Rede von Bundesrat Hans-Rudolf Merz an der Gründungsversammlung der Jungfreisinnigen Ausserrhoden; Herisau, 16. Februar 2008.

Was treibt junge Menschen zu einer freiheitsorientierten Partei? Erstens die Verteidigung der Freiheit gegen neuerliche Regulierungswellen. Zweitens das Lebensgefühl, das hinter dem Liberalismus und damit dem Freisinn steckt: Eine Zukunft mit vielen Freiheiten, Chancen und Möglichkeiten. Drittens die Weiterentwicklung unserer Philosophie: Der Liberalismus ist kein Dogma; er bedarf junger Ideen. Themen gibt es genug. Nach unserer liberalen These können Menschen und mit ihnen die Wirtschaft durch ein gutes Umfeld zu eigenem Wachstum animiert werden. Der Staat soll jedoch das Wachstum nicht anstelle des Menschen selber organisieren und generieren. Stattdessen soll und kann der Staat Anreize schaffen, Fehlanreize eliminieren, Regulierungen vereinfachen, formelle Harmonisierungen vornehmen und den Wettbewerb beaufsichtigen. Diese Grundsätze setze ich um.

Heute feiern wir die Gründung der Jungfreisinnigen von Appenzell Ausserrhoden. Sie wollen mit liberalem Gedankengut ins politische Geschehen eingreifen und bei den Lösungen für morgen mitwirken. Dazu gratuliere ich Ihnen herzlich. Ich wünsche Ihnen Erfolg und Spass. Vergessen Sie nicht: Die Politik ist etwas sehr Ernstes, aber man sollte sie fröhlich und optimistisch betreiben.

Ich werde mich in den nächsten Minuten mit zwei Fragen befassen, nämlich:

Was treibt junge Menschen zu einer freiheitsorientierten Partei?
Und was kann ich als doch schon älteres Semester für Sie und Ihre Zukunft tun?

Zuerst also: Warum freisinnig?

Es gibt natürlich viele Antworten. Sie haben mit dem Elternhaus, mit den eigenen Erfahrungen, vielleicht mit zufälligen Begegnungen zu tun.

Eine Antwort orientiert sich an den politischen Gegnern: Man will deren Ideen verhindern. Die neue Legislatur hat erst begonnen, und wie lautet der Forderungskanon an den Staat des neu gewählten Parlaments? Regulieren, verbieten, subventionieren, beaufsichtigen, vorschreiben, eingreifen, normieren, homologieren, harmonisieren, reglementieren, kontingentieren! Das sind gesellschaftliche und wirtschaftliche Kräfte, mit denen unser Land zurückgeworfen würde. So tötet man die Freiheit. So unterbindet man die Entfaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Verteidigung der Freiheit gegen eine neuerliche Regulierungswelle ist uns Motivation.

Eine weitere, wichtigere Antwort orientiert sich an unseren Werten. Der Liberalismus und damit der Freisinn sind weit mehr als eine Partei, sie sind ein Lebensgefühl. Es müsste doch all jenen, die unser kurzes Dasein als etwas Ureigenes, als etwas ganz Einmaliges geniessen und gestalten, das Anliegen sein, ein Lebensgefühl mit Herzblut zu vertreten, zu verbreiten, zu verteidigen. Ganz besonders spricht es eben Sie Junge an, die Sie sich eine Zukunft mit vielen Freiheiten, vielen Chancen und vielen Möglichkeiten vorstellen. Nicht der Staat soll sagen, wo es hingeht, sondern wir alle sollen den eigenen Weg und jenen der Privatheit beschreiten von A bis Z. Mit der Chancengleichheit sollen vor allem auch die Frauen endlich nicht nur von Freiheiten träumen, sondern diese in ihrem familiären, beruflichen und kulturellen Leben auch verwirklichen. Und allen Unternehmenden rufen wir zu, dass sie ihre Kreativität und Initiative ausspielen sollen, und dass wir ihnen den Rücken freihalten wollen von Fesseln und Zwängen.

Dem Freisinn gelingt es seit langem nicht mehr deutlich genug, dieses Lebensgefühl zu vermitteln, es landauf-landab zu verkünden, dem Liberalismus mit anderen Worten den Atem des freien Geistes und der gelebten Verantwortung einzuhauchen. Die Vorstellungen sind nämlich da, die Programme auch. Warum beim Stüx also Zurückhaltung und Zögern? Gerade junge Leute sehnen sich nach Freiheit und Unabhängigkeit. Sie sollten nicht zögern, ihre Stimme dafür zu erheben.

Wir Seniorenfreisinnigen brauchen Sie Jungfreisinnige jedoch nicht etwa nur als Sprachrohr. Nein, der Liberalismus ist zwar eine bewährte und humane Philosophie. Aber er wurde von Montesquieu und seinen Schülern eben nicht für alle Zeit dogmatisiert und also nicht in Stein gemeisselt. Er bedarf im Gegenteil der steten Weiterentwicklung. Ein eindrückliches Beispiel dazu ist die Entstehung der sozialen Marktwirtschaft nach dem 2. Weltkrieg. Deren Erfinder Röpke, Müller-Armack, Eucken & Co. waren urliberale Geister.

Der Liberalismus ist das Lebensgefühl mündiger, freier Männer und Frauen. In der ganzen Kultur unseres Landes ist der Freiheitsgedanke bekanntlich tief verankert; im Staat, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft. Aber jedes Zeitalter muss sich den Liberalismus neu aneignen und ihn nicht etwa neu erfinden.

Liberalismus ist also kein Endzustand. Er wird auch nicht über die Geburt automatisch von Generation zu Generation weitergereicht. Nein! Der Freiheitsdrang steckt zwar vielen Menschen tief in den Knochen. Aber das genügt nicht. Es braucht die dauernde Auseinandersetzung mit dem Liberalismus. Und wir brauchen junge Stimmen wie die Ihrigen, die unsere Überzeugungen wieder hinterfragen und weiterentwickeln.

Die Politik braucht nämlich immerzu reformorientierte Kräfte. Sie braucht Kämpfer sowohl gegen den Stillstand als auch die Polarisierung. Wer nicht an eine Zukunft denkt und glaubt, wird auch keine haben. Denn es gibt genug Bewahrer und Verharrer, die auf allen Gebieten Moratorien fordern, die sich nicht mit der Demografiefalle auseinandersetzen, denen der Schuldenberg kein Kopfzerbrechen bereitet, die sich mit der Verteilung der geringer werdenden Reichtümer begnügen oder die das Regelkorsett für Gesellschaft und Wirtschaft noch enger knüpfen wollen.

Themen gibt es genug, an denen wir Liberale arbeiten müssen. Hier ein paar Beispiele:

Wenn Technik und Informatik die totale Überwachung und den gläsernen Bürger ermöglichen, dann muss der Liberale den Schutz der Privatheit zur Seite stellen.
Wenn Wissen und Technologie auszuufern drohen und nicht mehr bewältigbar scheinen, dann muss der Liberale für Bildung und Chancengleichheit sorgen.
Wenn Klima und Mobilität nicht mehr getraut wird, dann muss der Liberale die verträglichen Massnahmen aufzeigen.
Wenn Sicherheit und Rechtsstaat zu verstärken sind, dann muss der Liberale für menschengerechte Lösungen einstehen.
Wenn der soziale Bereich reformiert wird, dann muss der Liberale für Gerechtigkeit sorgen; er muss jene stärken, die den Schwachen helfen können und den Erfolgreichen belohnen, nicht bestrafen.
Wenn der Staat übermässig wächst, dann muss ihn der Liberale auf Eigenverantwortung, Augenmass und Kernaufgaben zurückbinden.

Vieles deutet daraufhin, dass mit dem Zerfall des Kommunismus, mit der Globalisierung der Wirtschaft und mit der Internationalisierung der Politik derzeit ein neues Zeitalter entsteht. Das, liebe Freunde, muss die Stunde der Liberalen sein! Wir müssen unsere Werte an diese Entwicklungen legen, wir müssen unsere Werte sogar zum Massstab für diese Entwicklungen machen. Die eidgenössischen Wahlen haben gezeigt, dass wir inhaltlich auf dem richtigen Weg sind. Sie haben aber auch gezeigt, dass wir die Reform des Liberalismus in der neuen Zeit noch bei weitem nicht abgeschlossen haben. Eine faszinierende Herausforderung steht uns bevor. Eine Aufgabe ganz nach dem Geschmack freier, liberaler Geister.

Nun zur zweiten Frage: Was kann ich als Finanzminister zugunsten Ihrer Generation heute vorkehren?

Lassen Sie mich dazu ein Bild aus der Natur entlehnen. Wachstum in der Natur ist das Zusammenspiel zwischen dem genetischen Netzwerk und äusseren Signalen (wie Licht und Temperatur). Die Wahl der Signale und Anreize ist entscheidend für das Auslösen und für die Qualität des Wachstums. Wo solche Anreize fehlen, findet Wachstum trotzdem statt. Nur kommt es dann zu Wucher oder zu Missbildungen.

Wenn Wachstum offensichtlich in der Natur bei guten Anreizen, Strukturen und Signalen besser gedeiht, warum soll dies nicht auch für den Menschen gelten? Wir leben doch auch von Anreizen. Er gibt uns Menschen mit anderen Worten die Motive für unsere Entfaltung, das heisst für den Beruf, die Familie, die Kultur, das Sozialverhalten. Wir leben von Strukturen. Unser Staat muss stark und gleichzeitig schlank sein. Wir leben von Signalen, das heisst von unseren Tugenden. Diese sind Eigenverantwortung, Toleranz, Augenmass, Gemeinsinn und Fortschritt.

Unsere liberale These lautet, dass Menschen und mit ihnen die Wirtschaft durch ein gutes Umfeld zu eigenem Wachstum animiert werden können. Der Staat soll jedoch das Wachstum nicht anstelle des Menschen selber organisieren und generieren, weil es dann - um beim Bild aus der Natur zu bleiben - zu schwach ausfällt oder Wucherungen oder Missbildungen provoziert.

Stattdessen soll und kann der Staat:

Erstens Anreize schaffen,
zweitens Fehlanreize eliminieren,
drittens Regulierungen vereinfachen,
viertens formelle (nicht jedoch materielle) Harmonisierungen vornehmen und
fünftens den Wettbewerb beaufsichtigen.

Diese fünf Prinzipien setze ich um.

Ein nahe liegendes Beispiel ist die Unternehmens-Steuerreform, über die wir in 2 Wochen abstimmen. Alle erwähnten fünf Prinzipien sind in den verschiedenen Massnahmen zur Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen für die KMU enthalten. Die Reform soll vor allen Dingen Anreize setzen und Fehlanreize abschaffen.

Noch ein paar Worte zur Frage, was ich zugunsten der nächsten Generation als Finanzminister vorkehren kann.

Unser Land - soviel zur Ausgangslage - kann nach Jahren hoher Defizite und wachsender Schulden auf eine sehr erfolgreiche Legislatur zurückblicken. Die Trendwende ist geschafft. Seit 1848 gelang zum ersten Mal in ein und derselben Legislatur gleichzeitig Steuern (Milderung der Heiratsstrafe) zu senken, Ausgaben (um 5 Mia.) zu senken und Schulden (um 10 Mia. auf 120 Mia.) zu senken.

Die Schuldenbremse und eine kontinuierliche Finanzpolitik von Bundesrat und Parlament führten diese Entwicklung herbei. Gesunde Staatsfinanzen schaffen Vertrauen bei den Steuerzahlenden, in der Wirtschaft, im Ausland. Gesunde Staatsfinanzen sind aber vor allem auch die beste Voraussetzung für Sie und die Jugend. Dank gesunden Finanzen haben Sie Handlungsspielraum, können Sie Ihre eigenen Vorstellungen und Visionen verwirklichen. Mit der Trendwende ist die Entwicklung jedoch noch nicht am Ende. Der Bundesrat will sicherstellen, dass das Ausgabenwachstum begrenzt wird. Nämlich mit der Erweiterung der Schuldenbremse auch auf ausserordentliche Ausgaben. Mittels der Aufgabenüberprüfung will der Bundesrat sodann, dass die Ausgaben nur noch proportional zu Teuerung und Realwachstum steigen. Erst dies ist eine generationenverträgliche Finanzpolitik.

Ein wegweisender Entscheid wird das laufende und das nächste Jahr prägen. Nämlich die Erneuerung der Personenfreizügigkeit, wie wir sie bereits mit 25 EU-Staaten kennen, sowie die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf die zwei neuen EU-Mitglieder Rumänien und Bulgarien. Es ist heute nicht der Moment, inhaltlich auf die beiden Geschäfte einzugehen. Jedoch betrifft diese Fragen die junge Generation ausserordentlich. Denn die Personenfreizügigkeit gewährt aufgrund der Einfachheit der Regelungen Chancen der persönlichen Entwicklung und Entfaltung, von der ich als 20-jähriger zur Zeit des Kalten Kriegs nicht einmal zu träumen wagte. Als lupenreiner und waschechter Liberaler werde ich gerade im nächsten Jahr für die Erhaltung dieser eben erst erworbenen, eminenten persönlichen Freiheit kämpfen.

Daneben gibt es die zahllosen Anliegen, die sich vielfach direkt und handfest an die Jugend richten:

Was muss sich heute ein Junger, der sich selbstständig machen will, alles aneignen? Wer von zuhause wegzieht, wird konfrontiert mit detaillierten Vorschriften zu Mietverträgen. Wer 18 wird, erhält erstmals seine Steuererklärungen mitsamt endlosen und schwer verständlichen Formularen. Wer ein eigenes Bankkonto eröffnet oder einen Kredit benötigt, muss Intimes preisgeben. Wer Unternehmer werden will, dem möchte ich fast empfehlen, sich gar nicht erst mit all den Vorschriften auseinanderzusetzen. Jeden Tag stellt der Staat dem Jungunternehmer Hürden bezüglich Arbeitsrecht, Sozialversicherung    oder der Besteuerung.

Darum will ich, dass den Leuten möglichst viel im eigenen Portemonnaie bleibt; das sichert unseren Wohlstand. Darum will ich gesunde Staatsfinanzen; sie gewähren der nächsten Generation Handlungsspielraum für die eigenen Vorstellungen und Visionen. Darum will ich, dass Unternehmende bei der Arbeit und nicht im Verkehr mit dem Staat schwitzen; nur das ist produktiv. Darum will ich die europaweit einfachste Mehrwertsteuer; sie bringt volkswirtschaftliche Vorteile. Ich weiss mich mit diesen Überzeugungen durch die FDP voll unterstützt.

Wie Sie habe ich die politische Laufbahn mit genau solchen praktischen Fragen als junger Ausserrhoder begonnen. Dabei habe ich den Liberalismus zeitlebens nicht aus den Augen verloren. Er diente mir bei allen Entscheidungen, er ist mein Lebensgefühl geworden. Ich bin damit sogar Bundesrat geworden.

Sie sehen: es lohnt sich für den Liberalismus, für die Freiheit, für die Chancen-Gleichheit einzustehen. Bei den Jungfreisinnigen ist die Zukunft am besten aufgehoben. Sie verstehen den Liberalismus als ein Lebensgefühl, als ihr Lebensgefühl. Liebe Jungfreisinnige: auf in die Arena!

Der Liberalismus als Chance für die nächste Generation