Rede von Bundespräsident Hans-Rudolf Merz; 39. St. Gallen Symposium, Hochschule St. Gallen, 7. Mai 2009.

In der weltweiten Wirtschaftskrise erwachsen unserer offenen Welt neue ökonomische und politische Grenzen. Es gilt nun, diese neu entstehenden Grenzen ihrerseits zu begrenzen. Denn unseren Wohlstand und unsere Krisentauglichkeit verdanken wir nicht dem Inverventionismus, der Überregulierung oder dem Protektionismus. Wir verdanken dies einem starken, aber schlanken Staat, der die soziale Marktwirtschaft garantiert und international kooperierend für offene Märkte eintritt.

Herr Präsident,
Ihre Exzellenzen,
Werte Gäste,
Meine Damen und Herren,

Heute anlässlich des
39. St. Gallen Symposiums an der Universität St. Gallen zu Ihnen zu sprechen, freut mich ausserordentlich. Der Besuch dieses Symposiums ist für mich nämlich eine Art Heimkehr. Denn ich habe in den Sechziger-Jahren selber an dieser Hochschule studiert und, während ich meine Doktorarbeit verfasste, auch gearbeitet.

Die
Atmosphäre an der Universität St. Gallen prägte uns Studierende auf vielfältige Weise: Zum einen lehrte uns die Internationalität der Hochschule, grenzüberschreitend zu denken - getreu dem Motto des diesjährigen Symposiums. Zum andern brachten uns grossartige Lehrer die Zusammenhänge zwischen Wirtschaft, Staat, Gesellschaft und Individuum näher. Unvergessen wird mir die Gastvorlesung von Ludwig Erhard bleiben, dem Vater der sozialen Marktwirtschaft. Er hätte uns auch am heutigen Anlass noch Einiges zu sagen. Die soziale Marktwirtschaft betrachtet eine marktwirtschaftliche Ordnung gestützt auf das Privateigentum, die Vertragsfreiheit und den Wettbewerb als Voraussetzung für den gesellschaftlichen Wohlstand. Die Marktwirtschaft muss sozial verpflichtet werden, ohne dass ein Zuviel in den Kollektivismus führt. Der Staat soll wohl stark, aber gleichzeitig schlank organisiert sein. Dieses Credo hat uns seither begleitet, durch Phasen des Hochschwungs wie des Abschwungs oder der Krise. Dabei blieb die soziale Marktwirtschaft nach damaligen Muster im Kern bis heute gefestigt, in ihrer Form jedoch hat sie sich als dynamisch erwiesen. Sie ist die einzige Wirtschaftsform, die den Ausgleich gestörter Marktkräfte ermöglicht. Diese Erkenntnis sollte uns vor überhastetem Interventionismus und vor Regulierungswut abhalten.

Diese Einsicht ist heute von besonderer Aktualität:

Nun, in der weltweiten Wirtschaftskrise, erwachsen unserer offenen Welt vielerseits neue Grenzen (boundaries). Ökonomische Grenzen (economic boundaries) stammen von knapper werdenden Ressourcen. Politische Grenzen (political boundaries) stammen von einem zunehmenden Verlangen nach dem Staat, um nicht zu sagen dem Nationalstaat.

Ich werde nun auf
drei solche durch Grenzen (boundaries) bedrohte Themen eingehen: Die Wirtschaftskrise im Allgemeinen, die Finanzmärkte im Besonderen und zuletzt die internationale Zusammenarbeit. Dabei werde ich vor allem aufzeigen, welche Beschränkungen (limits) wir diesen Grenzen (boundaries) setzen müssen, um unsere freiheitliche Weltordnung zu bewahren.

1. Die Weltwirtschaft und die Wirtschaft der Schweiz

Ich beginne mit der
weltweiten Wirtschaftskrise: Die Industrieländer stehen vor der schwersten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. In Schwellen- und in den Entwicklungsländern ist zudem das Wachstum eingebrochen. Die Aussichten für 2009 sind alles andere als rosig.

Wie haben die einzelnen Länder auf die Krise reagiert? Soweit sie handeln wollten und handeln konnten, haben Regierungen nicht Milliarden-, sondern Billionen-Dollar-schwere Konjunkturpakete geschnürt. Dazu haben die Zentralbanken den Markt mit grossen Mengen an Liquidität versorgt. Um diese Anstrengungen zu finanzieren, wurden auch Kredite aufgenommen bei internationalen Finanzinstitutionen.

Die Schweizer Regierung und die Schweizerische Nationalbank haben ebenfalls einschneidende Massnahmen getroffen, um die Auswirkungen der Krise abzufedern. So hat die Schweizerische Nationalbank die monetären Bedingungen deutlich gelockert, während die Schweizer Regierung bisher zwei Konjunkturpakete lanciert hat. Weitere Massnahmen werden zurzeit diskutiert. Mit diesen beiden Paketen wollen wir die wirksame Verwendung der Ressourcen sicherstellen, Arbeitsplätze retten und Infrastrukturinvestitionen fördern.

Aber, und das möchte ich betonen, die
Investition von Steuergeldern ist nur in sehr beschränktem Masse ein taugliches Mittel gegen die Krise. Jeder Dollar, den ein Staat ausgibt, müssen seine Steuerzahlerinnen und Steuerzahler nämlich zuerst verdienen. Oder man überlässt kommenden Generationen - also Ihnen, liebe Studentinnen und Studenten - die Schuldenlast. Die Grenzen der Wirtschaftspolitik müssen klar sein. Die Hauptaufgabe der Wirtschaftspolitik ist und bleibt,
verlässliche Rahmenbedingungen für nachhaltiges Wachstum, fairen Wettbewerb und Innovation bereitzustellen. Ich werde mich deshalb weiter für die Schweiz als führenden Werk- und Finanzplatz einsetzen und dafür, diese ihre Position zu stärken, Steuerreformen voranzutreiben und einen gesunden Staatshaushalt sicherzustellen. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen kommt der Privatwirtschaft eine zentrale Rolle zu. Sie als CEOs oder als künftige CEOs haben eine ausserordentlich wichtige Aufgabe. Wirtschaftliche Erholung bedingt strukturelle Anpassungen und neue Geschäftsmodelle. Deshalb sollten wir die Krise als Chance nutzen, Innovationen voranzutreiben und neue Lösungen zu finden.

2. Der Finanzsektor

Eine Grundvoraussetzung für die konjunkturelle Erholung ist ein
Finanzsystem, in das man vertrauen kann. Dieses Vertrauen gilt es deshalb als Erstes wiederaufzubauen. Wie Sie alle wissen, hat der Finanzsektor die Krise ausgelöst, und Banken auf der ganzen Welt - und damit auch in der Schweiz - leiden unter den weltweiten Verlusten. Wir sahen Anlageverluste nie gesehenen Ausmasses und erlebten einen gewaltigen Druck auf die Finanzmärkte. Die unsichere Lage hat beinahe zu einem Kollaps auf dem Interbanken-Markt geführt. Auch wenn sich die Bedingungen in jüngster Zeit verbessert haben, so bleibt doch eine erhebliche Unsicherheit darüber, wie sich der Finanzsektor in Zukunft entwickeln wird.

Regierungen und Zentralbanken auf der ganzen Welt haben diese Herausforderungen angenommen und in vielfacher Weise gehandelt. Banken wurden in den Konkurs geschickt, andere Banken sowie Anlegerinnen und Anleger erhielten implizite und ganz explizite Garantien, und der Ruf nach mehr staatlichen Eingriffen ist omnipräsent.

Die Schweiz hat ihren eigenen sehr prominenten Fall mit der UBS. Die Schweizer Regierung, die Schweizerische Nationalbank und die Schweizerische Finanzmarktaufsichtsbehörde unternahmen im Oktober vergangenen Jahres Schritte, die unerlässlich waren, um das Vertrauen in die UBS wiederherzustellen. Toxische Papiere wurden identifiziert, bewertet und aus der Bilanz entfernt. Die Kernkapitalbasis wurde ausgebaut. Soweit möglich haben wir unsere Massnahmen an die Grundsätze des Markts angepasst, und wir haben bewusst die staatlichen Eingriffe in Führungsentscheide eingeschränkt. So wurde beispielsweise die Geldspritze des Staates in Form einer Wandelanleihe ausgestellt, die zu 12,5 Prozent verzinst werden muss. 

Nun müssen aber strategische Entscheide getroffen werden darüber, wie künftig die globale Finanzarchitektur aussehen soll. Viele rufen nach mehr Regulierung. So auch die G20. Deren Leader sprachen sich für eine sehr umfangreiche Regulierung und Aufsicht aus. Allerdings sind die Finanzmärkte bereits heute sehr stark reguliert.
Mehr Regulierung ist denn auch nicht die richtige Antwort - bessere Regulierung hingegen schon. Dazu möchte ich Ihnen ein paar Punkte darlegen:

Erstens müssen die laufenden Massnahmen klar als ausserordentlich eingestuft werden, und wir werden eine koordinierte Exit-Strategie entwickeln müssen, die umgesetzt wird, sobald die Wirtschaftslage dies erlaubt. Trotz der gegenwärtigen Krise dürfen wir die Vorteile privat organisierter Märkte und Unternehmen nicht aus den Augen verlieren. Die Grenzen zwischen Politik und Wirtschaft wurden im Interesse der Systemstabilität verwischt. Sobald wieder Stabilität herrscht, müssen wir diese Grenzen neu ziehen.

Zweitens sollen unsere Massnahmen so ausgestaltet sein, dass sie künftigen Krisen vorbeugen. Doch wir müssen jede regulatorische Massnahme auf ihr
Kosten/Nutzen-Verhältnis hin betrachten. Der regulatorische Rahmen muss das Gleichgewicht finden zwischen zwei gegenläufigen Anforderungen: Einerseits muss die Finanzaufsicht ausgebaut werden, und andererseits muss für Finanzinnovationen genügend Raum bleiben. Wir müssen sicherstellen, dass unsere Finanzinstitute gesund sind und die Lohnsysteme die eingegangenen Risiken angemessen berücksichtigen. Wir müssen aber auch zulassen, dass sich neue Geschäftsmodelle entwickeln können, und wir dürfen nicht vergessen, dass der Finanzsektor für unsere Wirtschaft die zentrale Rolle spielt.

Drittens hat die Krise einmal mehr gezeigt, dass
Internationale Zusammenarbeit unbedingt notwendig ist, wenn systemrelevante und international aktive Finanzinstitute überwacht werden müssen. Die Schweiz will weiterhin ihren Beitrag dazu leisten, die Regulierung und die Überwachung auf internationaler Ebene zu verbessern, beispielsweise als Mitglied des Financial Stability Board (FSB).

3. Die Herausforderungen für die internationale Zusammenarbeit

Damit komme ich zum letzten Teil meiner Rede:
Die Herausforderungen für die internationale Zusammenarbeit. Wir sitzen alle im selben Boot. Unsere Wirtschaften sind untereinander eng verflochten. Deshalb braucht es gemeinsame Anstrengungen, wenn wir die Krise erfolgreich überwinden wollen.

Einerseits haben zahlreiche Gremien ihre Anstrengungen zur Verbesserung der Zusammenarbeit unter den Ländern im Kampf gegen die Finanzkrise intensiviert.  Versprechen wurden abgegeben, man wolle der Versuchung des Protektionismus widerstehen und den globalen Handel und die globalen Investitionen fördern. Es wird über zusätzliche Mittel für den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Multilateralen Entwicklungsbanken und die Finanzierung des Handels diskutiert. Verschiedene Institutionen verfassen Empfehlungen zu unterschiedlichen Regulierungsbereichen und zu Frühwarnsystemen.

Auf der anderen Seite hat sich der internationale Steuerdialog in letzter Zeit mehr hin zu einem Steuermonolog entwickelt. Das fragwürdige Verfahren, Länder aufgrund willkürlicher Kriterien auf Listen zu setzen, gefährdet den Zusammenhalt der internationalen Staatengemeinschaft.

Überdies gibt es Regierungen, die sich für protektionistische Massnahmen entschieden haben, die Zolltarife erhöht haben oder ihre Ankurbelungsprogramme so ausgestaltet haben, dass sie ihre inländischen Unternehmen begünstigen. Merkantilismus scheint in der Krise eine gute Lösung zu sein - die Geschichte hat uns aber das Gegenteil gelehrt. Am Rande einer Tagung des IWF, die kürzlich in London stattgefunden hat, fragte mich der CNN-Reporter nicht nach dem Schicksal des Bankgeheimnisses, wie alle übrigen Journalisten. Er wollte vielmehr wissen, ob ich die Währungsmassnahme der Schweizerischen Nationalbank nicht als Protektionismus qualifiziere. Er war auch der einzige Medienvertreter, der nach konkreten Beispielen Ausschau hielt. Die übrigen hatten in ihren Berichterstattungen die derzeit stereotype Formulierung wiederholt: Im Zeichen der Weltwirtschaftskrise darf es keinen Rückfall in den Protektionismus geben! In der Tat: Alle Welt verlangt solches. Aber wenn es um die Verteidigung eigener Interessen geht, werden die edelsten Prinzipien missachtet. Im Falle unserer Nationalbank fiel mir die Antwort übrigens nicht schwer: Die Schweizerische Nationalbank hat Fremdwährungen gekauft mit dem Ziel, die Überbewertung des Schweizerfrankens und damit die Verschärfung der Geldbedingungen zu stoppen, weil diese Überbewertung die Preisstabilität gefährdete. Auf gar keinen Fall wird dadurch aber das Engagement der Schweiz für ein flexibles Währungskurssystem geschmälert.

Die Schweiz steht nach wie vor voll und ganz ein für eine freie und offene Weltwirtschaft. Wir sind denn auch überzeugt, dass der freie Handel allen Partnern zugute kommt.

Wir unterstützen zudem Initiativen, die die Zusammenarbeit in internationalen Finanzinstitutionen und -gremien verstärken wollen. Dazu gehört, dass sich die Schweiz an den Anstrengungen, die Ressourcen des Internationalen Währungsfonds aufzustocken, beteiligt.

Strukturierte und verlässliche internationale Zusammenarbeit ist uns weiterhin ein Hauptanliegen, für das wir uns voll einsetzen. Aktuelle Diskussionen wie diejenigen zu den internationalen Steuerfragen, die zurzeit hohe Wellen werfen, finden statt vor dem Hintergrund ausgezeichneter Beziehungen der Schweiz mit ihren Partnerländern.

Wenn man mitten in der Krise steckt, mag gegenseitige Abhängigkeit aussehen wie eine Falle. Doch Abhängigkeit ruft nach Zusammenarbeit. Und indem wir zusammenarbeiten, werden wir die Krise überwinden.

Beschränken (limit) wir also die Grenzen (boundaries), die unserer offenen Welt drohen. Mit Leistungsbereitschaft, Kreativität und Optimismus werden wir auch aus dieser Krise gestärkt hervorgehen. Sie alle setzen hierfür mit Ihrem Engagement an diesem Symposium ein ermutigendes Zeichen.

Schranken gegen das Wiedererstarken von Grenzen - Aus Schweizer Sicht