Liebe Wanderer,

Sich als Politiker zur Literatur zu äussern, ist ein absturzgefährdetes Risiko. Man muss dazu eine gewisse Narrenfreiheit beanspruchen. Ich will es - vielleicht zum Entsetzen der Literaten - versuchen. Umgekehrt gelingt ja der Umgang von Schriftstellern mit Politikern auch nicht immer.

Wem gehört Robert Walser? - Das ist eine ganz typische Politiker-Frage, denn Politik will ‚besitzen', will wissen wo die Macht ist und wo sie entsteht und wie man damit umgeht.  

Bei Walser ist die Frage unter realpolitischen Masstäben nicht beantwortbar. Natürlich kann man sagen, er gehöre Herisau, weil er hier lebte und starb und weil man ihm durch den Walser-Brunnen sowie die Literaturtage gedenkt. Dennoch: das Besondere an Robert Walser ist, dass wir Werk und Persönlichkeit getrennt anschauen müssen.

Öffentliche Persönlichkeiten - und um solche handelt es sich bei Kulturschaffenden - gehören selbstverständlich der Allgemeinheit. Sie müssen sich damit abfinden, dass man sich mit ihnen befasst, dass man sie kritisiert, lobt, klassiert und was weiss ich alles mit ihnen anstellt. Sie müssen akzeptieren, dass die Recherchiermethoden nicht immer zimperlich sind, dass man sie auch papparaziert, voyeurisiert, psychologisiert, skandalisiert. Ich weiss aber nicht, was Walser dazu sagen würde, dass die Fotographie seiner im Schnee liegenden Leiche derzeit omnipräsent veröffentlicht wird. Vielleicht würde er rügen, es pietäte zu diesem stillen Beiseittreten ohne Wort und Klang erbärmlich wenig.

Wir Menschen sind bekanntlich soziale Wesen. Unsere Bindungen sind sehr unterschiedlich gestaltet sowohl was die Zahl vertrauter Personen als auch was die Intensität der Beziehungen betrifft. Sie reichen von inniger Anlehnung bis zum schroffen Autismus. Aber im Alltäglichen ist es üblich von ‚meiner Frau oder meinem Mann' zu sprechen. Damit meint man eine besondere Art von Besitz.

In dieser gänzlich intimen Fragestellung hat der Dichter Robert Walser vermutlich keinem anderen Menschen je ‚gehört'. Einen Besitzer oder eine Besitzende im Sinne inniger Verbindung gab es wohl nie, auch keine Frau. Die Beziehung zu Frieda Mermet ist unklar, sie wird als Distanz-Spiel bezeichnet. Es gibt authentische Aussagen zum Beziehungsverhalten von Walser. So schrieb er: ‚Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich.'

Peter Utz folgerte daraus kürzlich in einem Artikel in der NZZ: ‚Wer nach dem Leben hinter dem Werk sucht, stösst bei Walser in irritierender Weise ins Leere, obwohl überall Lebensspuren ausgelegt scheinen. Es bleibt deshalb nur, das Leben im Werk aufzusuchen und zu fragen, wie es jene Lebensumrisse literarisch entwirft, in die Walser selbst eintritt....'

Utz stellt fast etwas resignierend fest, Walser verweigere jeden traditionellen und autobiografischen Pakt, der die Einheit von Autor, Erzähler und Figur verbürgen würde.

Robert Walser hat sich selbst um sein eigenes Werk in Herisau offenbar nicht mehr gekümmert, Neuauflagen oder Radiosendungen über ihn ignorierte er. Er pflegte innerhalb des Anstaltsbetriebes zudem keine eigentliche Privatsphäre. Er gehörte überspitzt gesagt nicht einmal mehr sich selber.

Von einzelnen Bezugspersonen war schon die Rede. Der Kreis lässt sich aber erweitern. Cassirer zum Beispiel war Walsers erster Verleger in Berlin und man weiss, dass die Beziehungen zwischen Schriftsteller und Verlag öfters durchaus den Charakter eines fast realen Besitzverhältnisses annehmen. Schliesslich geht es ums Geld, und von etwas müssen ja sowohl die Dichter wie die Verleger leben. Zwischen Walser und Cassirer hat sich jedoch keine Bindung entwickelt; er hat später den Verlag gewechselt.

Carl Seelig - ein weiteres Beispiel - war der einfühlsame Begleiter in den späten Jahren. Walser würde aber vielleicht sagen, dieser habe ihn durch die vielen Wanderungen nur ‚betippelt' und ‚bewirtshauset'. Sodann erlebte Walser in der Klinik zwei psychiatrisch liberale Chefärzte. Er würde darum eventuell dankbar feststellen, diese hätten ihn wenigstens nicht ‚einkorsettet'.

Ferner befassten sich zwei Vormünder mit ihm, beide ebenfalls mit reichlich langer Leine, und der Walser'sche Kommentar könnte darum lauten, sie hätten ihn ‚emu nicht gegängelt'. Die Vormünder wurden im Heimatort Teufen bestellt.

Und mit dem geographischen Ort verbindet sich ein weiteres sogenanntes Besitzkriterium. Länder und Städte kämpfen manchmal geradezu um das Renommee einer Berühmtheit und sie schlagen im wahren Sinn Kapital daraus. Aber auch hier: Walser wohnte in Biel, Berlin, Zürich, Stuttgart, Thun, Bern und Herisau und an weiteren Orten. Diese wechselnden Wohn- und Arbeitsorte sind Spuren eines Rastlosen, Wurzellosen. Auch das deutet also darauf hin, dass er ‚niemandem gehörte.'

Drei Aufenthaltsorte sind dennoch besonders erwähnenswert. Als erstes die deutsche Hauptstadt Berlin. Hier entfaltete sich die schriftstellerische Blüte Walsers, hier fanden Schlüssel-Begegnungen statt. Man müsste annehmen, dass er hier Spuren hinterlassen habe. Die Wirklichkeit zeigt allerdings ein anderes Bild. Es gibt im heutigen Berlin zum Beispiel viele tausend Strassen- und Flurnamen. Man findet eine Pestalozzi-, eine Gottfried-Keller, eine Johanna-Spyri-, zwei Davoser-Strassen. Robert Walser fehlt. Mehr posthumes Glück ist Franz Kafka beschieden oder Wolfgang Borchert, obwohl dieser eigentlich ein umfangmässig recht geringes Werk hinterliess und zudem schon in jungen Jahren nicht in Berlin sondern in Basel verstarb. Man kann also sagen, Berlin erhebe keinen Besitzanspruch auf Robert Walser. Die Taxichauffeure wissen nicht, wer er war.

Anders die Stadt Biel. Deren belebte Zentrumszone heisst Robert-Walser-Platz. Im Geschichtsbuch der Stadt figuriert Robert Walser neben dem berühmten Clown Adrian Wettach genannt Grock, und neben Marguerite Weidauer, der grande dame der Schausteller, einer der ersten Unternehmerinnen in der Schweiz.

Man könnte sagen, Biel beansprucht Robert Walser, er gehört dort zum Stadtbewusstsein wie Mozart zu Salzburg, aber Biel vermarktet ihn nicht.

Herisau als dritter Ort hat nie Aufhebens um den Dichter gemacht. Als er starb, warf sein Tod keine grossen Wellen. Wir sind seiner letzten Heimstätte freilich eingedenk. Eine Strasse ist nach ihm benannt, Museum- und Literaturkreise wissen längst um seine Bedeutung und im Jahr 1962 widmete ihm die Gemeinde im Beisein des deutschen Bundespräsidenten den Walser-Brunnen. Ich erinnere mich übrigens an die Feierlichkeit. Wer nämlich damals wie ich zu den Nicht-Promi und Nicht-Geladenen gehörte, empfand das Geschehen auf dem engen Platz neben der Bäckerei Schläpfer von weitem als eine Art Tumult, sagen wir Edel-Tumult.

Die Herkunft von Schriftstellern trägt manchmal den genius loci. Sie haben eine mentale Wurzel in heimischen Kulturen wie zum Beispiel ein C. F. Ramuz in Waadtland und Wallis oder Gotthelf im Emmental. Bei Walser mögen die Beschaulichkeit im Handlungsfluss der Romane und die sprachliche Bodenständigkeit bis hinein in die Dialektisierung das Berner Wesen verkörpern. Der witzige Humor - wobei bei uns Witz aus Geistreichtum entsteht, weshalb die meisten Appenzellerwitze von Auswärtigen kreuzfalsch sind - dieser ironische Humor also und die häufigen Doppelsinnigkeiten könnten demgegenüber auf Vorfahren aus dem Appenzellerland hinweisen. Aber ich sage: ‚könnten'.

Auch der Historiker Walter Schläpfer äussert sich vorsichtig wenn er feststellt: ‚Trotz seiner appenzellischen Herkunft empfindet man eine gewisse Scheu, Robert Walser für die Appenzeller Geschichte gewissermassen in Beschlag zu nehmen.' Schläpfer ortet immerhin zwei unübersehbare Phänomene, nämlich den Drang nach absoluter Freiheit und das anarchische Wesen als zur Pathologie des appenzellischen Volkscharakters gehörend und sodann die Ironie des Gruber Pfarrers Walser, dem Grossvater von Robert Walser.

Wir finden auf Schritt und Tritt bestätigt, was eingangs vermutet wurde: Robert Walser gehört niemandem.

Wie ist es aber mit seinem Werk?

Wir kennen das Gesamtwerk. Dank Forschern wie Bernhard Echte, dank der germanistischen Lehre, dank verlegerischer Umsicht, dank der Walser-Stiftung und Persönlichkeiten wie Barbara Auer haben wir einen leichten Zugang. Die ‚Hervorbringungen' stehen uns also zur Verfügung. Die Würdigung des Werkes werden Berufene vornehmen,  das steht mir nicht öffentlich zu.

Der Vorgang des Trennens von Persönlichkeit und Werk verleitet mich zu einem Bild über das Loslassen des Werkes aus der Hand des Schöpfers. Ein Zeitgenosse Walsers, Rainer Maria Rilke hat 1922 folgendes Gedicht geschrieben:

         ‚Solang Du Selbstgeworfnes fängst, ist alles

         Geschicklichkeit und lässlicher Gewinn -

         Erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,

         den eine ewige Mitspielerin dir zuwarf,

         deiner Mitte, in genau gekonntem Schwung,

         erst dann ist Fangen-Können ein Vermögen....

         ......

         Und wenn Du gar zurückzuwerfen Kraft und Mut besässest,

         nein, wunderbarer: Mut und Kraft vergässest

         und schon geworfen hättest, erst

         in diesem Wagnis spielst Du gültig mit.

         Erleichterst Dir den Wurf nicht mehr,

         erschwerst Dir ihn nicht mehr;

         Aus Deinen Händen tritt das Meteor und rast in seine Räume!

Walser hat sein Werk radikal losgelassen. Sein Meteor Rilke'scher Diktion rast in den Räumen. Er ist in den Herisauer Jahren nie mehr darauf zurückgekommen.

Und das Fazit? Es bleibt das, was für schwer biographierbare Dichter und Schriftsteller gilt: das Werk gehört dem, der es sucht, der es geniesst, der es liebt, der damit spielt, der es zergliedert, vergleicht, vielleicht sogar ablehnt. Es gibt eine Walser'sche Freiheit, mit Walsers Werk umzugehen.

Walser gehört in diesem Geist uns allen, die wir mit unterschiedlichen Absichten an dieser besinnlichen Wanderung teilgenommen haben. Der Robert-Walser-Weg war eine Initiative des allzu früh verstorbenen Schriftstellers Peter Morger. Er, der ein rastlos Suchender war, wollte Walser symbolisch als Wandernden verewigen.

Damit hat er die wohl träfste literarische Antwort auf die politische Frage erteilt, wem Robert Walser gehört. Der Weg verbreitet den Hauch eines Besitzes. Aber eben nicht der Besitz des Politikers sondern die Macht des Geniessenden.