Meine Damen und Herren

Ich freue mich, die Stiftungsversammlung 2008 von Pro Senectute Schweiz hier in Weinfelden, im Herzen des Thurgaus, präsidieren zu dürfen. Wir haben die Ehre, in diesem beeindruckenden Rathaus zu Gast zu sein, das im Winter Tagungsort des Grossen Rates des Kantons Thurgau ist.

Letztes Jahr haben wir das Neunzig-Jahre Jubiläum von Pro Senectute Schweiz am Gründungsort in Winterthur feiern können. Dieses Jahr sind wir im Kanton Thurgau, wo die Stiftung für das Alter bereits 1919 aktiv geworden ist.

Altersbericht: Eine Momentaufnahme

Auf der Traktandenliste der heutigen Stiftungsversammlung steht als inhaltliches Hauptthema der Bericht des Bundesrates zur Strategie für eine schweizerische Alterspolitik. Pro Senectute hat sich ja bereits in einem längeren Diskussionsprozess mit der Strategie des Bundesrates auseinandergesetzt und Vorschläge entwickelt.

Ich will an dieser Stelle nun kurz einige persönliche Bemerkungen und Gedanken im Zusammenhang mit dem Bericht des Bundesrates ausführen.

Die demographischen Veränderungen in unserer Gesellschaft zwingen uns einerseits, bisher Erreichtes zu überprüfen. Anderseits müssen wir Strategien für die Zukunft entwickeln. Wir müssen uns überlegen, wohin wir gehen wollen.

Was haben wir erreicht ? Wo stehen wir heute?

Der Bericht des Bundesrates wie auch die Studie Wanner zur wirtschaftlichen Situation von erwerbstätigen und pensionierten Personen zeigen: Insgesamt geht es der älteren Bevölkerung gut. Auch wenn es Personen gibt, welche im Alter mit wenig finanziellen Mitteln auskommen müssen, dürfen wir doch sagen: Das Alter ist dank unserem Dreisäulensystem mit Ergänzungsleistungen weitgehend kein finanzielles Armutsrisiko mehr.

Das ist ein Erfolg für unsere Gesellschaft. Allerdings ist die finanzielle Sicherheit zwar ein sehr wichtiger, aber nicht der einzige Aspekt. Soziale Probleme wie Isolation, mangelnde Integration oder Partizipationsmöglichkeiten der älteren Bevölkerung bestehen nach wie vor.

Die aktuellen Probleme verkennt auch der Bericht des Bundesrates nicht. Er listet deshalb für verschiedene wichtige Lebensbereiche wie Gesundheit, Wohnsituation und Mobilität, gesellschaftliche Partizipation, etc. Handlungsoptionen auf.

Ein zu optimistisches Bild?

Trotzdem ist dem Bericht des Bundesrates vorgeworfen worden, er zeichne ein zu optimistisches Bild der älteren Bevölkerung. Das mag aus der Sicht von direkt Betroffenen stimmen. Nur: Welchen Massstab wenden wir an? Womit vergleichen wir? Eine politische Beurteilung soll fairerweise immer auch aus einer gesamtgesellschaftlichen Sicht erfolgen.

So müssen wir die Situation von älteren Menschen auch im Zusammenhang mit der Situation der jüngeren Generationen sehen und würdigen. Hier zeigt sich, dass sich Jüngere häufiger in wirtschaftlich schwierigen Situationen befinden als Ältere.

Menschenwürde im Alter

Der Bericht des Bundesrates ist nicht nur eine Bestandesaufnahme. Er will Antworten geben auf meine eingangs erwähnte Frage: Wohin wollen wir gehen?

Das Ziel ist nach wie vor, älteren Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Dies auch und besonders dann, wenn sie pflegebedürftig und abhängig sind, bis hin zum Tode. Das bedeutet, dass ältere Menschen die nötige Unterstützung und Pflege erhalten sollen bis hin zur Palliativpflege.

Gerade in den aktuellen Diskussionen um Sterbehilfe geht es letzten Endes um die Frage, was ein menschenwürdiges Leben ist. Bedeutet „menschenwürdig leben“ ein Leben ohne Einschränkung, ohne Schmerzen?

Mich schockiert die Zweckrationalität, die hinter einem solchen Bild von Menschsein steckt. Ältere Menschen erleben ihr Dasein auch bei grossen gesundheitlichen Beschwerden als lebenswert, sofern sie die adaequate Pflege und Unterstützung erhalten. 

Es ist wichtig, dass wir uns in diese Diskussionen einmischen, dass wir Stellung beziehen. Ich möchte daher Pro Senectute als grosse Fachorganisation auffordern und ermuntern, sich den Fragen zur Sterbehilfe oder zur Palliativecare zu stellen und sich eine Meinung zu bilden.

Pflegefinanzierung

Ich habe eingangs auf die demographischen Veränderungen hingewiesen. Der Bedarf an Unterstützung für ältere Menschen wird grösser. Wer wird diesen Mehrbedarf an personellen Ressourcen abdecken? Wie können wir die Kosten bezahlen? Werden wir alle notwendigen Leistungen finanziell abgelten können?

Im Parlament ist eben die neue Regelung der Pflegefinanzierung beschlossen worden. Diese Vorlage stellt die Finanzierung der Akut- und Übergangs- sowie der Langzeitpflege auf eine neue Basis. Sie teilt die Kosten auf die drei Beteiligten Krankenversicherung, Kantone und Patienten (Versicherte) auf. Die neue Regelung wird voraussichtlich auf den 1. Januar 2009 eingeführt werden. Dies soll für die Krankenversicherung kostenneutral erfolgen.

Vor diesem Hintergrund haben wir zudem die Idee der Zeitgutschriften für Betreuungsarbeit durch jüngere Senioren und Seniorinnen lanciert. Der Vorschlag ist im ersten Moment nicht nur auf Zustimmung gestossen, sondern hat auch Kritik ausgelöst.

Es ist mir klar, dass es rund um diese Idee für eine Zeitbörse (oder vielleicht auch für einen freiwilligen Zivildienst) viele offene Fragen gibt. Diese müssen wir klären.

Ich habe deshalb das Bundesamt für Sozialversicherungen beauftragt, dazu eine Machbarkeitsstudie durchzuführen. Diese wird zur Zeit vorbereitet.

Vorausdenken

Die demographische Entwicklung zwingt uns, nach Lösungen für die kommenden Anforderungen zu suchen. Wir wollen die bestmöglichen Lösungen. Deshalb können und dürfen wir nicht einfach stehen bleiben, sondern müssen rechtzeitig vorausdenken und Handlungsansätze entwickeln.

Dabei müssen wir uns auch bewusst sein, dass der Strategiebericht des Bundesrates oder die Studie Wanner eine Zeitaufnahme aus heutiger Sicht sind.

Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, wie die ältere Generation von morgen leben wird und was deren Bedürfnisse sein werden. Wir wissen nicht, wie sich z.B. die neuen Technologien und das damit verbundene neue Tempo auf das Alter der heutigen jungen Generation auswirken.

Voraus denken heisst deshalb immer auch, bereit sein, zu überdenken, zu ändern, anzupassen. Oder anders gesagt: Strategisch denken und handeln bedeutet immer auch: In Bewegung bleiben.

Ich habe Pro Senectute als verlässliche und flexible Organisation kennen gelernt, die offen ist für Veränderungen. Ich bin deshalb überzeugt, dass Pro Senectute in Bewegung bleiben und massgeblich dazu beitragen wird, damit wir die neuen Anforderungen an unsere Gesellschaft bestmöglichst meistern.

Stiftungsversammlung Pro Senectute 2008