Einleitende Rechtfertigung

Ob Bundesrat, ob Minister, wir haben zuhause immer unsere liebe Mühe, die eigene politische Überzeugung umzusetzen, wir hadern mit Kritik und Widerständen, die uns entgegenbranden, doch, oh Wunder, kaum übertreten wir die Landesgrenzen, berichten wir selbstbelobigend und mit geschwellter Brust über die heimische Politik, denn wer will schon als Nestbeschmutzer auftreten. Eigentlich gebe ich mir immer Mühe, diesem Trend zu widerstehen. Wenn ich heute dennoch etwas aus der Schweiz erzähle, ist das darauf zurückzuführen, dass ich von Ihnen expressis verbis als Botschafter des diesjährigen Gastlandes Ihres Kongresses eingeladen bin und Sie ausdrücklich erwarten, einige schweizerische Besonderheiten erläutert zu erhalten:

Die Schweiz als direkte Demokratie

Meine politische Arbeit ist geprägt von der direkten Demokratie unseres Landes. Sie bestimmt den politischen Prozess und damit auch die materielle Politik, denn Form und Inhalt sind untrennbar miteinander verbunden.

Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wählen nicht nur alle vier Jahre das Parlament, sondern reden auch bei allen wichtigen Sachfragen mit. Wegen der zahlreichen Volksentscheide in unserem Land wird die Schweiz bisweilen auch als Referendumsdemokratie bezeichnet. Über jedes Gesetz ist bei uns ein Referendum möglich und zu jedem Gegenstand kann eine verbindliche Initiative eingereicht und zur Abstimmung gebracht werden.

Das sind nicht "Plebiszite", denn ob es zu einer Volksabstimmung kommt, entscheidet nicht ein Staatschef wie in Frankreich.

Es gibt auch kein Beteiligungsquorum, damit ein Volksentscheid überhaupt gültig ist, wie in Italien. Und die notwendigen Unterschriften für ein Referendum müssen auch nicht innerhalb einer Woche gesammelt werden wie in Österreich. Und wenn das Volk an der Urne seinen Entscheid fällt, hat die Regierung das zu akzeptieren.

Die harten Bretter der direkten Demokratie

Die direkte Demokratie macht aber den Weg zum Ziel nicht kürzer und einfacher. Gesetzesentwürfe haben einen langen politischen Prozess zu bestehen und müssen deswegen mehrheitsfähig sein, referendumstauglich, wie wir das nennen.

Das bedeutet mehr als die blosse Kalkulation einer Mehrheit von mehr als 50% der Stimmenden. Es muss ein Entscheid sein, den alle akzeptieren können. Auch die Minderheit.

Die Mehrheit muss also ihren Entscheid vor der Minderheit legitimieren können. Ein rein quantitatives Obsiegen würde die Rechte der Minderheit verletzen. Das sind die qualitativen Anforderungen an die direkte Demokratie, die nicht immer ganz einfach zu erfüllen sind.

Das gilt auch für die Energiepolitik, wo ein Ausgleich zwischen Verbrauchern, Stromproduzenten und den Bergkantonen, welche Wasserkraft produzieren, anzustreben ist. Dazu kommen die politischen Parteien, welche sich je nach Grundüberzeugung entweder vorwiegend ökologisch, ökonomisch oder sozial ausrichten.

Akzeptable Lösungen benötigen in einer direkten Demokratie oft mehrere Anläufe. Die nötige Einsicht, um einen echten Kompromiss zu finden, ist manchmal erst nach einem Nein der Stimmbürger vorhanden.

Eine Energiepolitik, die von den Stimmbürgern nicht getragen wird, hat keinen Erfolg. Diese Erfahrung machte die Schweizer Regierung bei der Liberalisierung des Strommarktes.

Die Öffnung des Elektrizitätsmarktes

Die Öffnung des Schweizer Strommarktes ist 2002 beim ersten Anlauf gescheitert. Drei Viertel der Schweizer Elektrizitätsversorgung war damals Eigentum der öffentlichen Hand. Das heisst von Kantonen, Gemeinden und Kooperationen. Die Eigentumsverhältnisse sind historisch gewachsen. Patriotisch ausgedrückt: Die Stromwirtschaft war Schweizer Volkseigentum und gehört zum so genannten "Service public", was nicht genau dasselbe ist wie der deutsche Ausdruck "Grundversorgung", (welche nicht notwendigerweise durch den Staat selber erbracht werden muss). Dieser garantierte über Jahrzehnte eine sichere Stromversorgung ohne Monopolstellung eines Stromgiganten. Die Befürchtungen, dass es bei einer raschen Liberalisierung zu rasanten Preisanstiegen kommen könnte und die Versorgungssicherheit nicht mehr garantiert sei, brachten die Vorlage zu scheitern.

Von der Liberalisierung zur Versorgungssicherheit

Die Schweizer Stimmbürger befürworteten die Liberalisierung erst in einem zweiten Anlauf, als die nötigen Leitplanken im Gesetz eingebaut wurden.

Das heisst eine etappenweise Öffnung des Marktes, eine Öffnung auf Probe gewissermassen. Ab nächstem Jahr für Grossverbraucher. Erst 2014 sollen auch kleine Firmen und Haushalte den Zutritt zum Markt erhalten. Wobei diese Etappe erneut dem fakultativen Referendum untersteht.
Das heisst aber auch eine sichere Grundversorgung: Das Gesetz gewährleistet ein Anschlussrecht der Konsumenten in allen Regionen zu einem angemessenen Preis.
Diese sichere und erschwingliche Versorgung wird durch eine Elektrizitätskommission (ElCom) überwacht.
Der Strom soll zudem nicht nur sicher, sondern auch sauber fliessen. In die zweite Vorlage wurde deshalb noch eine Förderabgabe eingebaut, um die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien zu entschädigen.

Die Kernenergie und die direkte Demokratie

Die Zukunft der Kernenergie wird unsere direkte Demokratie zweifellos fordern.

Der Weg zu einem Kernkraftwerk ist in einer direkten Demokratie zudem beschwerlich und teuer. Über den Bau eines solchen Werkes entscheidet in der Schweiz nicht die Regierung, sondern entscheiden die Stimmbürger.

Kernkraftwerke erleben zurzeit in vielen Köpfen eine Renaissance. Rein klimapolitisch betrachtet mit guten Argumenten. Allein auf diese Karte zu setzen ist aber politisch heikel.

Das musste die Schweiz in der Vergangenheit erfahren. In den 70er Jahren verhinderte der massive Widerstand der Bevölkerung den Bau des geplanten KKW Kaiseraugst. Der Konflikt kulminierte 1975 in der Besetzung des Baugeländes durch die Gegner. Obwohl der Bund die Rahmenbewilligung bereits erteilt hatte, musste auf die Realisierung verzichtet werden. Planungsinvestitionen von über 1 Mia Franken gingen dabei verloren.

Bewilligungsverfahren und die absehbaren Referendumsabstimmungen führen dazu, dass ein neues KKW erst in rund 15 - 18 Jahren seinen Betrieb aufnehmen könnte. Zu spät, um den in rund fünfzehn Jahren erwarteten Versorgungsengpass zu schliessen.

Eine Mehrheit allein für die riskante und umstrittene Atomtechnologie zu gewinnen, ist ein schwieriges Unterfangen.

Berücksichtigung möglicher späterer Argumente gegen KKW

Ein erstes Argument gegen neue KKW ist die ungelöste Frage der nuklearen Abfälle. Doch auch der Standort der Endlagerung der radioaktiven Abfälle untersteht wiederum einem Referendum.

Die Stimmbürger lassen sich sodann wohl nur dann von einem neuen KKW überzeugen, wenn nachvollziehbar aufgezeigt wurde, dass alle anderen Möglichkeiten, die Stromversorgung sicherzustellen, ausgeschöpft wurden.

Es lohnt sich deshalb für einen Schweizer Energieminister (und übrigens auch für die Stromindustrie), die Stromversorgung möglichst variantenreich anzugehen. Es braucht eine kombinierte Strategie,

die das vorhandene Energiesparpotential ausschöpft.
die erneuerbare Energien fördert.
eine Strategie, die auf den Bau konventioneller Kraftwerke setzt. Das sind Gaskombikraftwerke und die Option Kernenergie.

Diese kombinierte Strategie braucht es auch deshalb, weil Energiepolitik und Klimapolitik heute nicht mehr zu trennen sind.

Energie- und Klimapolitik sind miteinander verzahnt

Wir haben deshalb die Klima- und Energiepolitik eng miteinander verknüpft. Die Verbesserung der Energieeffizienz und der Ausbau des Anteils der erneuerbaren Energien am gesamten Energieverbrauch sind Kernpunkte des bundesrätlichen Massnahmepakets. Mit den energiepolitischen Aktionsplänen will die Schweizer Regierung die Energieversorgung sicherstellen, aber auch einen aktiven Beitrag gegen den Klimawandel leisten.

Direkte Demokratie und nachhaltige Politik

"Von dieser mühsamen Staatsform werdet Ihr ja wohl gelegentlich einmal abrücken müssen", höre ich immer wieder, auch der deutsche Bundespräsident hat mir das einmal gesagt. Doch ich will betonen, dass auch die direkte Demokratie viel langfristiger und strategischer funktioniert, als man von aussen glauben möchte. Direkte Demokratie bedeutet beileibe nicht nur langwierige Prozeduren und Verhinderung. Die Stimmbürger greifen mitunter sehr gestaltend und mit nachhaltiger Wirkung in die Politik ein. Die Schweizerische Verlagerungspolitik wurde durch eine Volksinitiative ausgelöst. Die so genannte "Alpeninitiative". Sie verlangte eine Verlagerung des alpenquerenden Lastwagenverkehrs auf die Schiene. Der Verfassungsartikel wurde 1994 vom Volk gegen den Willen der Regierung angenommen.

Politische Umsetzung bedingt Kompromisse und Innovationen

Eine ist die leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA), mit der die geforderte Verkehrsverlagerung finanziert wird. Sie ist heute Teil des Landverkehrsabkommens mit der EU und gilt auch für europäische Lastwagen. Im Gegenzug verpflichtete sich die Schweiz, die NEAT zu bauen. Mit der Alpentransversale soll die notwendige Transportkapazität für die Verlagerungspolitik geschaffen werden. Anstoss für diese Politik war der direkte Willen des Volkes. Der Schwerverkehr auf den Strassen wurde merkbar gebremst und hat bei der Verlagerung des Transitverkehrs auf die Schiene zu einer Trendwende geführt.

Der Alleingang ist nicht möglich

Eine LSVA in der Schweiz ohne kompatible MAUT im restlichen Europa nützt wenig. Solange nur die Schweiz eine Schwerverkehrsabgabe erhebt, bleibt die Verlagerungspolitik unvollendet. Eine nachhaltige Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene ist eine europäische Aufgabe. Ein Land alleine kann grenzüberschreitende Probleme nicht im Alleingang lösen. Gegenwärtig möchten wir eine Transitbörse für den alpenquerenden Güterverkehr auf der Strasse einführen. Die Idee kommt ausgerechnet von den Börsen, wie sie die EU für den Stromtransit durch unser Land praktiziert. Auch Infrastrukturnetze enden nicht an Landesgrenzen. Ohne internationale Vernetzung fällt die elektrische Spannung in einem Land rasch einmal ab. Dass die Schweiz mit der EU existentiell vernetzt ist, mussten wir spätestens im September 2003 erfahren. Ein umgefallener Baum am Lukmanier Pass verursachte in Italien einen veritablen Blackout.

Internationale Vernetzung

Dieser Vorfall erschütterte bei manchem Patrioten den Mythos von der hydroelektrischen Insel im Herzen Europas. Dank unseren Bergen ist Wasser die wichtigste einheimische Energiequelle. 60% unseres Stroms produzieren wir mit Wasserkraft. Das beruhigt das ökologische Gewissen und führt bei vielen Schweizern zum Irrglauben, dass es sich beim Strom aus der Dose automatisch um quellfrischen Alpenstrom handelt. Die Gletschermilch dieser frommen Denkungsart wird bei näherem Hinsehen etwas getrübt:

Auch die Schweiz ist keine hydroelektrische Insel mehr

Allein könnte die Schweiz ihren Strombedarf nicht mehr decken und ist im Winter auf Importe angewiesen. Umgekehrt sind unsere Nachbarländer an sauberem Spitzenstrom aus unseren Wasserkraftwerken interessiert. Das führt zur grotesken Situation, dass unsere Energieversorgungsunternehmen einen grossen Teil unserer Wasserkraft für gutes Geld ins Ausland exportieren und dafür günstigen Kernenergie- oder Fossilstrom einkaufen. Am saubersten ist der Schweizer Strom nur noch in den Köpfen. Die Realität sieht weniger rein aus.

Gaskombiwerke: Betrachtung über die Grenzen notwendig

Im Bestreben, den CO2-Ausstoss in unserem Lande zu reduzieren, verpflichtete das Parlament Gaskraftwerke zu einer Kompensation ihres CO2-Ausstosses - und zwar zu 70% in unserem eigenen Land. Die Folge davon ist, dass Schweizer Unternehmungen in solche Kraftwerke in Italien und Deutschland investieren, wo keine solche Kompensation erforderlich ist. Die globale CO2-Bilanz wird dadurch schlechter, als wenn die bei uns vorgeschriebene Abgabe auch für Gaskraftwerke toleriert worden wäre. Wirklich nachhaltige Politik kann daher nur mit Blick über Landesgrenzen erfolgen.

Nachhaltige Energiepolitik als langfristiger Prozess

Unsere ganze Infrastruktur und unser Alltag basieren auf Energie. Deshalb streben wir eine verlässliche und günstige Energieversorgung an. Gleichzeitig soll diese Energieversorgung die Umwelt und das Klima möglichst schonen, also mit den Ressourcen haushälterisch umgehen, die Wirtschaft nicht behindern und den Komfort des einzelnen Bürgers nicht unnötig beschneiden. Mit anderen Worten, eine nachhaltige Energiepolitik betreiben. Diese Vorgaben führen automatisch zu verschiedenen Zielkonflikten und Widersprüchlichkeiten. Den Interessensausgleich zwischen Ökologie und Ökonomie zu finden, gehört jedoch zum Alltag eines Infrastrukturministers.

Über Jahrzehnte gewachsene Gewohnheiten und Paradigmen einer Überfluss-Gesellschaft müssen in Zeiten der Knappheit justiert werden. Den Interessensausgleich zwischen Ökologie und Ökonomie zu finden, gehört daher zur Arbeit eines Infrastrukturministers. Dabei geht es nicht nur immer um den Zielkonflikt zwischen Wirtschaft und Umwelt. Es geht durchaus auch um Zielkonflikte innerhalb der ökologischen Diskussion: Windenergie oder höhere Staumauern gegen Landschaftsschutz.

Der Bürger wünscht sich eine nachhaltige Energiepolitik. Die grosse Mehrheit der Schweizer Konsumenten möchte nicht nur günstigen, sondern auch sauberen Strom aus erneuerbaren Energien. Das zeigen repräsentative Umfragen. Es freut mich deshalb, dass viele unter Ihnen seit langem nach Alternativen suchen und auch in solche investieren.

Die Produktion von Alternativen Energien ist längst kein Tummelfeld mehr für Phantasten und grüne Bastler.

Sonne und Wind als volkswirtschaftliche Objekte

Ihnen das zu erläutern, wäre Wasser in den Rhein getragen. Es war vor zwei Jahren, als Sigmar Gabriel hier in Essen zur "Dritten Industriellen Revolution" aufgerufen hatte. Deutschland und Japan sind unterdessen zu den führenden Produzenten von Solarzellen geworden.

Trotzdem ist der Anteil an erneuerbaren Energie immer noch zu klein. Der Markt schafft die Trendwende in der Energieversorgung nicht. Es braucht dazu Anreize und Leitplanken vom Staat.

Das können marktwirtschaftliche Lenkungsmechanismen wie Bonus-Malus-Systeme sein.

Aber auch technische Vorschriften oder gar Verbote.

Die richtige Mixtur aus Anreizen und Vorschriften zu finden, sorgt in der politischen Auseinandersetzung regelmässig für Reibereien. Lösungen ergeben sich dabei oft nicht beim ersten Anlauf. Aber Reibung erzeugt Energie. Energie um gemeinsam einen Schritt weiter zu kommen.

Von den indirekten Pfaden der direkten Demokratie