Wir haben uns heute um die „Bolle di Magadino“ versammelt. Als Deutschschweizer habe ich mich zunächst natürlich gefragt: Was bedeutet eigentlich „Bolle“ genau? Ich schlug im Dizionario nach. Er lehrt mich drei Bedeutungen:

-          1. bolla di sapone,

-          2. bolla speculativa,

-          3. sigillo con cui veniva autenticato un documento del papa.

Wir sehen: Die „Bolle di Magadino“ symbolisieren alle Probleme dieser Welt.

-          Mit der bolla speculativa die Wirtschaft,

-          mit dem sigillo per documenti del papa die katholische Kirche,

-          und mit den bolle di sapone die Politik.

Kein Wunder also, dass wir uns heute in grossem Respekt um die Bolle versammeln.

Wir sind ja nicht die einzigen. Auch die Vögel dieser Welt umschwärmen die Bolle:

Die unterschiedlichsten Vögel landen hier, wandern ein und reisen aus.

-          Die einen sind Transitvögel. Sie kommen von Norden und wollen weiter nach Süden. Jedes Mal gibt es Stau und schon mancher Vogel hat gesagt: Mit einer zweiten Röhre ginge es schneller.

-          Andere Vögel kommen aus dem Süden und suchen hier Nahrung oder Asyl.

-          Und es gibt Vögel, die kommen nur ganz kurz, verstecken ihre Eier in einem Tresor. In letzter Zeit haben sie Angst, sie würden dabei beobachtet von grossen hungrigen Raubvögeln auf den monti, besser auf den Tremonti.

Auch ich habe mich schon hierher geflüchtet. Vor allem während des hektischen Trubels des Filmfestivals konnte ich hier Ruhe und Inspiration finden. Wir wissen: Das Blubbern der Bolle gibt uns für jedes Problem dieser Welt eine Antwort, wir müssen nur den Mut zur Stille haben und genau hinhören, was uns die Bolle sagen.

So murmelten mir die Bolle zu: „Früher übernachteten Brieftauben in der Ebene. Heute kommen sie nicht mehr. Der Service public durch die Post ist in Gefahr. Es braucht im Tessin weiterhin genügend Briefkästen und Postfilialen.“ Nach einem Moment der Stille blubberte es weiter und ich hörte:

„Wir brauchen einen Tessiner im Verwaltungsrat der Post.“ – Der Bundesrat gehorchte den Bolle sofort; Hr. Vassalli wird sein neues Amt im Juni antreten.

Die Bolle sind auch etwas eitel und finden selbst, fast nichts auf der Welt klinge so schön wie ihr eigenes, vom Zwitschern der Vögel begleitetes Blubbern. Nur eine Musik sei noch schöner: Jene des Orchestra della Svizzera Italiana.

Und so blubberten die Bolle plötzlich allegro, ma molto agitato: „Rette es!“

Mein Departement führte seither Gespräche mit allen Beteiligten, und es zeichnet sich eine Lösung ab. Das OSI wird uns erhalten bleiben.

Heute sagen uns die Bolle: „Spät kommt ihr, doch ihr kommt!“

Wir feiern heute die Wiederherstellung einer Schatztruhe der Biodiversität, eine intakte Naturlandschaft von nationaler und europäischer Bedeutung.

Wir wissen aber auch: Immer wenn wir solche umweltpolitischen Erfolge feiern können, liegen langwierige Auseinandersetzungen hinter uns. Das zeigt auch die bewegte Geschichte dieser Landschaft.

Bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Magadinoebene zwar ein Paradies der Biodiversität, für die Menschen aber praktisch unbewohnbar. Wegen der häufigen Überschwemmungen, wegen des mäandernden Flusslaufs des Tessins, wegen der Malaria. Die Menschen wohnten in Dörfern auf den Ausläufern der Berge, welche die Ebene säumen, oft herrschte Armut, viele zogen fort.

Dann begann der Mensch, die Natur zu zähmen, zu verändern, zu gestalten: Er bohrte Löcher durch die Alpen, er begradigte Flüsse wie den Ticino, er begann die Ebene landwirtschaftlich intensiv zu nutzen, er baute Strassen in die Ebene, und auch einen Flughafen, den er jetzt ausbauen möchte.

Langsam wurde das den Bolle zu viel und sie blubberten unüberhörbar: „Störe meine Ruhe nicht.“

Und so blieben die Bolle di Magadino die letzte Bastion der Natur. Hier blieb der Flusslauf des Ticino unverändert, und schon früh gab es deshalb Bestrebungen, diese Landschaft zu schützen.

1974 wurde das Naturschutzgebiet Bolle di Magadino geschaffen. Das ist der Initiative von einzelnen Personen zu verdanken, dem Engagement von NGOs wie dem WWF oder ProNatura, den Gemeinden, aber auch der ausgezeichneten Zusammenarbeit zwischen dem Kanton Tessin und dem Bund.

Und jedes Mal, wenn ich einen Chefposten im BAFU besetzen muss, blubbern die Bolle: „Nimm einen Tessiner!“

Und so ist der Direktor des BAFU ein Tessiner, ein weiterer Tessiner ist Vizedirektor.

Nicht immer konnten die Wünsche der Bolle allerdings sofort erhört werden.

Seit Jahrzehnten blubberten sie: „Fort mit den Silos!“

Das Projekt „Lebendiges Delta“ konnte erst abgeschlossen werden, nachdem das jahrzehntelange Ringen um das Kieswerk „Silos Ferrari“ beendet war. Das Werk wurde endlich verlegt, und ich bin froh, dass es dem Kanton Tessin gelungen ist, dieses Problem zu bereinigen.

Denn Umweltschutz, Wirtschaftlichkeit und unser Mobilitätsdrang führen unweigerlich zu Zielkonflikten.

Das zeigte sich auch 2007, als um die Variante 95 der Verbindungsstrasse Bellinzona-Locarno sehr heftig gestritten wurde.

Ein weiteres Beispiel für einen solchen Zielkonflikt ist der Flugplatz Magadino. Die Locarnesi wollen einen Ausbau, damit hier der Bundesratsjet landen kann. Die Naturschutzorganisationen wollen die Bolle und vor allem die Vögel vor Lärm schützen.

Ich ging in einer Pause des Filmfestivals zu den Bolle und fragte sie um Rat.

Ihre Antwort: „Finde einen Kompromiss!“ (Die Bolle sind sehr konsensorientiert.)

Ich glaube, wir haben eine Lösung gefunden, die beide Seiten zufrieden stellt. Der SIL soll die Verlängerung der Flughafenpiste ermöglichen, wenn der Kanton dies wirklich will. Jedoch garantieren die gleichzeitigen Auflagen, dass das Schutzgebiet nicht mehr belärmt wird als heute, dass also die Vögel nach wie vor einreisen, ausreisen und vor allem in Ruhe übernachten können.

Nachhaltigkeit ist nicht eine einfache Formel. Sie ist bei jedem konkreten Einzelentscheid wieder neu zu erringen. Umso wichtiger ist es, dass in der Schweiz das Umwelt- und Infrastrukturministerium im gleichen Departement untergebracht sind. So können Umweltanliegen bei der Planung und Weiterentwicklung von Infrastrukturen (v.a. im Verkehrsbereich) frühzeitig einfliessen. Dies stärkt unsere Politik der Nachhaltigkeit erheblich.

Ich konsultierte die Bolle auch, als ich eine Position zur Volksinitiative «Lebendiges Wasser» suchte.

Die Bolle blubberten: „Das Beste ist ein indirekter Gegenvorschlag!“

Dieser wurde von den Räten unter dem Namen «Schutz und Nutzung der Gewässer» am 11. Dezember 2009 angenommen. Ich bin überzeugt, dass in den nächsten Jahren in der ganzen Schweiz viele ähnliche Projekte wie dieses realisiert werden.

Allein der Anblick dieser Landschaft entschädigt uns für unser Engagement. Es gibt aber einen weiteren Grund, diese Landschaft bis in alle Ewigkeit in ihrer ganzen Pracht zu erhalten:

Solange die Bolle di Magadino aus der Tiefe emporgurgeln und solange die Zugvögel hierher kommen, solange können wir auch die Probleme dieser Welt lösen. Wenn wir nur dem stillen Blubbern der Bolle lauschen und dem leisen Zirpen und Zwitschern der Grillen und Vögel horchen – werden wir immer eine Antwort finden.

Und was sagen uns die Bolle heute? Sie sagen Ihnen allen: Danke! Danke, für Ihre Hartnäckigkeit, danke für Ihre Geduld, danke für Ihre Arbeit, danke an alle.