Firma nur einmal pro Jahr einer bestimmten Behörde melden und diese würde die Daten dann mit den anderen zuständigen Verwaltungsstellen teilen, ohne dass Sie nochmals behelligt würden. Zum Beispiel die Angaben zur Mehrwertsteuer, zu Ihren Investitionskosten, den Ausgaben für Forschung und Entwicklung oder zur Lohnstruktur Ihrer Angestellten. Wie viel Zeit würden Sie da sparen!

Natürlich, was ich hier bildhaft und – selbstverständlich – etwas überspitzt in den Raum stelle, ist in weiten Teilen noch eine Zukunftsvision und erst ansatzweise realisiert. Auch die datenschutzrechtlichen Aspekte blende ich «grosszügig» aus. Trotzdem: Ich spreche hier von einer Verwaltung, die digital, effizient sowie bürger- und bürgerinnen- und unternehmensnah funktioniert. Von einer Verwaltung, die über alle drei föderalen Ebenen hinweg den «Kunden», also den Menschen oder das Unternehmen, ins Zentrum stellt und aus deren Perspektive denkt, nicht andersherum. Ein wunderbares Beispiel für ein gelungenes Denken aus Kundenperspektive ist meines Erachtens die Website des Statistischen Amtes des Kantons Zürich[1]. Wenn Sie hier die Homepage abrufen, werden Sie sehen, dass die User als Erstes auf eine Auswahl von Themen stossen, die aus ihrer Perspektive gedacht am Wichtigsten sind und sie auf direktem Weg zur Befriedigung ihres Informationsbedürfnisses hinleiten. So soll es sein.

Denn diese Vision eines Staates, in dem physische Schalter nicht mehr zwingend aufgesucht werden müssen, ist kein Ding der Unmöglichkeit mehr. Im Gegenteil: Dank den Anstrengungen, die Gemeinden, Kantone und der Bund in den vergangenen Jahren unternommen haben, ist das Angebot an digitalen Behördenleistungen bereits einen grossen Schritt vorangekommen. Auch haben gesetzliche Neuerungen wie etwa das Digitalgesetz EMBAG – es trat Anfang 2024 in Kraft – der digitalen Transformation der öffentlichen Verwaltung zusätzlichen Schub verliehen. Als Resultat davon haben wir heute zum Beispiel mit AGOV ein einheitliches Behörden-Login, das auch zur Authentifizierung für die staatliche E-ID dienen wird. Ich komme später noch näher darauf zu sprechen.

Was steht uns also noch im Weg, um die Vision voll und ganz Wirklichkeit werden zu lassen?

Der Schweizer Föderalismus ist eine Errungenschaft, die unser Land stabil und widerstandsfähig gemacht hat. Eine Errungenschaft, die ihre Stärke gerade eben aus der Vielfalt und der gegenseitigen Ergänzung zieht.

In der digitalen Transformation sind unsere föderalen Strukturen jedoch oftmals auch eine Herausforderung: Unterschiedliche Systeme, fehlende Standards und Schnittstellen und eine mangelnde Verbindlichkeit können die Entwicklung hin zu mehr Interoperabilität – also Austausch zwischen den verschiedenen «Datensilos» – verlangsamen. Zum Stolperstein werden können manchmal auch die unterschiedlichen Formate, mit denen Daten übermittet werden, wie wir bei den letzten Eidgenössichen Wahlen gesehen haben[2]. Aber ist unser bestehendes System wirklich nur ein Hindernis? Oder ist es gerade der Föderalismus, der uns auch ermöglicht, innovative Lösungen schneller zu testen und schrittweise zu verbessern?

La structure décentralisée et fédéraliste de la Suisse nous permet en effet d’expérimenter de nouvelles solutions numériques à petite échselle avant de les déployer dans toute la Suisse. Les cantons et les communes peuvent faire office de laboratoires où les innovations sont développées, testées et optimisées.

Pour revenir à la conception de l’État que j’évoquais tout à l’heure, je pense notamment au canton de Fribourg. Le projet DIGI-FR[3], fruit de la collaboration entre toutes les communes fribourgeoises et le Canton, a abouti à la création d’un guichet en ligne qui permet d’effectuer des démarches administratives aussi bien communales que cantonales. De quelles démarches s’agit-il ? Des paiements en ligne, de la vérification de l’authenticité de documents ou encore de la fourniture de pièces justificatives. Toutes ces démarches sont rendues possibles par le déploiement d’interfaces standardisées. Cette solution présente un avantage de taille : les communes et le Canton sont représentés à tous les échelons décisionnels, et les utilisateurs sont au centre des préoccupations.

Ein weiteres gutes Beispiel für kantonale Pionierarbeit ist ein Pilotprojekt im Rahmen der staatlichen E-ID, das letztes Jahr im Kanton Appenzell Ausserrhoden realisiert wurde.[4] Dank diesem können junge Menschen seit Frühling 2024 ihren Lernfahrausweis digital im Wallet auf dem Smartphone erhalten. Auch hat das Pilotprojekt die Funktionsweise der zukünftigen E-ID getestet und wertvolle Ergebnisse geliefert. Selbstverständlich wird die staatliche E-ID aber erst noch die Referendungsabstimmung bestehen müssen – sie wird voraussichtlich diesen Herbst über die Bühne gehen.

Auch beim Bund gibt es abgesehen davon zahlreiche Beispiele für gelungene digitale Innovation. Ich nenne nur ein kleines aber feines, bei dem sehr schnell und innovativ Digitalisierung im Sinne der Bevölkerung vorangetrieben wurde: So hat etwa die Eidgenössische Stiftungsaufsicht ESA den Chatbot Esi entwickelt, der auf dem Large Language Modell von ChatGPT 3.5 basiert.[5] Hier können Informationen rund um Stiftungen abgefragt werden, und zwar während 24 Stunden an 7 Tagen die Woche. Von menschlichen Bundesangestellten könnten wir solch ein Arbeitspensum wohl nicht verlangen, und auch die Gewerkschaften hätten sicher ein Wort mitzureden.

Was Esi alles weiss, das fragen Sie sie am besten gleich selbst. Oder den Referenten von der ESA, der das Projekt im späteren Verlauf dieser Tagung noch näher vorstellen wird.

Erlauben Sie mir aber noch, an dieser Stelle auf ein letztes, besonders gelungenes Beispiel für eine digitale Innovation zurückzukommen, die über alle föderalen Ebenen hinweg funktioniert – nämlich auf das eingangs erwähnte neue Behörden-Login AGOV. AGOV ermöglicht es den Bürgerinnen und Bürgern, sich ohne Benutzernamen und Passwort bei Online-Dienstleistungen des Bundes sowie bei kantonalen und kommunalen Behörden anzumelden, etwa für die elektronische Steuererklärung. AGOV lebt den Grundsatz «einmal entwickelt, mehrfach genutzt». Es steht nicht nur Bundes- und kantonalen Behörden, sondern auch kommunalen Behörden zur Verfügung und schafft damit eine schweizweite Vertrauensinfrastruktur. Genau diese Art von standardisierter, interoperabler Lösung brauchen wir, um die digitale Transformation in unserem Land voranzutreiben.

AGOV zeigt aber auch, dass wir noch nicht dort stehen, wo wir stehen wollen. Erst mit der E-ID wird man dann seine Identität für die Registrierung sehr einfach digital beweisen weisen können. Heute ist die Registrierung noch mühsam, weil man auf physische Prozesse zurückgreifen muss, um die eigene Identität zu beweisen.

Das Bundesgesetz über den Einsatz elektronischer Mittel zur Erfüllung von Behördenaufgaben – kurz EMBAG – spielt dabei wie bereits erwähnt eine wichtige Rolle. Um rascher voranzukommen, können mit dem EMBAG schon früh Pilotversuche gemacht werden. So kann man technologischen Vorsprung nutzen. Das Gesetz ist allerdings nur für die Bundesverwaltung verbindlich; Standards, Schnittstellen und offene Systeme sind jedoch über die Bundesverwaltung hinaus wichtig. Wir müssen sie deshalb unbedingt fördern, sodass digitale Angebote schweizweit von Anfang an interoperabel gestaltet werden. Wir müssen gemeinsam Lösungen entwickeln und darauf hinarbeiten, dass diese Lösungen auch mit anderen Lösungen kompatibel sind. Und die Rahmenbedingungen müssen wir so gestalten, dass Bund, Kantone und Gemeinden voneinander profitieren und bestehende Lösungen weiterentwickeln, anstatt sie jedes Mal von Grund auf neu zu erfinden.

Die Digitale Verwaltung Schweiz, die Zusammenarbeitsorganisation zur strategischen Steuerung und Koordination der Digitalisiserungsaktivitäten von Bund, Kantonen und Gemeinden (seit 1.1.2022 operativ tätig) zeigt gerade am Beispiel von AGOV, für das sie Auftraggeberin ist, dass Fortschritt möglich ist, wenn alle Beteiligten gemeinsam am selben Strang ziehen. Seit die Digitale Verwaltung Schweiz anfang 2022 ihren operativen Betrieb aufgenommen hat, schafft sie die Grundlagen für die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung in der Schweiz, fördert dringend benötigte Basisdienste und Infrastrukturen. Damit dieser Fortschritt nachhaltig ist, braucht es aber Verbindlichkeit. Standards geben den Weg vor – vergleichbar mit der Spurbreite einer Eisenbahn, die sicherstellt, dass Züge nahtlos von einem Netz ins andere übergehen.

Was für ein Staat wollen wir also sein? Einer mit verschiedenen Spurbreiten, in dem die Züge an jeder Kantonsgrenze Halt machen und auf die neue Spur gewechselt werden müssen? Oder einer, in dem die Züge mit 300 Stundenkilometern von West nach Ost und von Nord nach Süd nur so hin und her fliegen, und das Ticket dafür selbstverständlich am E-Schalter gelöst wird? Es liegt an uns, die Weichen zu stellen. Zum Beispiel mit einem weiterentwickelten Digitalgesetz EMBAG, das verbindliche Standards für einen digitalisierten Föderalismus der Zukunft – nennen wir ihn Föderalismus 2.0 – festlegt.

Car, ne l’oublions pas, l’administration numérique n’est pas une fin en soi. Elle a pour but de faciliter la vie des personnes et des entreprises de ce pays. Des étapes importantes ont certes été franchies, mais il reste encore beaucoup à faire pour parvenir à un État sans guichets physiques ou, du moins, à un État dont les habitants ne seront plus obligés de se rendre à un guichet. Pour atteindre cet objectif, nous devons avancer avec pragmatisme et accomplir ce qui peut être accompli. Progresser pas à pas et ouvrir la voie étape par étape.

Unser Föderalismus ist dabei kein Hindernis an sich. Im Gegenteil: Er ist eine Chance. Er ermöglicht Innovationen, wenn wir ihn klug nutzen. Ich bin überzeugt, dass gemeinsame Standards sogar die Basis für einen gesunden Föderalismus sind. Standards ermöglichen sowohl Individualität als auch Interoperabilität. Ein Föderalismus 2.0, der Digitalisierung als Priorität versteht und die Zusammenarbeit auf allen Verwaltungs- und interkantonalen Ebenen stärkt, kann ein grosser Gewinn sein für die Schweiz. M.E. gibt es keine Alternative dazu: Handeln wir gemeinsam – für das Gemeinwohl.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Fussnoten:

[1] Siehe Website: https://www.zh.ch/de/direktion-der-justiz-und-des-innern/statistisches-amt.html

[2] Diesbezügliche Medienmitteilung des Bundesamt für Statistik vom 25.10.2023: https://www.bfs.admin.ch/asset/de/29025149

[3] Voir: https://www.commune-suisse.ch/article/une-collaboration-etroite-entre-communes-et-canton

[4] Siehe: https://www.eid.admin.ch/de/pilotprojekt-zur-e-id-elektronischer-lernfahrausweis-im-kanton-appenzell-ausserrhoden

[5] Siehe: https://fragesi.ch/