Als nach Annahme der Alpeninitiative vor 15 Jahren getanzt wurde in Altdorf, freute ich mich mit, still und privat zwar, denn weder war von mir als kantonalem Justizdirektor die Meinung gefragt, noch hatte ich eine Ahnung von Verkehrspolitik, geschweige denn von ihren europapolitischen Zusammenhängen. Doch ein kleiner Anflug von antiautoritärer Spitzbübigkeit liess meine Sympathie mit den Alpeninitianten mittanzen.

„Irgendeine Lösung wird es ja wohl schon geben", dachte ich mir, der Bundesrat soll sich halt etwas einfallen lassen.

Die Strafe folgte auf dem Fuss. Keine 20 Monate später war ich Verkehrsminister - und von Verkehrspolitik hatte ich immer noch keine Ahnung.

So glaubte ich zunächst, die damals so gefürchtete Pioramulde sei ein besonders hartes Gestein, bis ich erfuhr, dass sie ganz im Gegenteil besonders durchlässig und zuckerförmig sei. In der Tat, im Gegensatz zum Alpenschutzartikel erwies sie sich als viel süsser und pflegeleichter. Der Alpenschutzartikel aber, nun auf unserer Bundesverfassung thronend, sollte mich fortan unbarmherzig geisseln. Ja, seine Vorgabe war von härterem Gestein als die der zuckrigen Piora.

II.

Der Verein Alpeninitiative hat eine Vision skizziert. Der Bundesrat und das Parlament versuchen, sie umzusetzen.

In dieser einfachen Anlage liegt das ganze Wesen der Politik. Die Vision, der Traum, die Überzeugung als die eine Säule, und die andere besteht in der Umsetzung, den auszutarierenden Zielkonflikten, den Kompromissen. Politik besteht aus diesen beiden Elementen, der kühnen Weitsicht und dem steinigen Weg.

Der Weg, der tatsächlich gegangen werden muss, ist nie so gradlinig, wie der Blick zum Horizont es ist, sondern er führt angesichts von Hindernissen in Umwegen über Berge, Täler und manchmal auch Sackgassen. Die hehre Formulierung von Zielen allein ist genau so wenig gute Politik, wie konzeptloses Voranstürmen und Machertum es auch nicht sind.

Ohne Vision kein Ziel, ohne Umsetzung kein Weg. Es steckt in diesen beiden Elementen auch die berühmte Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, wie sie Max Weber vor 90 Jahren formulierte. Er hat damals gewiss an die Verkehrspolitik gedacht, als er Politik beschrieb als das geduldige, mühsame Bohren langer Tunnel.

III.

Nun kann ich allerdings der Meinung nicht folgen, dass es auf der einen Seite Menschen oder Vereine geben solle, die das Gewissen unseres Staats wären, und auf der anderen Seite wären dann die Behörden, die ausschliesslich mit dem Umsetzen beschäftigt wären.

Mir riecht die scharfe Trennung zwischen NGO's und Regierungen zu sehr nach moraltrunkenen und abgasfreien Gutmenschen einerseits und korrupten Machtbossen andererseits.

In unserer direkten Demokratie hat eine solche Zweiteilung schon gar keinen Platz. Das steht auch ganz ausdrücklich in unserer Verfassung:

„Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei." (Art. 6)

Gerade die Alpeninitiative beweist, dass bei uns alle politische Verantwortung übernehmen und dass diese Verantwortung sowohl in der politischen Fernsicht besteht als auch in der Umsetzung, im Suchen eines gangbaren Weges.

IV.

Wir haben gut zusammengearbeitet. Sie haben auf Ihr Ziel gepocht und uns stets gemahnt, doch Sie wussten auch: Nur gerade Stachel im Fleisch zu sein, genügt nicht. Das Fleisch entzündet sich und als Folge wird der Stachel entfernt. Darum versucht man heute, Volksinitiativen auch auf ihre Umsetzbarkeit hin zu formulieren.

Die VCS-Initiative verlangt, dass der öffentliche Verkehr gefördert werde und sie schlägt auch vor, wie das bezahlt werden soll.

Bei der Umsetzung der Alpeninitiative haben wir immer wieder nach Lösungen in verfahrenen Situationen gesucht und sie auch gefunden:

Im Abstimmungskampf um die Initiative wurden auf (verletzte) völkerrechtliche Grundsätze und die Problematik der Diskriminierung hingewiesen.
Der Schweiz drohte dann auch die
Isolation: Unmittelbar nach der Abstimmung kündigte die EU den sofortigen Abbruch der Verhandlungen
über ein Landverkehrsabkommen an, und wir mussten das verhindern.
In Abweichung zur Verfassung wurde gesetzlich verankert, dass die Umsetzung nicht diskriminierend erfolgen müsse, dass also alle Verkehrsarten gleichermassen betroffen sind - nicht nur denjenigen „von Grenze zu Grenze".
Dieser Kompromiss war auch die Voraussetzung für den Abschluss des Landverkehrsabkommens ((mit seiner koordinierten Verkehrspolitik im Alpenraum)) und damit Voraussetzung für den Abschluss aller bilateralen Abkommen der Schweiz mit der EU.
Wir konnten also gemeinsam das „Grounding" der bilateralen Verträge abwehren. Ihr Einlenken war da gewiss konstruktiver als das spätere Verhalten des Flughafens beim Staatsvertrag mit Deutschland.
Aber auch nachdem das Landverkehrsabkommen in Kraft war, mussten erneut Kompromisse mit der EU (und in der Schweiz) gefunden werden. Denken wir an das Tropfenzählersystem, an die „Phase Rot", an die Sonderbehandlung „S", an das Dosiersystem. 
Auch das heutige Dosierungssystem löst nicht alle Probleme, es braucht Stauräume für die wartenden Lastwagen.
Mittlerweile steht in Ripshausen eine Managementfläche, die als Stauraum abseits der Autobahn und als Schwerverkehrs-Kontrollzentrum genutzt werden kann. Mit der Inbetriebnahme des Zentrums im Tessin wird sich die Lage weiter verbessern.
Aber das Ziel der Schweiz ist und bleibt die Güterverkehrsverlagerung von der Strasse auf die Schiene.

Dank gemeinsamen Anstrengungen und pragmatischen Lösungen haben wir Teilerfolge errungen. Auf diese Weise haben wir es zu etwas gebracht:

Die Verlagerung hat eingesetzt: Seit der Einführung ist die Zahl der Lkws rückläufig. Im Vergleich zum Jahr 2000 hatten wir statt 1.4 Mio. im Jahr 2008 nur noch 1.275 Mio. Lastwagen, welche die Alpen überquerten.
Der Modalsplit in der Schweiz ist hervorragend: es wurden 64% (2008) des alpenquerenden Güterverkehrs auf der Schiene transportiert. (In Österreich waren es 2007 30,5%, also nicht halb so viel.)
Der Schutz der Alpen und damit die Verlagerungspolitik wurden vom Volk in zahlreichen Volksabstimmungen bestätigt.
Und sie ist auch in der EU weitgehend akzeptiert und wird nicht selten als beispielhaft eingestuft.
Gleichzeitig mit der Inauguration von Barack Obama (der mit dem Zug nach Washington gereist war) durfte ich am 20. Januar 09 in Brüssel den „European Railway Award" der europäischen Bahnvereinigung entgegen nehmen für politische Leistungen im Bereich der Verkehrspolitik. (Hr. Ludewig ist extra persönlich in die Schweiz gereist, um zu garantieren, dass die Übergabe ihren Empfänger auch erreicht.)

VI.

Diese Politik der Ideen einerseits und der Kompromissfähigkeit andererseits wollen wir fortsetzen.

Von der Alpeninitiative stammt die Idee der Transitbörse.

Wo steht heute die Alpentransitbörse: irgendwo zwischen Wien und Salzburg.
Mit dem verabschiedeten Güterverkehrsverlagerungsgesetz  gibt es eine Rechtsgrundlage: Der BR kann völkerrechtliche Verträge zur Alpentransitbörse abschliessen, muss aber für die Umsetzung dem Parlament eine Gesetzesgrundlage unterbreiten. Diese Änderung führte das Parlament gegen den Willen des Bundesrates ein. Wenn wir schon unsere direkte Demokratie mit Initiativen und Volk und Ständen, die diese gegen den Willen des Bundesrates annehmen können, loben, wollen wir auch die Kompetenz der Bundesversammlung, die über dem Bundesrat steht, respektieren. Ich sage das all jenen, die nach wie vor von einer Umsetzung der Börse auf dem Verordnungsweg träumen.  
Die Schweiz kann die ATB nicht im Alleingang realisieren. Nur eine international abgestimmte Einführung im gesamten Alpenbogen verspricht Erfolg.

Im Alpenraum gibt es verschiedene Ideen, wie man die negativen Folgen des Schwerverkehrs eindämmen kann:

die Alpentransitbörse ist eine davon und setzt bei der Anzahl der Lastwagen über die Alpen an. Dass mit der Alpentransitbörse Verlagerungseffekte erzielt werden können, ist gemäss internationalen Studien unbestritten.
Ein anderer Vorschlag ist das Emmissionshandels-System. Es begrenzt den Schadstoffausstoss. Die Genehmigungen für die Alpendurchfahrten würden dann an einer Börse gehandelt (ähnlich wie bei der Alpentransitbörse), mit dem Unterschied, dass statt der Lastwagen die Menge der Schadstoffe limitiert würden. (Das CO2-Handelsprogramm der EU funktioniert ähnlich.)
Es gibt ein weiteres Modell: Maut-Modulationen. Die Strassenabgaben variieren je nach Tageszeit (wobei hier die Verlagerungswirkung nicht gleich gross wäre, wie bei den anderen Systemen.)
Auch eine Kombination dieser Varianten ist denkbar. Die Verhandlungen gehen weiter.

Einmal mehr: Das Ziel scheint klar und einfach; (den Alpenraum vor den negativen Folgen des Schwerverkehrs schützen.)

Der Weg dorthin aber führt angesichts von Hindernissen auf Umwegen über Berge und Täler. Und er führt auch über unsere Nachbarn.

VII.

Der Alpenschutzartikel beginnt mit folgenden Worten:

„Der Bund schützt das Alpengebiet vor den negativen Auswirkungen des Transitverkehrs. Er begrenzt die Belastungen durch den Transitverkehr auf ein Mass, das für Menschen, Tiere und Pflanzen sowie ihre Lebensräume nicht schädlich ist."

Ich habe es nie verhehlt und wiederhole es auch heute: Wenn dieser Artikel so verstanden werden sollte, dass nur die Menschen und Tiere in den Alpen vor dem Verkehr geschützt werden sollten, hätte ich Mühe mit der Bestimmung. Der Schutzpatron der AIpeninitiative ist nicht St. Florian, sondern die Nachhaltigkeit.

Der Begriff der Nachhaltigkeit verbietet es, ihn nur auf ein einziges Gebiet oder auf ein einziges Land zu verwenden, zum Beispiel auf die Schweiz. Die Alpeninitiative arbeitet solidarisch für den gesamten Alpenbogen. Zur Solidarität gehört auch die Erkenntnis, dass in den städtischen Agglomerationen auch Menschen wohnen, die vom Transitverkehr geplagt sind. Wir sind uns einig: Wir können nicht unser Wohl gegen das Wohl anderer ausspielen.

Wohl deshalb hielt sich die Begeisterung bei der Westumfahrung beim Zürcher Regierungsrat und beim Bundesrat in Grenzen, wie das auch alle Medien richtig festgehalten haben.

Und was für den Schutz der Menschen sowohl im Alpenraum als auch in den Städten gilt, das gilt auch für die Fauna in den Alpen und im Mittelland. Deswegen sind auch Fledermäuse geschützt worden. Die ökologischen Kompensationsmassnahmen beim heutigen Autobahnbau sind ein Fortschritt der Nachhaltigkeit. Zahlreiche Bäche und Flüsse werden freigelegt und renaturiert, es wurde mehr Wald wieder aufgeforstet und gerodet, neue Feuchtbiotope wurden angelegt, neue Fischrampen und Wildtierpassagen gebaut.

Bedenken wir, dass ohne die Menschen gerade in den Städten der Alpenartikel nicht angenommen worden wäre. Diese Solidarität muss gegenseitig sein. Das ist auch der Sinn der Nachhaltigkeit. Sie gilt für alle Menschen.

Gewiss ist die Förderung des öffentlichen Verkehrs die erste und wichtigste nachhaltige Verkehrsmassnahme.

Die nächste Initiative für die Förderung des öffentlichen Verkehrs und den Umweltschutz ist bereits in der Pipeline.

Wird die Initiative angenommen, werden Sie wieder tanzen können. Wir wissen aber auch: Nach dem Tanzen werden wir wieder bohren müssen.

Ich bin mir sicher: Sie werden uns dabei helfen.

Der Alpenschutz: Tanzen und Bohren