Die Bieler Kommunikationstage sind zur Tradition geworden. Auch die klassische Zweiteilung ist geblieben: Neue Technologien am einen Tag, mediale Inhalte am anderen. Fortschritt und Innovation am ersten Tag, Verluderung der Sitten am zweiten.

Heute wird diese Zweiteilung neu benannt in „Trends" am ersten Tag und in „Suche nach der Wahrheit" für den zweiten Tag. Das ist also die Prioritätenordnung: Heute der Trend und morgen die Wahrheit. Das entspricht nicht nur der Prioritätenordnung der Organisatoren, sondern auch ihrer Kompetenzeinschätzung: Den Kommunikationsminister haben sie zu den Trends eingeladen -  und nicht zur Wahrheit.

Die zwei Tage dieser heute fortgesetzten Tradition waren personell schon immer recht deutlich getrennt: Techniker, Tüftler, Internetspezialisten am einen Tag, Medienfachleute, Journalisten, Kriegsberichterstatter am anderen. Krawatten, IBM-Köfferlein am ersten, Pullis und Turnschuhe am zweiten Tag.

Das Ziel der Kommunikationstage war aber eigentlich stets, die beiden Disziplinen zu einer gemeinsamen Diskussion zu bringen, ihre gegenseitige Beeinflussung zu thematisieren. Doch wollte diese gegenseitige Durchdringung nie recht gelingen, reisten doch die Nadelgestreiften mit ihren Handys stets ab, bevor die zeitkritischen Pfeifenraucher umhüllt von ihren Schals die Bühne des Kongresshauses bestiegen.

Versuchen wir also nochmals eine Verbindung.

Wo ist der Link zwischen den dynamischen und proaktiven Informatikspezialisten und den  allwissenden Politikkritikern, zwischen Software und der geschliffenen Feder?

Haben Kommunikationsformen Einfluss auf den Inhalt der Kommunikation?

Oder klassisch gefragt: Wer folgt wem, die Form der Funktion oder die Funktion der Form? Was bewirken neue Kommunikationsmittel, was verändern sie?

Neue Kommunikationsformen verändern bisherige Formen, verdrängen sie aber nicht

Die Geschichte hat gezeigt, dass neue Medien die etablierten Medien kaum je verdrängen, sie jedoch sehr wohl verändern:

Das Fernsehen hat die Zeitung nicht abgelöst, es hat sie verändert.
Gratiszeitungen bedrängen die Bezahlzeitungen zwar, sie haben sie aber nicht verdrängt: sie sind jedoch daran, sie zu verändern.
Das E-Mail hat den Brief nicht völlig verdrängt, ihm aber eine andere Bedeutung gegeben, genauso wie
das SMS das Mail nicht verdrängt, ihm aber seinerseits eine neue Bedeutung zuweist.
Und genauso wenig haben Blogs Zeitungen abgelöst, wie das zum Teil von Verlegern vorausgesagt wurde. Nichtsdestotrotz betrachten viele Journalisten neue Blogs heute noch als bedrohliche Konkurrenz.

Die digitale Revolution hat also nicht alles auf den Kopf gestellt. Ende der 90er-Jahre fürchtete z.B. mancher Buchverleger um die Zukunft des Buches. Heute kostet das E-Book dieselben Verleger nur noch ein müdes Lächeln. Manch investitionsfreudigen Unternehmer hat das vermeintliche Zukunftsmedium E-Book aber eine Stange Geld gekostet. Anders gesagt: Manche Krawatte wird kürzer, wenn der Tag lang wird.

Das E-Book hat das Buch nicht verdrängt, es hat es nicht einmal verändert. Es war ein Flop, auch das gibt es.

Andere neue Medien und Kommunikationsformen waren erfolgreicher. Sie sind alltäglich geworden und haben auch unseren Alltag und unser Verhalten verändert:

Neue Kommunikationsformen raffen die Zeit und haben deshalb eine andere Wirkung

Franz Kafka wusste es. Die Übermittlungsdauer verändert den Inhalt seiner Briefe. An Milena schrieb er:

„Bei jedem Brief, den man schreibt, trinkt ein Gespenst die Küsse aus, bevor er ankommt, vielleicht sogar bevor er abgeht, so dass man schon wieder den nächsten schreiben muss."

Diesen Nachteil haben SMS nicht, sie sind zu schnell für durstige Gespenster: Ein SMS fährt sofort ein. Die also versandten Küsse landen bei der Destinatärin zeitgleich mit dem  Drücken der Taste „senden". Das SMS gleicht Heinrich Heines Umschreibung der Liebe, nämlich einem elektrischen Strahl, der über Kontinente hinweg Menschen verzaubert.
Aber es geht nicht nur um romantische Gefühle und Küsse. Auch Staaten kommunizieren heute in Echtzeit. Und nicht immer dient das dem Frieden: Dass neue Kommunikationsformen nicht nur mit friedlichen Absichten eingesetzt werden, wurde an den Comdays auch schon diskutiert. Ulrich Tilgner hat uns hier Erschreckendes aus dem Irak berichtet.
Ein andermal in der Geschichte konnte die Friedensnachricht ihre Wirkung nicht entfalten, weil ihre Übermittlung Zeit beanspruchte:

Der 2. amerikanische Unabhängigkeitskrieg wurde am Weihnachtstag 1814 im belgischen Gent mit einem Friedensvertrag beendet. Die letzte Schlacht dieses Krieges wurde aber erst 14 Tage später in New Orleans ausgefochten. Die Überfahrt über den Atlantik dauerte damals noch über 20 Tage. Die Friedensbotschaft kam ganz einfach zu spät an. Die Nachricht vermochte die Zeit ihrer Übermittlung nicht einzuholen. Der Inhalt der Nachricht konnte seine Wirkung nicht entfalten, solange er nicht übermittelt war.

Es gibt auch das Umgekehrte, dass die Nachricht die Zeit überholt:

An der UNO Generalversammlung vor wenigen Wochen musste ich der Schweizer Tagesschau mein Votum kommentieren und auch schon von Reaktionen anderer Minister und Präsidenten auf dasselbige berichten, obwohl das Votum noch gar nicht gehalten war, geschweige denn Reaktionen darauf erfolgt wären. Doch das war wegen der Zeitverschiebung nötig, weil die Schweiz sonst nie erfahren hätte, dass ich an der UNO gesprochen habe.

Diese Episode führt uns zu einer weiteren Veränderung:

Neue Kommunikationsformen verschieben die Verantwortung für die Auswahl der Inhalte

Es ist noch nicht lange her, da war die Schweizer Tagesschau ein Monopolmedium. Der Beitrag über die UNO hätte damals noch getrost am nächsten Tag gesendet werden können (vielleicht noch besser recherchiert und noch seriöser kommentiert). Mittlerweile steht die Tagesschau in Konkurrenz zu zahllosen anderen Sendern und Medienformaten. Dieser Konkurrenzkampf ist heute auch ein Wettlauf mit der Zeit. Ein Wettlauf, in dem schnell sein nicht alles ist, aber ohne Tempo nichts geht.

Früher drehte die Tagesschau in gemächlichem Laufschritt einsam ihre Runden im Medienstadion, beschallt von Radio Beromünster. Das Publikum im Stadion wusste, was es zu schauen hatte, nämlich die Tageschau, und was es zu hören hatte, Radio Beromünster.

Heute jagt ein dicht gedrängtes Medienfeld über die Bahn, und aus Dutzenden, aus Hunderten von Lautsprechern überschlagen sich die Kommentatorenstimmen.

Das Publikum muss sich zudem entscheiden, ob es das Geschehen nicht doch besser über Handy-TV verfolgt. Oder doch lieber an einem Public-Viewing-Event, mit vibrierendem Handy am Hintern? Oder in einem Blog gleich selbst kommentiert?

So knapp das Angebot früher war, so grenzenlos ist es heute. Statt Knappheit der Frequenzen und Kanäle ein Überfluss an Informationskanälen und -plattformen. So wird die Qual der Auswahl auf den Konsumenten verschoben und der sieht sich mit neuen Grenzen konfrontiert. Seine Zeit bleibt knapp, und er kann auch nur begrenzt Informationen aufnehmen.

Bis vor kurzem konnten wir uns an mehr oder weniger vertrauenswürdige Medien halten, welche die Informationen für uns aufbereiteten und für Qualität einstanden.

Und heute?

Nach welchen Kriterien und innert welcher halbwegs vernünftigen Zeit kann sich der moderne Konsument „seine Sendung" zusammenstellen?
Wie sollen wir erkennen, welche Informationen für uns wichtig sind?
Und auf welche Nachrichten sollen wir uns verlassen können, wenn alle über alle Kanäle publizieren und informieren?

Natürlich gibt es bereits heute hochkompetente, virtuose Mediennutzer, die ihr Medienmenu bereits selbst zusammenstellen: zur Vorspeise den Lieblingsblogger, zum Hauptgang den Lieblingskolumnisten aus der Lieblingszeitung und zum Nachtisch per Internet den Polit-Talk aus dem britischen Lieblingsradio.

Das Überangebot zwingt den Konsumenten ja geradezu, die Rolle des Gatekeepers zunehmend selbst zu übernehmen: Dieses Medium lass ich an mich ran, jenes nicht. Wie Petrus an der Himmelpforte muss der Medienkonsument die Zugangskontrolle höchst persönlich durchführen. Petrus machte das früher noch ganz undigital, heute braucht er wohl, wie wir, eine Set-Top-Box mit entsprechender Software, die schwarze und weisse Schafe sofort erkennt.

Dennoch wollen wir hoffen, dass die klassischen Medien ihre Funktion als Gatekeeper auch in Zukunft behalten wollen und dazu ihr Vertrauenskapital gegenüber den Konsumenten mehren, nämlich die Qualität.Der Leser wird es auch in Zukunft schätzen, dass seine Tageszeitung für ihn eine Auswahl vornimmt, für ihn filtriert, was wichtig ist und was nicht. Leser, Hörerin oder Zuschauer werden auch in Zukunft auf Marken wie z.B. die staatlichen Service-Public-Sender vertrauen, sie sind jedoch gerade deswegen darauf angewiesen, dass diese ihren Brand pflegen.

Die Medien werden als Marken, als Labels wichtig bleiben. Denn woran orientiert sich der Konsument im Meer der Angebote? Auch in Zukunft an dem, was er kennt und für gut befunden hat:

In grösseren Städten stehen uns mehrere hundert Restaurants zur Auswahl. Wir wissen aber in der Regel genau, welche Restaurants wir besuchen: nämlich immer wieder unsere vier oder fünf Lieblingslokale. 
Per Satellit sind derzeit rund 2000 Sender zu empfangen. Wie viele Sender sehen wir uns aber regelmässig an? Sieben, acht, vielleicht zehn?

Aus Sicht der klassischen Medien gilt also: Die Auswahl und die Qualität der Information bleiben nach wie vor zentral. Das gilt nicht nur für Nachrichtenformate, sondern für sämtliche Bereiche, nicht zuletzt und gerade heute auch für die Unterhaltung. Und zu guter Qualität sind theoretisch alle Medien, auch die neuen, in der Lage:

Das Bestreben nach Qualität und die Suche nach der Wahrheit sind unabhängig von der Kommunikationsform

Der Wahrheit ist es egal, in welchem Medium sie transportiert wird. Sie fährt gerne in einem langsamen Dampfer über den Ozean, sie steigt bereitwillig in einen engen Briefumschlag, sie hat nichts dagegen, in Blei auf Zeitungspapier gedruckt zu werden, sie lässt sich als digitaler Impuls in Sekundenbruchteilen auf einen Satelliten schiessen und erscheint ein Nichts später als elektronischer Liebesstrahl auf einem Handydisplay. Sie macht wirklich alles mit. Die Wahrheit ist medial unendlich transportflexibel.

Bloss: Das gilt alles genauso ... für die Unwahrheit.

Das Bemühen um Qualität, die Auswahl „relevanter" Nachrichten ist eine ethische Herausforderung, mit der jeder Profi unabhängig vom einzelnen Medium täglich konfrontiert ist. Ob in einem griechischen Theater, ob in einem Blog: Immer wird in begrenzter Zeit in einem begrenzten Raum eine Tatsache oder eine Meinung mitgeteilt. Die ethischen Fragen um Lüge und Wahrheit, Offenheit oder Vertuschung, um Manipulation und Aufklärung bleiben stets dieselben.

Die Suche nach der Wahrheit war schon immer ein Trend. Dass sie dennoch nie gefunden wurde, muss an der Seriosität, an der Professionalität, aber auch an der mangelnden Leidenschaft der Suchenden gelegen haben. Das ändert sich mit den diesjährigen Bieler Kommunikationstagen definitiv.

Heute finden wir den Trend. Morgen die Wahrheit.

Danke für Ihre Hilfe.

Heute der Trend, morgen die Wahrheit