Es gilt das gesprochene Wort

Muss ein freisinniges Parteimitglied tugendhaft sein? Wie steht es überhaupt mit Tugenden in der Politik? Gibt es nicht mehr Untugenden als Tugenden? - Der Neid, die Intrige, die Schmeichelei, die Heuchelei, die Doppelzüngigkeit, den Egoismus? - Mandeville wagte die Behauptung, wirtschaftliche und kulturelle Blüte beruhe gar nicht etwa auf Tugenden, sondern viel eher auf Lastern wie Geiz (verkörpert durch das extreme Sparen), Verschwendung (verkörpert durch Konsum und Konsumerismus), sodann Eitelkeit und Korruption. Er sah in den Untugenden die wahren Triebfedern der Gesellschaft.

Bei einem Festbankett in Moskau erklärte sich Ministerpräsident Primakow bereit, Fragen zu beantworten unter der Bedingung, dass jeder Fragesteller zuerst einen Wodka trinken müsse; das sei bei ihm üblich. Ein bekannter Schweizer Freisinniger hätte gerne sieben Fragen gestellt; nach der zweiten gab er es auf. Ob sich hier wohl zwei Tugendbolde begegnet sind?

Bei einem Referat zur Revision des Militärgesetzes - es ging um die Ermöglichung friedensfördernder Auslandeinsätze - befanden sich im Saal zu St. Peterzell zwei oder drei Dutzend Zuhörer, draussen hinter dem Gasthof standen fast ebenso viele Autos, jedoch mit den Immatrikeln ‚TG', ‚GL', ‚AR', ‚ZH'. Man hatte die Besucher also quasi aus den Nachbarkantonen herangeschaufelt. Entsprechend war die Stimmung des Abends agitativ und verhielten sich die AUNS-Jünger wenig tugendhaft. Ich bin als Referent geradezu mit Häme übergossen worden. Solche mentale Züchtigung ist eine Untugend.

Was aber sind denn Tugenden?

Platon formulierte die vier Kardinaltugenden. Diese sind: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit. Streng genommen und aus heutiger Sicht handelt es sich um eine Mischung von menschlichen Wesenszügen und Werten.

Und der heilige Thomas von Aquin - bekannt als Schöpfer der Unterscheidung zwischen Kindern des Lichts und der Dunkelheit - fügte drei weitere Kardinaltugenden hinzu, nämlich: Glaube, Liebe, Hoffnung. Somit besteht das Register aus sieben Tugenden.

Befragt man auf der Strasse hundert beliebige Passanten, kaum eine oder einer käme auf diese wegweisenden Sieben. Die frömmeren unter ihnen würden vielleicht Glaube, Liebe, Hoffnung noch zusammenbringen. Aber wer spricht denn heute noch von Tapferkeit, wer von Weisheit und Besonnenheit? Und unter Gerechtigkeit bilden sich zunehmend Unterkategorien. Der Begriff ist nämlich sozialpolitisch besetzt worden.

Verwirrlich wird das Ganze, wenn wir noch Moral und Ethik in die Politik einbringen. Was darf man, was nicht? Anstelle einer Antwort fünf Fragen:

1. Die italienische Abgeordnete Ilona Staller, genannt Cicciolina, war eine bekennende Prostituierte. Der amerikanische Bildhauer Jeff Koons schuf eine Plastik, die sie an der ‚Arbeit' zeigt, pikanterweise mit ihm selber. Soll man eine Hure ins Parlament wählen?

2. Im Dezember 2000 gab das britische Unterhaus die Stammzellen-Forschung frei mit der Begründung, es können dadurch bisher unheilbare Krankheiten wie MS oder Alzheimer besiegt werden. Soll man das menschliche Klonen freigeben?

3. Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl verteidigt im Zusammenhang mit einer Parteispende gesetzeswidrig ein Ehrenwort. Darf er das?

4. Wie teuer dürfen Medikamente und medizinische Eingriffe bei Menschen über 80 Jahren zu stehen kommen? Darf man den Leistungskatalog für solche Patienten begrenzen oder nach unten anpassen?

5. Präsident Johnson stellte sich im Wahlkampf 1964 als Friedensbringer und Taube dar, kaum war er aber gewählt, verfügte er die Bombardierung Nordvietnams. War das nicht ein klarer Wählerbetrug?

Zu all diesen Beispielen Wilhelm Busch kurz und zynisch: Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man lässt.

Was hat das alles mit dem Freisinn zu tun, werden Sie - da wir schon einmal am Fragen sind - fragen. Die Antwort findet sich teilweise in der Geschichte des Liberalismus.

Die Geschichte des Liberalismus ist spannend. Der Liberalismus der Neuzeit begann etwa vor der französischen Revolution; er gilt als Kind der Aufklärung. Am Beginn stehen einerseits die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und anderseits die Erkenntnisse von Philosophen wie Montesquieu oder Kant. Es folgten nacheinander der Manchesterliberalismus und später vor allem die demokratischen Konzeptionen. Und ab dem 19. Jahrhundert gab es in der Schweiz sodann den Freisinn. Der Freisinn trachtet seither nach der politischen Verwirklichung liberaler Ideale, freiheitlicher Gedanken.

Zwischen Philosophie und Tugend besteht dabei eine Art Arbeitsteilung. Die Philosophie setzt nämlich Werte, und die Tugend sagt, wie man mit diesen umgeht. Manchmal - soviel vorweg, liebe Parteifreunde - würde es nicht schaden, wenn wir den Tugenden wieder mehr Ehre antäten. Anstand, das steht fest, ist auch eine Tugend, und nicht einmal primär eine freisinnige. Statt uns in Sonntagsblättern, auf Podien und in Arenen zu zerreden, sollten wir daran denken.

Nun aber definitiv zum Thema:

Eine erste freisinnige Tugend ist die Eigenverantwortung. Früher hat man im Flugzeug den Gebrauch der Sauerstoff-Maske mit einem Hinweis ergänzt, Erwachsene sollen sich zuerst schützen und erst danach den Kindern die Maske anziehen. Das Bild war und ist eine Einheit: dem starken Erwachsenen muss man das Überleben sichern. Nur so ist er in der Lage, sich des Schwachen auch anzunehmen. Die Eigenverantwortung will, dass wir uns zuerst uns selber annehmen. Die grosse Schwäche des Sozialismus besteht in der stetigen Umkehr dieser Strategie. Man sucht fortwährend jene zu schwächen, welche dem Schwachen noch helfen können. Und die grosse Schwäche des Opportunismus besteht darin, dass er sich in der Rechtfertigung von Individualität und Eigeninteresse erschöpft. Richtig ist vielmehr die Erziehung zur Selbstverantwortung: unser Schul- und Bildungssystem, der allgemeine Milizbegriff, aber auch der Vorsorgegedanke müssen allem voran bei der Eigenverantwortung ansetzen. Eigenverantwortung und Solidarität gehören in dieser Abfolge sodann zusammen.

Die Selbstverantwortung führt uns zu einer weiteren liberalen Tugend, nämlich zum Gemeinsinn. Und zwar Gemeinsinn sowohl bezogen auf das Individuum wie bezogen auf die Wirtschaft.

Die Marktwirtschaft ist das Kernstück freisinniger Wirtschaftspolitik. Aber sie soll sozial verpflichtet sein. Wir sprechen von der sozialen Marktwirtschaft. Diese geht bekanntlich auf Eucken, Röpke, Erhard, Müller-Armack zurück. Sie fusst auf der Erkenntnis, dass der Wettbewerb das Grundprinzip der Wirtschafts-Verfassung ist, dass es aber daneben einen starken Staat braucht, um den Wettbewerb zu ermöglichen und ihn gegen übermächtige Wirtschaftspotentiale zu schützen. Privateigentum, Vertragsfreiheit, Marktzugang, Konkurrenz sind einige Stichworte schützenswerter Institutionen. Popper, von Hayek, Lippmann führten diese Linie weiter. Sie sprachen sich zwar für eine umfassende Sozialpolitik aus, warnten aber davor, dass ein Zuviel an Wohlfahrtsstaat in den Kollektivismus führt. Der Gemeinsinn verlangt somit auch Besonnenheit und Solidarität: Die Top-Manager-Gehälter und das Leistungsniveau der Sozialversicherungen sind zunehmend Symbole zur Frage des Masses geworden.

Eine weitere freisinnige Kardinaltugend ist die Toleranz. Das Wort kommt von ,tolerare', tragen, eine Last dulden. Der Tolerante ist bereit, auch den anderen zu tragen und zu ertragen, wenn er anders denkt als er. Toleranz bedeutet, Menschen mitzutragen, die nicht auf unserer Wellenlänge liegen. Dazu bedarf es der Weitherzigkeit und des Respekts vor dem Menschen. Lessing hat in seinem Nathan der Weise die Duldsamkeit gegenüber anderen religiösen Bekenntnissen als Zeichen des aufgeklärten, weisen Menschen gepriesen. Sie ist ein Kennzeichen wahrer Humanität; wenn sie verloren geht, fällt der Mensch zurück in die Barbarei. Angesichts islamistischer Kampfzellen fällt es uns nicht immer leicht, Toleranz zu üben. Asyl- und Ausländergesetzgebung sind verschärft worden. Wir haben das Dispositiv gegen Terrorismus verengt. Die Formalia stimmen also. Was oft fehlt, ist die gegenseitige und damit eben tolerante Auseinandersetzung mit dem Islam und anderen globalen Bewegungen.

Toleranz sollten wir auch im Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren üben. Ihre Neigung muss in Gesellschaft und Beruf Anerkennung finden.

Eine nächste freisinnige Kardinaltugend könnte das Augenmass sein. Der heilige Benedikt nennt das Gespür für das rechte Mass sogar die Mutter aller Tugenden. Wer zuviel will, wer sich zuviel zumutet, wer zuviel verspricht, wer auf zuviel verzichtet, kurz wer das Mass nicht findet, scheitert. Der deutsche Pater Anselm Grün beschreibt den Pfad des rechten Masses als Weg, begrenzt zwischen Demut und Grossmut. Und der alte Paracelsus hatte vollkommen recht, als er lapidar sagte: ‚die Menge macht's'. Ich weiss, Augenmass in der Politik ist sehr schwer. Soll man von Anfang an auf den Kompromiss steuern oder soll man mit Maximalforderungen bewusst die Grenzen ausloten? Das Ergebnis ist am Ende wichtiger als die gewählte Methode. Doch bevor es zu spät ist, müssen die politischen Akteure bereit sein, von ihrem Kurs abzuweichen.

Diese Legislatur zeichnete sich bisher nicht durch ein Übermass an Augenmass aus, sondern belegt die Gefahr der Kompromisslosigkeit. Die Legislaturplanung scheiterte genauso an verhärteten Positionen und dem Unwillen, aufeinander zu zugehen, wie die Verwendung des Erlöses aus den überschüssigen Goldreserven.

Eine kompromisslose Steuerpolitik verlangt, die Unternehmen von jeglichen nichtkausalen Abgaben zu befreien. Eine vernünftige Fiskalpolitik des Augenmasses sagt demgegenüber, dass es Kriterien der Gerechtigkeit, des Anreizschaffens, der Erträglichkeit und der Konkurrenzfähigkeit gibt. Solche und nicht das absolute Mass der Dinge müssen wegleiten. Aktuell wird Augenmass bei der Unternehmenssteuerreform und bei der Familienbesteuerung gefordert sein. Die Ansprüche der Wirtschaft, die familienpolitischen Anliegen, die Vertretbarkeit für die Kantone und die Belange des Finanzhaushalts sind unter einen Hut zu bringen. Wir reden immerhin von einem zu erwartenden nicht-finanzierten Einnahmeausfall von gegen zwei Milliarden Franken. Die Balance zu halten, haben wir beim Steuerpaket verpasst. Jetzt stehen wir vor einer ähnlichen Ausgangslage. Wer begibt schon gerne zweimal denselben Fehler?

Aber auch die Finanzpolitik muss den Kriterien der Vernunft und damit des Augenmasses gerecht werden. Wir müssen zum Beispiel Grossinvestitionen in Schiene und Strasse etappieren. Wir müssen die Sozialwerke stärker an den Bedürfnissen und an der Finanzierbarkeit orientieren. Und wir werden uns weder eine 13. AHV-Rente noch Kinderrenten - zusammen je nach Variante 4-6 Mia. Fr. Ausgaben - leisten können.

Ist Fortschritt im Sinne der Inspiration auch eine Tugend? Wenn nicht, wollen wir sie wenigstens zu einer freisinnigen Tugend erklären. In der Tat pflegten die Freisinnigen zwar stets ein starkes historisches Bewusstsein. Sie waren aber einerseits nirgends für gewaltsame Revolutionen zu haben und sie haben anderseits das Erbe ihrer Väter stets weitergetragen. So waren die Freisinnigen immer auch die Erneuerer, die Modernisierer. Fortschritt kommt von Fort-Schreiten. Die Freisinnigen haben nie vor dem Experiment zurückgeschreckt. Sie waren es, welche den Proporz ermöglichten und welche den Ausbau der Volksrechte in den bahnbrechenden Verfassungsrevisionen des 19. und 20. Jahrhunderts herbeiführten. Sie sind es auch, welche heutzutage der Bildung und Forschung die Stange halten, indem sie ihr die nötigen Freiheiten zum Beispiel in der Gentechnologie gewähren, die erforderlichen Ressourcen zubilligen und nicht zuletzt ihren Exponenten die parteipolitische Heimat öffnen.

Leichter zu leben als die Toleranz ist dagegen die sechste liberale Tugend, nämlich die Fröhlichkeit.

Der bereits erwähnte Benediktiner Anselm Grün hat ein Buch mit dem Titel ‚50 Engel für die Seele' verfasst. Ein Kapitel widmet er dem Fest-Engel. Es beginnt mit dem allbekannten Spruch: man muss die Fest feiern, wie sie fallen! Jeder von uns kennt gelungene Feste, an die er/sie sich gerne erinnert, seien es Feten, welche ihren Ursprung in der Jugend- oder in der Studentenbewegung haben, seien es kirchliche Rituale, seien es vaterländische Anlässe. Gottfried Keller beschrieb im Fähnlein der 7 Aufrechten, wie eine Schar von Patrioten nach Aarau zum Schützenfest pilgert. Heute spricht man eher von einem ‚Event', wenn ein parteibemalter Schauwagen vor den Wahlen Station auf dem Dorfplatz oder im Stadtzentrum macht. Man mag darüber denken, wie man will, eines ist sicher: die Engel der Lebenslust, des Humors und des Festes würden sich im Himmel des Freisinns gut ausnehmen! Sie sind uns etwas abhanden gekommen. Vielleicht war die Idee des russischen Premiers mit dem Wodka im Kern nicht so falsch. Sie lässt sich sicher nicht eins zu eins auf unsere Verhältnisse übertragen. Es wird nachher kaum jemandem in den Sinn kommen, vor einer Frage einen Appenzeller Alpenbitter zu bestellen oder - da er ein freisinniges Produkt von alt-Nationalrat Früh ist - einen Senar. Aber ein bisschen Esprit, eine Prise Humor und ein Schuss Schalk könnte manchmal nicht schaden. Denn wie gesagt: Tugend ist, wie man mit Politik und Moral umgeht.

So kommen wir nun auf sechs und nicht auf sieben Tugenden wie die Philosophie. Überschneidungen sind zufällig, aber gewollt.

Zu langes Reden ist eine Untugend. Wenn es also wegen der Symmetrie und Systematik unbedingt eine siebte freisinnige Tugend geben soll, dann das kurze Reden. Wie sagte noch Busch:

Das Reden tut dem Menschen gut;
Wenn man es nämlich selber tut.
Vor allem der Politikus
Gönnt sich der Rede Vollgenuss.

Kardinaltugenden des Liberalismus