Es gilt das gesprochene Wort! 

Lieber Gottlieb Vogt!

Sie sind der grosse Abwesende an der heutigen Jubiläumsfeier, und deshalb grüsse ich Sie ganz besonders. Ich hätte Sie gerne kennengelernt! Sie waren eine faszinierende Persönlichkeit.

Mit 18 Jahren bereits Student an der Universität Basel, mit 25 Jahren Kantonsrat, mit 28 Jahren Gründer, Verleger und Chefredaktor der „Solothurner Zeitung“.

Ein liberaler, freisinniger Geist, ein Patriot auch, ausgestattet mit Weitsicht, Mut und Ehrgeiz. Sie haben einen Verlag und eine Zeitung gegründet, deren 100. Geburtstag wir nun feiern können.

Vor drei Wochen haben sich die Zürcher Tamedia und die Berner Espace Media Groupe zusammengeschlossen. Da ist viel Tinte durchs Land geflossen. Wir neigen dazu, das, was heute passiert, als einmalig und aussergewöhnlich darzustellen. Ich bin mir fast sicher, dass im März 1907 ein ähnliches Erdbeben den Kanton Solothurn erschütterte, als Sie, Gottlieb Vogt, mit der „Solothurner Zeitung“ das 12. politische Blatt dieses Kantons auf den Markt warfen! 

Lieber Herr Vogt, wir alle, die wir heute hier versammelt sind, ziehen vor Ihrem Lebenswerk den Hut!

Sehr geehrte Parlamentarier aus Bund und Kanton,
Sehr geehrter Herr Landammann,
Sehr geehrte Damen und Herren Gemeindepräsidenten,
Sehr geehrter Herr Verwaltungsratspräsident,
Sehr geehrte Leiter von Verlag und Redaktionen,
Liebe Gäste!

Üblicherweise wird bei Anlässen wie dem heutigen eine kantonal oder gar eidgenössisch bekannte Persönlichkeit eingeladen, die Festrede zu halten. Sie haben mit der Tradition gebrochen und einen Ihrer Leser aufs Rednerpult gebeten, und erst noch einen Auswärtigen. Samuel Schmid aus dem bernischen Rüti bei Büren, der die „Solothurner Zeitung“ liest, seit er hier in dieser Stadt die Kantonsschule absolviert hat. Ehrlicherweise muss ich anfügen, dass ich noch viele andere Blätter auf meinem Pult habe, und dass es meist bei einem „Überfliegen“ bleiben muss.

Und wenn ich schon beim medialen Coming-out bin, kann ich beifügen, dass es in ganz Rüti keine Sonntags-Zeitungen zu kaufen gibt. In diesem Dorf ist die Welt noch in Ordnung, wenigstens am Siebenten Tag... Ich sage das augenzwinkernd und im Wissen darum, dass auch Ihr Blatt auf dem Weg zu einer Sonntagsausgabe ist. Wie man hört, gar mit Kolumnistinnen von der Zürcher Goldküste.

Es wäre für den Leser Schmid nun natürlich reizvoll, die „Solothurner Zeitung“ einer kurzen Blattkritik zu unterziehen. Aber das sprengte wohl meinen Auftrag. Dafür kann ich Ihnen einen echten Primeur servieren! Sie können davon ausgehen, dass die Geschichte sauber recherchiert und zweifach abgesichert ist, wie sich das im seriösen Journalismus gehört...

Mitte der 80er-Jahre, also vor rund 20 Jahren, haben die sich teilweise konkurrenzierenden Verleger der „Solothurner Zeitung“, des „Bieler Tagblatts“, des Berner „Bund“ und des „Thuner Tagblatts“ ihre vier Chefredaktoren angewiesen, bei Gelegenheit zusammenzusitzen und redaktionelle Synergien zu suchen. Als Beispiel: An einen grossen Sportanlass schickt man einen Redaktor, und der bedient dann alle vier Zeitungen.

Die vier Chefredaktoren sassen also einen Tag lang zusammen. Am Abend hatten sie ein Projekt auf dem Tisch, das weit über den Auftrag ihrer Verleger hinausging. Einige Tage später traf man sich zu Acht im „Bären“ Utzenstorf. Gemäss Augenzeugen hätte man eine Nadel fallen hören, als die Chefredaktoren ihren ziemlich sprachlosen Verlegern nicht mehr und nicht weniger als die Fusion der vier Zeitungen vorschlugen. Mit einer zentralen Redaktion für das Überregionale und vier Regionalredaktionen in Solothurn, Biel, Bern und Thun. Das – noch namenlose – Blatt wäre damals auflagenmässig die Nummer 5 in der Schweiz gewesen und hätte die mittelländische Medienszene ziemlich umgekrempelt.

Nun, wie wir wissen, ist aus dem kühnen Projekt nichts geworden. Die Traditionen der vier Verlagshäuser und die unterschiedliche finanzielle Potenz liessen die Idee im Sande verlaufen. Die vier Blätter haben im Lauf der Jahre andere Partner gefunden.

Die Episode, die hier erstmals öffentlich gemacht wird, zeigt zwei Dinge: Zum einen ist das Zeitungswesen immer auch die Suche nach der optimalen Grösse. Und zum andern können Chefredaktoren offenbar durchaus auch über ihren eigenen Schatten springen und verlegerisch denken. 

Ein paar Gedanken also zur kreativen Spannung zwischen Verlag und Redaktion. Meine Damen und Herren, als Medieninsider wissen Sie es: Das Verhältnis zwischen Verlag und Redaktion ist nicht immer einfach. Auch eine gute Ehe ist nicht immer einfach. Sie bedarf der ständigen Arbeit, der Toleranz, des Gebens und Nehmens, der kreativen Spannung eben.
 
Der Verlag erarbeitet die Mittel, welche die Redaktion braucht, um ein gutes Produkt herzustellen. Dass diese Mittel konjunkturabhängig sind, wissen wir alle. Die Inserateinnahmen der Printmedien stagnieren seit vier Jahren bei rund 2,3 Milliarden Franken.

Ich wiederhole hier im kleineren Kreis bewusst, was ich letzten Herbst vor dem Verband der Schweizer Presse in St. Moritz an die Adresse der Verleger gesagt habe: Setzen Sie auf Qualität!

Ich bin mir nicht sicher, ob die Verpackung wichtiger ist als der Inhalt. Ob die Zahl der Designer und Layouter erhöht werden soll zu Lasten der Schreiber, der Nach-Denker, der Rechercheure, der Korrespondenten und der Kommentatoren – also der journalistischen Qualität.
Gut ausgebildete, gut bezahlte, ständig weitergebildete Redaktorinnen und Redaktoren in ausreichender Zahl, die in einem freien Klima so unabhängig wie möglich arbeiten können, erhöhen diese Qualität. Eine Qualität, die ich als Leser erwarte und für die ich auch bezahle.

Der Verleger hat in unserem Staat, in unserer Demokratie, eine wichtige Funktion. Das Bild jenes Verlegers, dem es egal ist, was die Journalisten um die Inserate herum schreiben, ist ein Zerrbild. Ein guter Verleger versteht etwas von Publizistik. Er kann gute und schlechte Artikel auseinanderhalten. Er kann gute Schreiber von Schreibtischtätern unterscheiden. Er hat nicht nur kommerzielle Ziele, er gibt seiner Redaktion auch gesellschaftspolitische Vorgaben. Aber: Er lässt ihr grösstmöglichen Freiraum und stellt sich, wenn notwendig, schützend vor seine Redaktion.

Ich formuliere hier nicht nur Erwartungen an die Verleger, sondern auch an die Journalistinnen und Journalisten. Sie sehen sich als vierte Gewalt in diesem Staat. Wohlan denn! Dann tragen Sie aber auch Verantwortung diesem Staat, der öffentlichen Sache, der res publica gegenüber! Als Journalist sind Sie letztlich auch Staatsbürger und damit dem Wohlergehen dieses Staates verpflichtet. Korrigieren Sie mich, wenn ich das falsch sehe.
Es ist auf die Dauer verheerend, wenn jeder, der sich für ein öffentliches Amt zur Verfügung stellt, von den Medien unter den Generalverdacht des Unvermögens, der Profilierungssucht oder des Erreichens eines persönlichen Vorteils gestellt wird. Das ist mit ein Grund, dass wir vor allem auf lokaler Ebene kaum mehr Interessierte finden.

Es ist auf Dauer verheerend, wenn jedes gesellschaftspolitische Thema zwecks Steigerung der Auflage kontrovers, zugespitzt und marktschreierisch angegangen wird, bevor nur schon mal die Grundinformation vermittelt worden ist.

Es ist auf Dauer verheerend, wenn legitime staatliche Interessen wie beispielsweise die Geheimhaltung lächerlich gemacht oder zwecks Abdrucks eines Primeurs unterlaufen werden. Ich gebe Ihnen dazu ein Beispiel.

Wir hatten im vergangenen Jahr konkrete Anzeichen, dass eine Schweizer Botschaft im Mittleren Osten im Visier von Terroristen stand und der Botschafter in Gefahr war, entführt zu werden. Bewaffnete Angehörige der Militärischen Sicherheit bewachten dann diese Botschaft und ihr Personal über längere Zeit. Jeder Staat hat die Aufgabe, seine Bürgerinnen und Bürger im Ausland zu schützen. Die Präsidenten der zuständigen Parlamentskommissionen wurden über diese äusserst heikle Mission ins Bild gesetzt. Nur strikte Geheimhaltung garantierte den Erfolg des Einsatzes.

Als nach Abschluss der Operation Einzelheiten durchsickerten, beschuldigten die Medien den Bundesrat der Geheimniskrämerei und verlangten die Offenlegung aller Einzelheiten.

Da, meine Damen und Herren, habe ich Mühe. Es braucht nur ein ganz kleines bisschen gesunden Menschenverstand, um zu begreifen, dass in gewissen Fällen auch der Staat so etwas wie eine Privatsphäre hat. Wie hätten dieselben Medien reagiert, wenn der Bundesrat nichts unternommen hätte und tatsächlich etwas passiert wäre?

Nach kritischen Anmerkungen nun das, was in eine Festrede zum 100. Geburtstag zwingend gehört: Dank und Lob!

Dank und Lob an alle, die irgendwo in der Schweiz zu irgend einem Wochentag eine Zeitung oder eine Zeitschrift machen. Ich weiss und anerkenne, welch riesiger Aufwand hinter jedem Printprodukt steht – wirtschaftlich, logistisch, geistig. Und ich anerkenne, dass eine gut gemachte Zeitung zum festen Bestandteil des täglichen Lebens gehört. Sie ist für die Leserinnen und Leser ein Stück Lebensqualität, ja, ein Stück Heimat.

Dank und Lob an die Mitarbeitenden des Verlages Vogt-Schild und der „Solothurner Zeitung“, die das Werk von Gottlieb Vogt mit Herzblut und Erfolg weitergeführt haben!

Dank und Lob schliesslich an uns alle! Lassen Sie mich das erklären.

Trotz Radio und Fernsehen, trotz Internet und DVD sind die Schweizerinnen und Schweizer ein Volk von Leserinnen und Lesern geblieben! Das ist erfreulich und staatspolitisch gesehen nicht unrelevant. In den letzten 60 Jahren ist zwar jeder zweite Zeitungstitel verschwunden, die Gesamtauflage ist aber deutlich gestiegen. Die Schweiz ist immer noch ein Printland. 2005 haben wir gut 1,8 Milliarden Franken für 2'654 Pressetitel ausgegeben – immerhin doppelt soviel wie für das Futter unserer Haustiere.

Diese Zahlen sind alles andere als ein Ruhekissen, Sie wissen es, meine Damen und Herren. Der Medienmarkt verändert sich. Nicht über die Jahre, sondern von Woche zu Woche. Der Meldung, dass Gratiszeitungen wie „20 Minuten“ an Auflage massiv zulegen, folgte die Meldung über die Fusion von Tamedia und Espace Media Groupe, und dieser Meldung folgte jene über das Ende von „Cash“, und dieser Meldung folgte jene, dass aus dem „FACTS“ ein Supplement des „Spiegels“ werden könnte.

Über das Leseverhalten der nachfolgenden Generation, der Internet-Generation, können wir nur spekulieren. Wird sie in 10 oder 20 Jahren die klassische Tageszeitung noch lesen? Wird es ein 125-Jahr-Jubiläum der „Solothurner Zeitung“ geben? Niemand weiss es, niemand wagt Vorhersagen.
Dem Verlag Vogt-Schild bleibt, verlegerisch und kommerziell am Ball zu bleiben. Der Redaktion der „Solothurner Zeitung“ bleibt, so nahe wie möglich am Leser und seinen Bedürfnissen zu bleiben. Dazu wünsche ich Ihnen eine glückliche Hand und den Erfolg der Tüchtigen! Alles andere wird sich weisen.

Ich bitte Sie aber in jedem Fall, 2032 alt Bundesrat Samuel Schmid auf die Gästeliste der 125-Jahr-Feier zu setzen! Ich freue mich darauf! Soviel Optimismus muss sein, das sind wir Gottlieb Vogt schuldig.

Über die kreative Spannung zwischen Verlag und Redaktion