Es gilt das gesprochene Wort! 

Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter des Kantons Solothurn in den Eidgenössischen Räten!
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Solothurner Behörden!
Sehr geehrter Herr Rektor!
Liebe Ehemalige!
Sehr geehrte Damen und Herren!

Das Wichtigste vorweg: Ich zolle der Kantonsschule Solothurn meine hohe Anerkennung. 175 Jahre! Damit ist sie 15 Jahre älter als die moderne Eidgenossenschaft. 175 Jahre! Trotz (oder dank…) aller Schulreformen lebendig wie eh und je…Das ist eine herausragende Leistung über viele Generationen hinweg.

Zu meiner Schulzeit war ich an Samstagnachmittagen zwar häufiger unter Aufsicht von Abwart Bonfanti auf den unendlich weiten geteerten Plätzen rund um die Kanti als auf der Bühne der Aula. Meine derzeitige Tätigkeit ist deshalb mindestens bezogen auf Einsatzort und Wochentag etwas ungewohnt. Dass Sie mich trotz derartigen Vorgeschichten eingeladen haben, ist der Beweis dafür, dass die Gnade der Zeit auch hier ihre positive Wirkung hatte. Mit dieser Feststellung endet das Jahr auch hier positiv für mich. Im Übrigen haben Sie es um genau 39 Tage verpasst, einem alt Bundesrat zuhören zu müssen. So spielt das Leben.

Ich danke Ihnen für die Einladung! Ich bin natürlich sehr gerne an den Tatort zurück gekommen. Mit zunehmendem Alter bekommen Erinnerungen einen immer höheren Stellenwert.

An diese Schule und an diese Zeit habe ich viele Erinnerungen. In meiner Klasse 8b des Jahres 1966 gab es 20 Maturanden, darunter 6 Mädchen - pardon: junge Damen. Heute beträgt der Anteil der Maturandinnen über 60 Prozent. Wir lebten ohne Laptop und überlebten ohne Handy. Was uns bei der heutigen Schulgeneration verständlicherweise zu Gruftis stempelt.

Bei meinem Schuleintritt hatte ich ein Haftgeld von fünf Franken zu entrichten, auf das bei Beschädigungen am Gebäude zurückgegriffen werden konnte. Der Respekt vor dem Abwart hielt den Vandalismus allerdings in Grenzen. Den Fünfliber habe ich trotzdem nie mehr gesehen. Sollte er in der Buchhaltung noch auftauchen, spende ich ihn der Schule. Ansonsten vermute ich ein schwarzes Kässeli.

Bei Klassenfesten hatten die gastgebenden Eltern anwesend zu sein. Die Teilnehmer mussten um 22 Uhr zu Hause sein. So wollte es die Schulordnung. Die Maturareise hatte uns zu Kunststätten am Bodensee und in Süddeutschland geführt. Im selben Jahr lehnten die  Zürcher Männer das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene ab, und die Fussball-Nationalmannschaft verlor an der WM alle drei Vorrundenspiele, gegen Deutschland mit 0 zu 5…Damals hatte die Schweiz eben noch keinen Sportminister.

Ja, so war das, damals, vor 40 Jahren. Nun aber genug der Nostalgie!

Eine meiner prägendsten Erinnerungen hängt mit dem heutigen Datum zusammen. Heute ist der 22. November.

Am 22. November 1963, während meiner Kanti-Zeit also, wurde der amerikanische Präsident John F. Kennedy in Dallas ermordet. Das Attentat hatte damals einen weltweiten Schock ausgelöst, vergleichbar mit Nine/Eleven. Für uns Kanti-Schüler schien die Welt stillzustehen. Wir waren verstört und traurig. Kennedy hatte auch uns fasziniert, und die Bilder des Attentats blieben bis heute in unseren Köpfen.

Von Kennedy stammt ein Wort, das auch heute und auch in unserem Land aktuell ist und mittlerweile zum Allgemeingut gehört: "Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann. Frage, was Du für Dein Land tun kannst." Der tschechische Schriftsteller, Nobelpreisträger und frühere Staatspräsident Vaclav Havel formulierte es vor Studenten einer amerikanischen Universität so: "Wir stehen vor existentiellen Problemen - weshalb distanziert ihr euch von der Mitarbeit? Weshalb fühlt ihr Euch nicht mitverantwortlich für die Gestaltung der Gegenwart zur Beeinflussung der offenbar düsteren Zukunft?" Oder - alles Gescheite ist ja schon mal gesagt worden - auf Latein in der neu renovierten Kuppel des Bundeshauses: Unus pro omnibus, omnes pro uno - Einer für alle, alle für einen.

Nach dem Fall der Mauer sprach man vom "Ende der Geschichte". Sie hat sich aber rasch zurückgemeldet. Erneut erleben wir heute eine verunsicherte Welt.

Eine zutiefst verunsicherte Welt! Ich zitiere aus dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" dieser Woche. Die Titelgeschichte zeichnet die "Anatomie einer Weltkrise, die gerade erst begonnen hat":

"Die bisher als gültig angenommene Weltordnung wankt. Es wanken die Ideen von der Stärke des Kapitalismus, von der Kraft des Marktes. In den Gesellschaften weltweit schrumpft die Bereitschaft, die Zumutungen der globalen Risikogesellschaft weiter einfach so hinzunehmen. Es ist eine Weltkrise im Gang, materiell und moralisch, wie sie sich in solcher Wucht, in solcher Rasanz selten zuvor ereignet hat. Und ihr Ende ist nicht abzusehen. Am Ende des Tunnels ist kein Licht."
Ende des "Spiegel"-Zitats.

Meine Damen und Herren, damit ist die Lage an diesem 22. November 2008 zwar journalistisch zugespitzt, aber im Kern wohl richtig dargestellt. Was wir erleben, ist eine Finanzkrise, gefolgt von einer Wirtschaftskrise, beide auf dem sumpfigen Terrain einer moralischen Krise.

Solche Krisen, und diese Bemerkung werden Sie mir als historisch denkendem Bürger zugestehen, solche Krisen kommen immer wieder vor. Sie beinhalten immer auch die Gefahr der Überreaktion. Vielleicht werden sie von den Zeitgenossen jeweils überschätzt. Vom Zusammenbruch der Bank John Laws im Paris des Jahres 1720 über den Fast-Zusammenbruch des damals auf London gestützten Weltfinanzsystems im Jahre 1825 und den New Yorker Börsencrash von 1929. Diese Krisen waren immer begleitet von apokalyptischen Weissagungen, echter Not, wirtschaftlichen Einbrüchen, moralischer Orientierungslosigkeit.

Neu ist, dass die jetzige Krise eine globalisierte Welt trifft. Dass Beteiligung- und Sanierungskapital aus Teilen der Welt beansprucht werden, die vor kurzem noch nicht zu Machtzentren gehörten. Dass dies alles auch der Beginn massgeblicher und dauernder Machtverschiebungen im Kräfteparallelogramm der bisher Grossen sein könnte. Auch hier ein Bruch in den bisherigen Machtvektoren.

Das folgende Beispiel, heruntergebrochen auf die Ebene des Konsumenten, ist ebenso einfach wie unglaublich kompliziert: Die in einem Fonds angelegten Gelder einer Kirchgemeinde in Norddeutschland sind mit der Hauspfändung einer Familie in Nebraska ebenso verknüpft wie der drohende Konkurs eines amerikanischen Autogiganten mit dem Arbeitsplatz in einer Zulieferfabrik in Südfrankreich, die längst einer Investorengruppe in Irland gehört, die ihren Briefkasten in Liechtenstein hat. Und niemand, scheint mir, niemand hat mehr den Durchblick. Niemand ist verantwortlich. Die Ansprechpartner sind im besten Fall Telefonbeantworter.

Wer alles miteinander verknüpft, verknüpft eben auch die Schicksale. Globalisiert ist mittlerweile viel mehr als nur die Wirtschaft. Globalisierungseffekte finden sich auf Schritt und Tritt, sogar hohe Boni werden mit der Usanz in den USA begründet. Der Wettbewerb fordere den Ausweis entsprechender Zahlungen, man zweifle sonst an der Ertragskraft des Unternehmens, wird argumentiert.

Ja, wir sind gemeinsam gefordert, weltweit und auch quer durch die Gesellschaft und die Generationen. Wir brauchen gemeinsame oder zumindest koordinierte Antworten und Lösungen auf gemeinsame Herausforderungen. Brüche - das habe ich in der Kanti gelernt - kann man nur addieren, wenn man sie gleichnamig macht. Suchen wir die gemeinsamen Werte!

Gibt es auch Chancen? Sicher. Vorweg die Chance, dass jede Veränderung einen gewissen Leidensdruck braucht. Dieser ist da und wird noch steigen. Bei Hochwasser lernen viele schwimmen, die vorher wasserscheu waren. Chancen in vielerlei Bereichen - auch bei der Erziehung.

Und mit diesem letzten Stichwort - Erziehung - schliesst sich der Kreis zur heutigen Feier. 175 Jahre Kantonsschule Solothurn. In dieser grossen Zeitspanne sind in diesen Mauern nicht nur Fakten vermittelt worden, sondern auch Werte.

Wer vermittelt heute unseren Jungen jene Werte, die sie befähigen, als Erwachsene zu bestehen? Die Eltern? Die Vereine? Die Kirchen? Die Armee? Die Schulen?

Ich kenne die Diskussionen über die Frage, ob die Schule nur Lernstoff zu vermitteln oder eben auch zu erziehen hat.

Meine Haltung ist klar, und ich zitiere nochmals Havel: "Weshalb distanzieren wir uns?" Weshalb distanzieren wir uns vor der Verantwortung als Mitglieder dieser Gesellschaft?

Eine Kantonsschule - um beim heutigen Beispiel zu bleiben - die Kantonsschule Solothurn, die über Wochen, Monate und Jahre junge Menschen zur sogenannten mittleren Reife führt, hat diesen jungen Menschen auch Werte zu vermitteln. Werte wie Fleiss und Durchhaltewillen, Toleranz und Respekt, Bescheidenheit und Anstand, Achtung und Menschenwürde, Selbstdisziplin, Kompromissbereitschaft und Verantwortungsgefühl.

Ich bin überzeugt, dass die gegenwärtige Lage - vom "Spiegel" wie gehört als "Weltkrise" bezeichnet - dass diese Lage nicht eingetreten wäre, hätten gewisse Berufsgruppen diese Werte zur Richtschnur ihres Handelns genommen. Und nicht Gier, Masslosigkeit,  Arroganz, ja: kriminelle Energie.

Meine Damen und Herren, ich wünsche der Kantonsschule Solothurn - meiner ehemaligen Schule - auch für die kommenden Jahre alles Gute! Möge es uns allen - Lehrerschaft, Eltern, Politiker - gelingen, mit Herz und Verstand jenen ein optimales Umfeld zu schaffen, welche die Zukunft zu gestalten haben: den Schülerinnen und Schülern!