Vom Schulfunk zum Piratensender

Am Anfang war die Rebellion. Ein neuer Stil und neue Inhalte wurden gesucht. Die Programme von Radio DRS wurden als gleichförmig und starr empfunden.

Die „Nachrichten der Schweizerischen Depeschenagentur" kamen gestelzt und autoritär, gleichsam als amtliche Dekrete daher. Sie wurden in Achtungsstellung entgegengenommen und ganze Generationen von Kindern wussten, dass sie mittags um halb eins beim Verlesen der feldgrauen Nachrichten zu schweigen hatten.

Das Musikprogramm war von Marsch und Jodel beherrscht und damit die Radiojournalisten kein schlechtes Gewissen beschlich, wenn sie einen Song von Elvis Presley ausstrahlten, nutzten sie das zum pädagogisch wertvollen Sprachunterricht: Nur scheibchenweise durfte so ein Chanson oder Schlager ausgestrahlt werden. Jeder einzelne Satz wurde wie im Schulunterricht übersetzt, je nach Studio auf zürich-, bern- oder baseldeutsch. Ich erinnere mich an eine Passage in Elvis Presleys Ghetto, „the poor little boy was crying". Studio Basel übersetzte sie mit: „s armi buscheli het ghylt" und das Studio Bern mit: „u ds arme Negerbébé hett grännet".

Als dann Bob Marley und Jimmy Cliff kamen, mochten viele nicht mehr warten, bis diese für den SRG - Schulfunk freigegeben wurden und sie drängten in den Medienwettbewerb. Die ersten Lokalradios waren Piratensender gesteuert von Tätern im Äther mit anarchischen Zügen.

Mit Experimenten wurde fernab staatlicher Aufsicht ein kreatives Radio gesucht, zunächst ohne kommerzielle Ziele.

Das war doch eigentlich Bürgerradio im besten Sinne des Wortes. Vernachlässigte Minderheiten meldeten sich mit ihren eigenen Programmen.

Vom Pizzo Groppero herab mischte Radio 24 die Szene auf - und sich ein.
Radio Förderband durfte auf amtliches Geheiss nur Musik, aber keine Nachrichten senden, und so wurden die Nachrichtenbulletins von den Moderatoren kurzerhand gesungen.
- Prominentester Nachrichtensänger war Polo Hofer. Er hat die Bulletins gerockt.
- Franz Biffiger (SP-Jazzer) bevorzugte mittelalterlichen Chorgesang.

Das war 1983.

25 Jahre später hat sich die Szene ohne amtliches Eingreifen längst selbst domestiziert. Die meisten Lokalradios produzieren artige Mehrheitsprogramme, vom Musik-Computer durchkonfektioniert.

Dies ist nicht etwa die subjektive Wahrnehmung eines elitären Medienministers. Zu diesem Schluss kommt unter anderem eine Dissertation aus dem Jahre 2007, welche die Medienvielfalt und publizistische Leistung der Lokalradiolandschaft wissenschaftlich untersucht hat:

Die Werbeabteilung ist oft wichtiger als die Redaktion.
Recherchierte Wortbeiträge sind rar geworden.
Und wenn sie zwischen Softnews und Faits Divers doch noch auftauchen, sind sie nicht länger als leichtverdauliche 75 Sekunden.

Es ist wie beim Kanzleischulhaus in Zürich oder der Reithalle in Bern, die zu etablierten Kulturinstitutionen wurden, oder bei rebellischen Graffitikünstlern, die heute lukrative Werbeagenturen besitzen: Von Anarchie keine Spur mehr.

In der Hoffnung auf potentielle Gebührensplittinggelder unterwerfen sich heute alle freiwillig der Kontrolle des Staates.

Ja, die Funktion verändert die Form und meist auch den Inhalt. Ob Gebührengelder, Subventionen oder Werbeeinnahmen, schon immer galt:

„Wes Brot ich ess, des Lied ich sing".

Im neuen RTVG wurde das ja auch so festgehalten. Alle wollten das, auch die Vertreter der Lokalradios.

Radio gehört zur Infrastruktur eines Landes

Radio ist im UVEK, dem Infrastrukturministerium angesiedelt. Wie Strassen und Eisenbahntunnel, wie Post und Bahn, wie Strom- und Gasleitungen dienen auch Radio- und Fernsehen dazu, allen Menschen in unserem Land die gleiche Teilnahme am öffentlichen Leben, am Arbeitsmarkt und an der Kultur zu ermöglichen: Unabhängig davon, wo jemand wohnt, ob im Zentrum oder der Peripherie, unabhängig davon, welcher Sprachgruppe er angehört - alle haben dieselbe Rechte, auf dieselbe Grundversorgung.

Das Radio ist Teil dieser Grundversorgung. Es versorgt die Menschen im ganzen Land mit Informationen, Kultur und Unterhaltung. Wer diesen Service neben der SRG erbringen darf, hat unser Departement anfangs Juli bereits in einer ersten Tranche entschieden.

Einige von Ihnen fiebern den restlichen Konzessionsentscheiden noch entgegen und erwarten gewiss Aussagen dazu.

Ich kann Ihnen heute die konkreten Entscheide in den umstrittenen Frequenzfragen noch nicht präsentieren - die werden im Herbst folgen - will Ihnen aber gerne unserer Kriterien und Qualitätsanforderungen nennen:

Das Gesetz schreibt vor, dass die Leistungen von Radio und Fernsehen in guter Qualität erbracht werden.

Das ist so nichts sagend wie anspruchsvoll.

Wie misst man die Qualität eines Radiosenders?

Bei Strassen, Tunneln, Fahrplänen oder Dampfschiffen sind die Qualitätskriterien relativ einfach zu definieren.

Schwieriger wird es wenn persönliche Vorlieben oder Fragen des Geschmackes dazu kommen.

Und doch sind auch für die Musik und für die Kochkunst objektive Kriterien zur Qualitätsmessung entwickelt worden, Gault et Millau, Guide Michelin und wie die Bibeln alle heissen.

Versuchen wir also, Kriterien für gutes Radio zu finden, nach denen ein Guide Michelin für Lokalradios erstellt werden könnte.

Die Quote?

Ein erstes Kriterium kann zumindest für unseren Entscheid nicht ausschlaggebend sein, die Quote.

Sie spielt allerdings die zentrale Rolle für Radio- und Fernsehmacher. Die meisten sind ehrlich davon überzeugt: Ist Marktanteil und Einschaltquote hoch, ist die Sendung gut.

Jedenfalls höre ich bei einem Einwand gegen eine Sendung immer den entwaffnenden Reflex: „Aber die Einschaltquote ist hoch."

Der Politik und auch der Demokratie ist diese Überzeugung nicht fremd:

Ist in einem Verein, einer Partei oder dem Parlament etwas sehr umstritten, sagen wir bald einmal: „Wir stimmen ab."

Wir unterziehen uns dem Entscheid der Mehrheit und sind von weiteren Diskussionen über gut und schlecht befreit.

Was in Radio und Fernsehen die Einschaltquote ist, ist in der Politik die Meinungsumfrage und die Abstimmung.

Aber auch in der Demokratie gilt: Mehrheitsentscheide allein schaffen noch keine politische Qualität. Die Quote bedeutet für sich allein nichts, in der Demokratie nicht und auch nicht beim Radio und TV.

Es gibt eine weitere Parallele im Quotendenken in der Politik und im Rundfunk:

eine politische Partei kann sich für die Prioritäten nicht bloss auf die Sorgenbarometer und die Umfragen stützen. Sie muss selber eine politische Gewichtung ihrer Anliegen vornehmen.

Eine Umweltpartei hält Umweltanliegen auch in Zeiten für wichtig, wie diese Probleme von den Leuten als sekundär oder unwichtig eingestuft werden.

Das Diktat der Meinungsumfragen auf die Politik zeigt sich in der Angleichung der Parteiprogramme in Zweipartienstaaten wie den USA.

Ist das bei Radioprogrammen nicht ebenso?

Wenn ich von Lokal- zu Lokalsender schalte, höre ich eigentlich immer die gleiche Musik, die gleichen Telefonspielchen.

Nur gerade mehrheitsfähige Flughafenmusik gelegentlich unterbrochen von unverbindlichem Smalltalk wird als Konzept bald überholt sein. Radio ist zwar ein Begleitmedium, aber als reine Berieselungsanlage hat es keine Zukunft, und zwar gerade deswegen, weil solche Berieselung main stream ist.

Das Internet und der I-Pod haben eine neue Generation von Medienkonsumenten geschaffen. Seit einigen Jahren hat sich die Gesellschaft buchstäblich neu verkabelt.Wer Zug, Tram und Bus fährt, ist umgeben von Menschen mit Ohrstöpseln.

Dank dem MP3-Player kann sich jeder seine eigene Tonspur durch den Alltag zusammenstellen. Neben dem individuellen Musikprogramm kann sich der kritische Medienkonsument heute gezielt Wortbeiträge, Diskussionssendungen, Hörbücher und Sprachkurse aus dem Internet herunterladen.

Da braucht es keine Radiosender mehr dazu.

So viel zur Quote, die auch zur Falle werden kann, wovor wir durch unsre Konzessionsentscheide aber niemanden zu schützen haben.

Kompetenz:

Auf andere Kriterien legen wir hingegen tatsächlich Gewicht: Wer kompetent informieren will, soll das Radiohandwerk beherrschen. Lokalmedien haben deswegen die Aus- und Weiterbildung ihrer Programmschaffenden  zu fördern.

Wer kompetente Journalistinnen und Journalisten will, muss diesen entsprechende Arbeitsbedingungen bieten. Wer solche anbietet, erhöht auch seine Chancen auf eine Konzession.

Professionalität:

Zu einem professionellen Umfeld gehören publizistische Leitlinien, redaktionelle Handbücher, Sendungs- oder Beitragsabnahmen, Rückmeldungen an die Beitragsmacher und eine tägliche Sendungskritik.

Vielfalt:

Es steht in den Programmaufträgen:

Lokalradios, welche Gebührengelder bekommen und das Privileg haben, ein knappes Gut, nämlich Frequenzen zu nutzen, müssen einen regionalen Service public erbringen.

Das heisst sie liefern täglich relevante Informationen zu Kultur und Gesellschaft, zu Politik, Wirtschaft und Sport in ihrer Region.

Diesen Grundversorger-Service haben sie ausgewogen und thematisch vielfältig zu erbringen. Vielfalt ist das Gegenteil von Gleichschaltung.

Vor 25 Jahren erhoffte man sich, dass die Lokalradios zu einer besseren Versorgung mit regionalen Informationen führen, dass sie zur Teilnahme an der Politik anregen und die publizistische und kulturelle Vielfalt erhöhen.

Heute spricht die Forschung ernüchternd von Homogenisierung, Boulevardisierung, von Formatierung und Konzentration aber kaum von Vielfalt.

Um Dinge sachgerecht und ausgewogen einzuordnen und zu erhellen, braucht es mehr als 75 Sekunden.

Relevanz verschafft man sich nicht mit Radarwarnungen. Diese sind übrigens neu konzessionsrechtlich verboten - ich bin ja schliesslich auch Verkehrsminister.

(Auch Wettervorhersagen genügen nicht, umso weniger, als auch Radio DRS sich dem Wetter mit nervtötender und nicht enden wollender Geschwätzigkeit widmet. Wenn dieses repetitive Geplätscher mit den suggestiven Pseudofragen zu allem noch gesponsert wird, nagt das nur an der Glaubwürdigkeit. Das Wetter macht ja ohnehin, was es will.)

Was heisst aber vielfältig?

Vielfalt meint nicht einfach proportionale Abbildung der real existierenden bunten Welt, sondern fordert auch das Neue, die Kreativität und Experimente. Ein Programm, das ständig nur „ankommen" und nie anecken will, fördert die Entwicklung einer Gesellschaft nicht.

Wir entwickeln uns doch, indem wir uns an Irritationen, Widerspruch, an neuen Standpunkten reiben.

Als Umweltminister, der für die Artenvielfalt verantwortlich ist, weiss ich: Die biologische Diversität ist Voraussetzung dafür, dass sich lebende Systeme weiterentwickeln können.

Ebenso sichern die kulturelle Vielfalt und die Kreativität die dauernde Selbsterneuerung einer Gesellschaft. Demokratie nährt sich von der Begegnung mit Ungewohntem und mit fremden Denkstilen.

Vielfalt heisst, die unzähligen vorhandenen, aber noch nicht bekannten Erfahrungen und Erkenntnisse möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen.

So nähren wir den Wettbewerb der Ideen.

Das ist der Service public der Kreativität.

Die Seele des Radios

So sehr wir uns um Qualitätskriterien bemühen, so sehr kommt es auch auf Umstände an, die nicht einfach klinisch seziert und analysiert werden können.

Von den Radiopiraten in den 80er-Jahren wurden ein neuer Stil und neue Inhalte gesucht gegen die vorherrschende Gleichförmigkeit und gegen die erstarrte Konvention von Radioprogrammen.

Radio muss eine Seele haben.

Wer Radio macht, braucht Hörerinnen und Hörer.

Aber Einschaltquoten und damit Werbe-Einnahmen sind nicht die einzige Triebfeder, um Radio zu machen. Dahinter muss doch immer ein inhaltliches Anliegen stehen, ein politisches, ein kulturelles.

Als Entschieden wurde, Radio Beromünster einzustellen, löste das bei vielen älteren Menschen eine Welle der Empörung aus.

Radio Beromünster war während Jahrzehnten nicht einfach ein Radiosender, sondern ein Stück Heimat und Geborgenheit. Die Hörer haben sich mit diesem Sender identifiziert und vertrauten ihm.

Dieses Vertrauen und damit Bindung kann nur mit Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Informationsqualität gewonnen werden. In diese Glaubwürdigkeit muss investiert werden. Besonders wenn es tausend mal tausend Sender gibt.

Macht ein Radio bei dieser Investition Abstriche, geht sein wichtigstes Kapital verloren. Als Hörer will ich, dass mein Sender für gewisse Werte steht, dass er eine Seele hat, damit ich mich an ihn gebunden fühle, damit ich mich mit ihm identifizieren kann.

Das heisst gar nicht, dass mir immer alles gefallen muss. Es gibt viele Leute, die wollen sich sogar über etwas leicht aufregen und hören eine Sendung immer wieder, damit sie sich ärgern können. Auch das kann Bindung schaffen (vgl. die damals im Stil neuen Interviews von Roger Schawinski in der Sendung „Doppelpunkt" von Radio 24).

(Ein Medium mit einer Seele richtet sich an Menschen. Richtet sich ein Radio hingegen ausschliesslich nach seinen Sponsoren und Werbekunden, werden sich die Hörer nicht mit ihm identifizieren können.)

Erneuerung

Ich habe die Gleichförmigkeit der Radioprogramme vorher beklagt. Es gibt Leute, die befürchten, der Anspruch auf Gebührengelder und vor allem die gelockerten Vorschriften für Werbung und Sponsoring fördere solche Uniformität, die sich stets nach einem Mehrheitsgeschmack richtet.

Es ist wie bei der Landwirtschaft, den Subventionen und den Landschaftsgärtnern:

Wer als Radio diese Entwicklung überleben will, muss also einen überzeugenden Mehrwert liefern. Das Radio hat sich ständig verändert und es wird sich weiterhin verändern.

Wenn die damaligen Täter im Äther wegen der neuen Subventionen zu Gärtnern im Äther verkommen, die lediglich ihre akustischen Monokulturen pflegen, führt das früher oder später zum radiophonen Kollaps und grossen Radiosterben.

Damit es nicht soweit kommt, muss die Erneuerung von innen geschehen könnte, von den jetzigen Lokalradios ausgehen.

Als Umweltminister erhoffe ich mir deshalb vom neuen Leistungsauftrag blühende Artenvielfalt.

Ich wünsche mir den frischen, flexiblen und frechen Geist der Piratenzeit zurück.
Ich wünsche Ihnen diese Kraft trotz der Millionen, die ich Ihnen demnächst verteile.

Jubiläen, die nostalgisch zurückblicken, sind tödlich.

Jubiläen, die voraus blicken, verhelfen zu neuem Leben.

Bitte, blicken Sie vorwärts.

25 Jahre Privatradios in der Schweiz