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RedeVeröffentlicht am 23. Oktober 2025

Pfeffinger Forum 2025

Pfeffingen, 23.10.2025 — Rede von Bundesrat Beat Jans

Es gilt das gesprochene Wort.

Geschätzter Herr Regierungspräsident
Herr Landratspräsident, Herr Gemeindepräsident
Sehr geehrte Damen und Herren

Schon bald ist Weihnachtszeit. Dann kommt im Fernsehen wieder «Kevin – Allein zu Haus»: Der 8-Jährige Kevin verbarrikadiert sich in seinem Daheim und verteidigt es im Alleingang gegen üble Ganoven. Ein Schelm, wer da auch nur ein bisschen schweizerisches Selbstverständnis erkennt.

Ich freue mich sehr, heute hier zu sein! Aber ich stehe auch etwas unter Druck: «Beat Jans wird beim Pfeffinger Forum die Position des Bundes zum Thema ‹Offenheit oder Abschottung› darlegen». Das erklärt, warum der Saal so gut gefüllt ist. Ich muss die Erwartungen ein bisschen dämpfen: Dazu gibt es beim Bund unterschiedliche Meinungen, das merken Sie dann bei der Podiumsdiskussion. Auch eine gesamtbundesrätliche Position gibt es nicht. Offenheit oder Abschottung? Welche Antwort Sie auf diese Frage Sie bekommen, hängt davon ab, wen Sie fragen. Und was sie oder er unter Offenheit versteht: Offene Grenzen? Offene Märkte? Offene Menschen?

Aber Sie fragen ja mich. Darum will ich Ihnen heute sagen, was für mich Offenheit ist. Ich will Ihnen zeigen, warum die Schweiz in meinen Augen immer schon ein offenes Land war, ein offenes Land ist und gut daran tut, ein offenes Land zu bleiben. Mit Offenheit meine ich: Offenheit gegenüber Zuwanderung, aber auch Offenheit, mit anderen zusammenzuarbeiten.

Werfen wir zuerst einen Blick zurück, zu den alten Eidgenossen: 500 Jahre lang behaupteten sich unsere Vorfahren mitten in einem kriegerischen Europa mit rivalisierenden Mächten. Konflikte wurden damals regelmässig gewaltsam ausgetragen: Franzosen gegen Habsburger, Katholiken gegen Protestanten, eine Dynastie gegen die andere. Wie schafften die Eidgenossen das? Gerne wird das Bild des heldenhaften Alleingangs gezeichnet, aber dieses Bild ist falsch. Allianzen schmieden, den eigenen Vorteil im Auge haben, verhandeln, zusammenarbeiten – in dem hatten die Eidgenossen dank ihrem losen Bund Übung. Und das spielten sie gegen aussen aus. Sie verhandelten geschickt, kollaborierten und paktierten mit den mächtigen Nachbarn und sicherten so ihre Handlungsfähigkeit. Unabhängig waren die Eidgenossen lange nicht. Während Jahrhunderten gehörten sie zum Heiligen Römischen Reich und fuhren damit gut. Die Geschichte der Eidgenossenschaft handelt nicht von Abschottung und Alleingang, im Gegenteil. Sie handelt von Vernetzung und Offenheit.

In der jüngeren Vergangenheit hat schliesslich die Migration die Schweiz entscheidend geprägt: Anfang des letzten Jahrhunderts war die Schweiz ein Auswanderungsland. Rund eine halbe Million Schweizerinnen und Schweizer verliessen damals ihre Heimat und suchten ihr Glück in Übersee. Handkehrum flüchteten Menschen in die Schweiz. Zuerst vor politischen Wirren, später vor der Armut. Den wachsenden Wohlstand haben sie mit Unternehmergeist und Fleiss massgeblich mitgeschaffen. So ist die Schweiz ein Einwanderungsland geworden. Und so sind fremd klingende Namen zu klingenden Namen geworden, die unser Land bereichert und mitgeprägt haben:

Erasmus, Einstein, Hesse, Knie, Shaqiri sind nur einige. Hugenotten, Italiener, Portugiesen, Menschen aus dem Balkan und von anderswo. Sie haben Firmen aufgebaut, Tunnel in die Alpen gesprengt, unsere Küche bereichert, die Schweiz zu ihrer Heimat und vielfältiger gemacht. Auch sie halten die Schweiz am Laufen, gestern und heute.

Vielfalt und eine unglaubliche Fähigkeit zur Integration liegen in unserer DNA. Wir sind eine Willensnation: Wer dazugehören und seinen Beitrag leisten will, ist ein Teil davon. Auch das ist Offenheit.

Diese Offenheit – gegenüber internationaler Zusammenarbeit bei den alten Eidgenossen und gegenüber Fremden – hat mehrere Gründe, aber einer liegt auf der Hand: Die Schweiz ist offen, weil sie mittendrin ist. Sie kann gar nicht anders.

41 grenzüberschreitende Stromleitungen und 400 Strassen- und 45 Schienenübergänge verbinden uns mit Europa. 12 Millionen Züge passieren die Grenze pro Jahr und über 2 Millionen Menschen überqueren sie jeden Tag. Fast 390’000 Arbeitskräfte pendeln aus der EU zu uns. Plus über eine Viertelmillion Entsandte, die ihre Arbeit machen und wieder gehen. Und die EU ist und bleibt mit Abstand unsere wichtigste Kundin. Auch für unsere KMU. Auf die EU entfallen 60 Prozent unseres Handelsvolumens – 70 Prozent unserer Importe und 50 Prozent unserer Exporte. Niemand – kein EU-Land – profitiert so stark vom europäischen Binnenmarkt wie wir. Die Schweiz ist kein Einfamilienhaus irgendwo ab vom Schuss, sondern eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus.

Bezogen auf die Zuwanderung sagen Sie jetzt vielleicht: Wir bestimmen, wer in unsere Wohnung reinkommt! Beim Asylwesen ist das nicht ganz so einfach. Eben weil wir mittendrin liegen und weil wir wie die anderen europäischen Länder die Menschenrechte achten. Asylsuchende machen zusammen mit den Flüchtlingen aus der Ukraine gerade einmal 12 Prozent der Zuwanderung aus. Der Anteil Geflüchteter an der Gesamtbevölkerung liegt nur bei 2,5 Prozent. Ist das viel vor dem Hintergrund, dass heute weltweit mehr auf der Flucht sind denn je? Ist das viel vor dem Hintergrund, dass die Flüchtlingsquote in der Schweiz ungefähr im europäischen Durchschnitt liegt? Menschen, die Schutz brauchen, Schutz zu geben, gehört zu unserer humanitären Tradition.

Bei der Zuwanderung über die Personenfreizügigkeit ist es hingegen recht einfach: Wir wollen, dass die Schweiz als Standort attraktiv ist. Das zieht Unternehmen an. Woher nehmen diese Unternehmen ihre Fachkräfte? Wer kocht im Restaurant? Wer putzt Ihre Wohnung? Ohne die Arbeitskräfte aus der EU würden unsere Wirtschaft und unser Gesundheitssystem nicht funktionieren. Die Baustellen würden stillstehen und im Spital würden Sie vergebens klingeln.

Wagen wir zum Schluss den Blick in die Zukunft. Die Welt ist unübersichtlicher geworden. Das Recht des Stärkeren ist im Aufwind. Für ein kleines Land ist das keine gute Nachricht. Dazu kommt: Die Welt wird mobiler, schneller, vernetzter. Den globalen Stürmen kann sich kein Land entziehen. Die grossen Herausforderungen lassen sich nicht allein meistern, erst recht nicht von einem kleinen Land.

Zusammenarbeit ist der Schlüssel. Gute Verträge mit gemeinsam festgelegten Regeln stärken unsere Handlungsfähigkeit und unsere Souveränität. Die Herausforderungen der Asyl- und Migrationspolitik, zum Beispiel, können wir nur zusammen mit Europa und zusammen mit den Herkunftsländern meistern. Das gleiche gilt für die Verbrechensbekämpfung. Heute ist internationale Zusammenarbeit der entscheidende Schlüssel zu guter und erfolgreicher Polizeiarbeit – etwa im Rahmen von Schengen/Dublin.

Die Zusammenarbeit mit Europa, mit unseren Nachbarn, wird künftig noch wichtiger. Es gibt darum viele gute Gründe für die Weiterentwicklung des bilateralen Wegs mit der EU und für die neuen Abkommen, über die wir abstimmen werden. Aber einer ist mit Abstand der wichtigste: Was wir ausgehandelt haben, ist gut!

Wir erreichen alle Ziele, die der Bundesrat im Verhandlungsmandat festgelegt hatte. Wir haben weiterhin hindernisfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt, wahren direkte Demokratie, Service Public und Lohnschutz. Und mit der Schutzklausel können wir bei wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen die Zuwanderung steuern. Dass wir diese Klausel bekommen, hat vor einem Jahr kaum jemand geglaubt.

Die Gegner der Abkommen haben sich auch auf die dynamische Rechtsübernahme eingeschossen. Dazu zwei Dinge: Erstens wollen wir die dynamische Rechtsübernahme, weil das wichtig ist für unsere Wirtschaft und unsere KMU. Wenn klar ist, dass die Regeln hier und in der EU die gleichen sind, vereinfacht das vieles. Das spart Kosten und schafft Rechtssicherheit. Wir wollen den Passepartout zur grossen EU-Markthalle. Dass dort die Regeln der Hausherrin gelten, ist eigentlich normal.

Zweitens können wir auch Nein sagen. Die direktdemokratischen Rechte gelten. Wenn wir Nein sagen, kann die EU zwar Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Diese müssen aber – das ist neu und wichtig – verhältnismässig sein. Und darüber bestimmt nicht der Europäische Gerichtshof, sondern ein paritätisches Schiedsgericht. Wer etwas anderes behauptet, erzählt Unwahrheiten.

Wir wissen es alle aus eigener Erfahrung: In jeder Beziehung geht man Kompromisse ein und gibt einen Teil seiner Selbstbestimmung ab. Man tut es, weil die Vorteile klar überwiegen. Ganz unabhängig ist nur, wer einsam ist.

Ich erlaube mir an dieser Stelle einen Einschub zur sogenannten Nachhaltigkeitsinitiative oder 10-Millionen-Initiative der SVP.

Die Briten wissen, was passiert, wenn man den Zugang zum EU-Binnenmarkt und die Personenfreizügigkeit aufgibt: Der Bevölkerung geht es schlechter und die Zuwanderung wächst. Die Initianten wissen das unterdessen auch. Deshalb beschwichtigen sie: Zur Kündigung der Personenfreizügigkeit müsse es gar nicht kommen, sagen sie. Aber warum schreibt man es dann in die Initiative?

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die Initiative enthält nur starre Limiten und kein einziges griffiges Instrument, um die Zuwanderung zu steuern. Darum ist der Bundesrat überzeugt, dass die Schutzklausel die bessere Lösung ist. Oder: Im Gegensatz zur Initiative ist die Schutzklausel eine Lösung. Die Initiative schafft vor allem neue Probleme und Unsicherheit. Das Letzte, was wir jetzt brauchen.

Etwas ist bei aller Zuwanderungsskepsis klar: Wir werden auch künftig auf die Zuwanderung angewiesen sein. Geburtenstarke Jahrgänge gehen in Pension und der Fachkräftemangel verschärft sich weiter.

Meine Damen und Herren

Mir wird nachgesagt, ich sei ein Euroturbo. Eigentlich stimmt das gar nicht. Mich haben ganz andere Themen politisiert. Aber je mehr politische Verantwortung ich trage und je länger ich auf verschiedenen Ebenen, zuerst als Regierungspräsident eines Grenzkantons und jetzt als Bundesrat, mit unseren Nachbarn zusammenarbeite, desto überzeugter bin ich: Offenheit und Zusammenarbeit machen die Schweiz stärker, sicherer und handlungsfähiger. Wir sind auf der Welt und in Europa zu Hause, aber nicht allein.

Und damit nochmals zurück zu Kevin: Wer weiss noch, wie der Film endet? Natürlich, mit einem Happy End. Aber Kevin schafft es eben nicht im Alleingang. Wer erinnert sich an den alten Nachbarn, vor dem Kevin immer Angst hatte? Er rettet Kevin. Ausgerechnet.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.