Betreten wir die Uni nicht durch den Haupteingang vom Zürichberg her, sondern steigen wir vom Niederdorf hinauf, und bangen wir nicht gerade gebeugten Hauptes einer Prüfung entgegen, sondern schreiten aufrechten Ganges hinan, ist sie nicht zu übersehen, die durch zwei Löwen gestützte Inschrift "Durch den Willen des Volkes".

Die Universität Zürich ist die erste Hochschule in Europa, die nicht von einem Landesfürsten oder der Kirche, sondern einem demokratischen Staatswesen gegründet wurde. Die Stimmbürger wollten eine Institution, welche sie mit Wissen und Erkenntnissen versorgt. Kein Tempel, sondern ein bodenständiger Schulhausbau wurde geschaffen. Kein geschütztes Biotop zum Selbstzweck, sondern eine Einrichtung, die dem Bürger wieder etwas zurückgibt und ihm bei der Gestaltung von Staat und Gesellschaft behilflich sein soll.

Selbstverständlich hatte ich als Student immer nur diese eine Inschrift im Kopf und drängte danach, die als Jusstudent erworbenen Erkenntnisse

über die Grundsätze "in dubio pro reo",
über die Gewaltentrennung und
die individuellen Freiheitsrechte umgehend in die Praxis umzusetzen.

Nach Abschluss des Lizentiates schritt ich also wieder von der Universität hinab in den "Kreis 4", wo das Bezirksgebäude steht, und trat eine Stelle als Auditor an (eine Art Hilfsgerichtsschreiber). In der ersten Verhandlung ging es um einen Angeklagten, der wegen falscher Bedienung eines Fotokopierers der fahrlässigen Brandstiftung angeklagt war. Über den Sachverhalt wurde ein Zeuge befragt. Seine Aussagen waren klar: Es war gar nicht der Angeklagte, der den Kopierer bediente. Doch in der Urteilberatung bestand der Richter auf einer Verurteilung mit folgender Begründung: "Der Zeuge lügt." "Wieso denn, seine Aussagen waren doch widerspruchsfrei und glaubwürdig?" "Ja schon, aber er ist ein Tscheche und alle Tschechen lügen." (Um nicht ungerechte Verdächte aufkommen zu lassen: Der Richter gehörte meiner eigenen Partei an.) Da ich diesen Entscheid, gegen den sich mein ganzes erlernte Wissen, aber auch meine tiefe innere Überzeugung sträubte, anschliessend begründen sollte, erfuhr ich so auch die mentalen Nebenwirkungen des Kollegialitätsprinzips.

Es steht ausser Zweifel:

Jener Richter schöpfte in seinem Berufsalltag nicht mehr von den Erkenntnissen, die an der Uni erarbeitet wurden, jener Institution, die er notabene selbst einmal besucht hatte.
Nein, da wurde kein Wissen mehr geteilt. Er blieb oder wurde immun gegen die Vernunft der Aufklärung und verharrte in alten Vorurteilen.

Er war nicht der einzige. Und er ist auch heute nicht der einzige.

Wie oft kann sich doch wissenschaftliche Vernunft nicht durchsetzen gegen das Bollwerk dumpfer Vorurteile. Auch wenn die rationale Argumentation hell wie die Sonne strahlt, gibt es doch ungerührte Gespenster, die bleiben im kalten Mondschein hocken: Aufwendige Studien werden mit ein paar saloppen Sprüchen ins Lächerliche gezogen und somit scheinwiderlegt, ohne dass sie je gelesen wurden.

Gegenüber der Klimaforschung: Seit zwanzig Jahren gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse, wonach der Klimawandel stattfindet und dass er durch Menschen gemacht ist. Und dennoch höre ich hier in der Schweiz immer wieder, das sei bloss eine unbewiesene These.
Gegenüber den Sozialwissenschaften: Warum soll nicht über die Herkunft der Raser aus dem Balkan offen gesprochen werden oder über diejenige der Mörder von Locarno? Wir können nämlich auch diese Erkenntnisse vorurteilsfrei und aufgeklärt nutzen mit ursachengerechten Massnahmen sowohl für die Opfer als auch für die Täter.
Gegenüber der Jurisprudenz: Vor wenigen Tagen las ich in einer Überschrift, wie eine Strafrichterin ihren Beruf umschrieb, nämlich:
"Ich habe Taten zu beurteilen, nicht Menschen." Vielleicht war es ja auch eine mediale Zuspitzung und geht nicht auf ihre Kappe; sonst müssten wir uns fragen, wo hat die Frau studiert? Und vor allem wann? Offenbar vor Gründung der Zürcher Universität.
Und wie ist doch die ganze Energiepolitik von Glaubensmaximen durchdrungen.

Ich erinnere mich, als ich zur sofortigen Schliessung des Schrotthaufens Mühleberg aufgefordert wurde. Grosse Erleichterung, unendliche Gratulationen, als ich eine wissenschaftliche Expertise bei der deutschen TüV erstellen liess, denn, so hiess es: "Raffinierter Schachzug, die TüV muss die sofortige Schliessung empfehlen." Als die Studie jedoch genau das Gegenteil, nämlich die Sicherheit von Mühleberg festhielt, verrückte das nicht eine einzige Meinung. Dieselben Nationalräte wussten jetzt: "Skandal, die Studie wurde bei der falschen Stelle in Auftrag gegeben."

Doch geben wir acht. Es ist ja nicht so, dass an der Uni die reine Wahrheit entdeckt und unumstössliche Erkenntnisse entwickelt würden, welche das tumbe Volk und die sturen Politiker partout nicht verstehen und anwenden wollten. Es ist auch nicht so, dass oben im universitären Lichthof der helle Kopf regiert und unten im Smog der Realpolitik der egoistische Bauch reagiert.

Wir sind alle Menschen und unsere Arbeit, wo immer wir sie verrichten, ist vom Verstand und vom Gefühl geleitet. Die wissenschaftlichen Arbeiten, welche ein baldiges totales Waldsterben voraussagten, waren ein Beispiel dafür. Da wurde auch von akademischer Seite eine Panik erzeugt, die Kindern schlaflose Nächte bereitete und erwachsenen Spaziergängern Angst und Tränen entlockte. Damals wurde das Wissen etwas gar schnell geteilt mit denjenigen, die politisch handeln wollten. Das war nicht nur schlecht: Wir haben als Folge eine Luftreinhalteverordnung, die vieles ermöglichte. Aber die Waldsterbensdebatte dient heute noch als Argument gegen die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Klimapolitik. Auch in der Wissenschaft kann es Irrtümer geben. Auch der Laie darf und muss deshalb dem Jargon der Wissenschaftlichkeit gegenüber kritisch und wach bleiben. Der wissenschaftliche Rationalismus darf nicht zu einem wissenschaftlichen Absolutismus werden. So wie die Politik den Modeströmungen des Zeitgeistes folgt,

den Pendelbewegungen von Aktion und Reaktion,
darüber, wie eine Gesellschaft aussehen soll,
und so, wie die Politik doch immer auch vom Horizont ihrer Vertreter geprägt ist, von ihrer Herkunft, von ihrem Glauben,

so beleuchtet die Wissenschaft auch stets nur einen Aspekt der Wirklichkeit.

Ihre stete Entwicklung ist ja gerade der Beweis, dass auch ihre Erkenntnisse nie für die Ewigkeit gewonnen werden, sondern stets von neuem Wissen abgelöst und ersetzt werden.

Ich kann mich erinnern, wie ich in den frühen 70er-Jahren in der Zentralbibliothek den Begriff "Umweltschutz" suchte. Ich fand ihn unter dem Stichwort "Freizeitbeschäftigung".

Nicht jede wissenschaftliche Erkenntnis darf für einen Politiker zum Naturgesetz werden. Was heute stimmt, kann morgen falsch sein. Die absolute Wissenschaft gibt es nicht, schon deshalb nicht, weil es nicht nur eine Wissenschaft gibt. Davon zeugt die ursprüngliche Idee der Universitas. Citoyens sind wir alle und alle beteiligen wir uns sowohl am politischen Prozess als auch an der Suche nach neuen Erkenntnissen.

Der Diskurs zwischen den beiden Kräften, die unsere Gesellschaft gestalten, ist integrativer Bestandteil jeder Demokratie, er muss permanent gepflegt werden, wenn auch in gegenseitigem Respekt für die jeweilige Unabhängigkeit.

Es gibt eine Kompetenz des Wissens und es gibt eine Kompetenz der Umsetzung, doch keine ist exklusiv der einen Seite vorbehalten. Es gibt eine Verantwortung des Wissens und es gibt eine Verantwortung des Umsetzens, doch sie kann nicht gegenseitig abgeschoben werden.

Gesellschaft und Staat entwickeln sich durch das Zusammenwirken von Machenden und Denkenden. Diese sind aufeinander angewiesen. Manchmal machen Denker Macher. Und manchmal geben Macher zu denken. Deswegen sind Denken und Machen zu teilen.

Das bedeutet eine ständige Übersetzungsarbeit der Sprache der Wissenschaft in die Sprache der Politik und umgekehrt. Darin besteht das Teilen des Wissens und das ist nicht immer so ganz einfach wie eine Chästeilet.

Der Bau der Universität Zürich war ein demokratischer Akt und trug zur Demokratisierung der Wissenschaft bei. Heute hat sich dieser Prozess weiter entwickelt. Das Internet hat eine neue Sphäre des Wissens eröffnet. Wir finden alles, Wichtiges und Unwichtiges, Richtiges und Falsches. Wir surfen in einem Ozean von aufklärenden Hinweisen, aber auch von Belanglosigkeiten und Banalitäten. Eine wahre Sintflut von Informationen droht das wirklich Wissenswerte zu verdecken. Wissen bedeutet im Unterschied zu blosser Information Gewichtung, Einordnung und Ausscheidung. Das Wichtige wird aus dem Unwichtigen destilliert, das Richtige vom Falschen getrennt und das ist durchaus eine politische Gewichtung.

Daraus ergeben sich Erkenntnisse, dank derer die Welt berechenbarer wird. Es gibt heute keine schwarzen Flecken mehr auf der Landkarte mit der Warnung "hic leones sunt". Jedenfalls nicht in der für uns sichtbaren Welt. Neue Welten und unbekannte Kontinente begegnen dem Menschen im unsichtbaren Teil des Kosmos. Was damals Hoffnung und Furcht gegenüber unbekannten Silberminen und Vulkanen war, sind heute die Chancen und die Risiken der Nano- oder Biotechnologie. Wenn Stimmbürger, Parlamentarier und Bundesräte über Patentierung oder Manipulation von Gensequenzen, über Strahlen oder Nanopartikel zu befinden haben, stossen sie nicht nur an die Grenzen Ihres Sehvermögens, sondern auch Ihres Wissens.

Eine Demokratie ist auf die Weisen angewiesen. Und sie sollte den Weisen die Weisheit nicht erst entreissen müssen. Die Universität muss ihr Wissen teilen und sie muss das auch gegenüber jenen versuchen, deren Poren sich allen Argumenten verschliessen wollen, die in ihren kalten Höhlen bleiben, in gespenstischen Vorurteilen verharren, die im schummrigen Mondschein Menschen nur als schwarze und weisse Schafe wahrzunehmen vermögen

so wie damals jener Richter, der mich nach der Universität in die Realpolitik des Alltages einführte.

Zugegeben, er hat mich zunächst sprachlos gemacht. Ich reagierte intuitiv und etwas unbeholfen und wandte ein: "Aber wie ist denn das in der Tschechoslowakei, wenn sich zwei Zeugen widersprechen? Welchem glaubt man dort, wenn doch alle Tschechen lügen?" Nach einigem Zögern war auch jener Richter bereit, diese Logik mit mir zu teilen. Der angeklagte Brandstifter wurde freigesprochen

... durch den Willen des Volkes.

Meine Damen und Herren, die Vernunft hat immer eine Chance.