Es gilt das gesprochene Wort! 

Wenn man sich, wie ich, von Amtes wegen mit Sicherheitsrisiken auseinandersetzt, wird man gerne als Schwarzmaler bezeichnet. Das ist verständlich: Sicherheit ist Lebensqualität. Und jedes Mal, wenn die Sicherheit in Frage gestellt wird, leidet das Sicherheitsgefühl und damit die Lebensqualität. Man hat nicht gerne Angst. Man macht sich nicht gerne Sorgen. Und doch ist die Sorge der Antrieb zur Vorsorge.

Und die Vorsorge wiederum hilft uns, die Sicherheit auch mittel- und langfristig zu erhalten. Gerade weil wir maximale Sicherheit wollen, dürfen wir mögliche Gefahren und Bedrohungen nicht einfach ausblenden. Wer Sicherheit will, darf Sicherheit nicht als Selbstverständlichkeit betrachten.  

Leider sind Auseinandersetzungen, Konflikte, Krisen und Kriege auch Teil dieser Welt: In den letzten Jahren zählte man jeweils über ein Dutzend grössere bewaffnete Konflikte. An weiteren Orten bestehen Spannungen, von denen man nicht weiss, ob sie in Gewalt umschlagen: Säbelrasseln vernimmt man beispielswiese aus dem Nahen Osten und von der koreanischen Halbinsel.

Aber Worte mit düsterem Unterton sind nicht auf Krisenregionen beschränkt: Die neue russische Militärdoktrin vom Februar bezeichnet die NATO als Hauptbedrohung.  Fast gleichzeitig hat das Pentagon einen Bericht veröffentlicht, der davon ausgeht, dass die USA permanent Krieg führen werden.  Auch die Zahlen sprechen eine martialische Sprache: Das amerikanische Budget sieht Militärausgaben vor, die so hoch sind wie noch nie; sie liegen inflationsbereinigt 33% höher als während des Vietnamkrieges und 23% höher als während des Kalten Krieges. Die Rüstungsausgaben steigen weltweit an, in den zehn Jahren von 1999 bis 2008 waren es 45%. 

Muster der Geschichte
Es lohnt sich zu registrieren, wie sich durch die Geschichte Mechanismen und Muster wiederholen. Schon Thukydides suchte in seiner „Geschichte des Peleponnesischen Krieges“ nach Erklärungen für Kriegsursachen. Er nannte erlittene Demütigung, er nannte die Angst und er nannte entgegengesetzte Interessen.

Und weil der Mensch Mensch bleibt, treiben ihn immer wieder die selben Ursachen zu Konflikten an. Zum Glück verlaufen viele dieser Spannungen unblutig, aber als mögliche Ursache von Konflikten gehören sie auf den Radar des Beobachters.

Vergeltung für die erlittene Demütigung: Das mag etwas altmodisch tönen. Aber ich erinnere Sie an all die Abhandlungen über die russische Seele, die nach dem letzten Georgienkrieg vom Sommer 2008 die Zeitungen füllten. Da ging es um Ehre, da ging es um Revanche und erlittene Demütigungen. Ähnliche Motive dürften auch zur Invasion der westlichen Verbündeten in Afghanistan geführt haben. Es geht hier nicht darum, zu werten und zu richten, sondern allein darum, die Mechanismen zu verstehen, weshalb es immer wieder zu Kriegen kommt.

Angst: Das ist die Angst vor einem erstarkenden Gegner, der an wirtschaftlichem oder militärischem Potential zulegt, der so stark zulegt, dass er unangenehm wird. Es ist der Reflex, einen Konkurrenten zurückzubinden, von dem man überflügelt werden könnte oder von dem man vermutet, er werde zu einer Gefahr. Oder es ist die Angst vor politischen Veränderungen, die Signalwirkung haben und die eigene Macht in Frage stellen: Ein typisches Beispiel ist der Prager Frühling, der als Reformbewegung indirekt auf den sowjetischen Herrschaftsanspruch zielte und mit einem militärischen Einmarsch beendet wurde. 

Interessensgegensätze: Auch diese entzünden sich stets an den gleichen Ursachen. Es geht um Gebietsansprüche, es geht um Ressourcen, es geht um die Ordnung des Zusammenlebens, es geht um Verbindungswege.

Vier Grundtypen der Interessensgegensätze
Die klassischen Territorialkriege haben wohl viele in Europa für überwunden gehalten; in den 90er-Jahren kehrten sie mit ethnischen Säuberungen auf dem Balkan in alter Brutalität zurück.

Die Konflikte um Ressourcen können wir täglich in den Medien mitverfolgen: wirtschaftliches Wettrennen um Energieträger und Metalle, Ölkriege, Streit um Wasser, Lebensmittelknappheit und Hungerrevolten. Zu den Ressourcen zählen auch Geld und Wirtschaftskapazität: In der Schweiz haben wir den Kampf um Steuersubstrat kennen gelernt, sowie mediale, diplomatische, juristische oder pseudo-juristische Kampagnen gegen einen erfolgreichen Wirtschafts- und Finanzplatz. Wir erleben somit diesen Verteilkampf um Ressourcen selbst und werden ihn in den nächsten Jahren in noch stärkerem Ausmass zu spüren bekommen; es sei denn, wir lernen wieder, uns für unsere Interessen einzusetzen. 

Auch die Art des Zusammenlebens, auch die Werte, die einer Ordnung zugrundeliegen, können Angriffsziel sein. Einfach deshalb, weil wir westliche Werte leben, können wir ins Visier genommen werden. Das haben die Anschläge in Madrid und London gezeigt und die vielen geplanten Anschläge, die glücklicherweise verhindert werden konnten. Aber Konflikte um das Zusammenleben ergeben sich nicht nur mit Terroristen, sondern auch mit Millionen von Menschen in Europa, denen unsere Ordnung wenig oder nichts bedeutet – mal abgesehen von den Möglichkeiten, die der Sozialstaat bietet – und die sich ihr mehr oder weniger aktiv entziehen. Die Zustände in englischen oder französischen Vorstädten sind ein Beispiel dafür.

Immer entstehen Konflikte um Verbindungswege zu Land, zu Wasser oder neu auch um die virtuellen Vernetzungen im Internet. Die Bedeutung von Wasserstrassen zum Beispiel ist auch uns in der Schweiz letztes Jahr wieder klar geworden: Zur Diskussion stand eine Beteiligung an der EU-Militäroperation Atalanta, die das Parlament dann aber ablehnte. Auf den ersten Blick schien es um somalische Piraten zu gehen, die Handelsschiffe kapern; auf den zweiten Blick stellte man fest, dass es um mehr geht: Die Strasse von Aden, gewissermassen die Verlängerung des Suezkanals, ist eine wichtige Passage für den Schiffsverkehr zwischen Europa und Asien. Etablierte und aufstrebende Mächte markieren Präsenz in diesen strategischen Gewässern: Die USA, die EU, Russland, Indien, China und der Iran lassen dort Kriegsschiffe kreuzen, weil keine dieser Mächte diese Handelsroute den andern überlassen möchte.

Konflikte aus Revanche, aus Angst vor einem aufsteigenden Widersacher, aus Interessensgegensätzen – Man kann alle diese Lehren aus vergangenen und gegenwärtigen Konflikten zusammenfassen im Satz: Es gibt keine spannungsfreie Welt. Immer besteht die Gefahr, in den Sog von Konflikten zu geraten. 

Kriegsbilder und Konfliktszenarien
Wenn wir von Spannungen, von Konflikten oder gar von Krieg reden, dann melden sich Bilder, die unsere Vorstellungen steuern.

Teilen wir die letzten 70 Jahre in fünf Epochen ein. Jede dieser Epochen prägte ein eigenes Bild, das bis heute nachwirkt. Damit haben diese Epochen mir ihren Konflikten eine begriffsprägende Wirkung erlangt. Wenn wir „Krieg“ oder „Konflikt“ hören, denken wir unwillkürlich an eines dieser fünf Bilder, die ich Ihnen kurz skizziere:

Der Zweite Weltkrieg: Auch wenn dieser Krieg schon Jahrzehnte zurückliegt, hat er als traumatisches Ereignis sich tief ins kollektive Gedächtnis eingefressen; so tief, dass auch Nachgeborene beim Stichwort Krieg oft an einen Massenkrieg denken, an einen Materialkrieg, an einen totalen Krieg nach dem Muster des zweiten Weltkrieges. 

Der kalte Krieg: Zwei hochgerüstete Machtblöcke, die sich belauern, die mit Atomwaffen ein Gleichgewicht des Schreckens halten und auf dem ganzen Globus, vor allem in der Dritten Welt, Stellvertreterkriege führen. Auch wenn man in Westeuropa nicht unmittelbar durch Kriegsgeschehen betroffen war, das unheimliche Damoklesschwert eines Dritten Weltkrieges, einer sowjetischen Aggression und eines Atomschlages hing immer über allen.

Die Zeit nach 1989: Das ist die Zeit der grossen Weltfriedenshoffnung. Keine Freund-Feind-Konturen mehr, stattdessen eine Weltgemeinschaft, die sich gemeinsam den Problemfällen annimmt. Zum Beispiel einem Diktator wie Saddam Hussein. Unter dem Dach der UNO werden die Bemühungen gebündelt und koordiniert. Das beste Beispiel ist der erste Irak-Krieg von 1991. Dieser fand auf der Grundlage einer UNO-Resolution statt und sah eine breitabgestützte, buntgemischte Koalition gegen den Friedensbrecher Irak aufmarschieren. 

Die Staatsinteressen drifteten aber bald wieder auseinander. 1999 wurde der Luftkrieg gegen Serbien als „humanitärer Krieg“ verteidigt, aber für ein UNO-Mandat reichte die Einigkeit bereits nicht mehr.

Die Zeit nach 2001: Gemäss amerikanischer Bezeichnung herrscht seither Krieg gegen den Terror. Mit den Angriffen auf die Twin-Towers und das Pentagon verlor das Schlachtfeld jede Begrenzung. Krieg kann überall sein. Und alles kann eine Waffe sein, auch Linienflugzeuge. In den Konflikten dieser Epoche haben sich vor allem auch Bilder als starke Waffe erwiesen. Die Amerikaner kommunizierten im Golfkrieg 2003 mit sogenannt „eingebetteten Journalisten“, ausgewählten Medienvertretern, die mit der Truppe unterwegs waren und direkt von der Front berichteten. Terrorzellen antworteten via Internet mit blutigen Videos.

Politisch gesehen wurde die Weltlage wieder polarisierter. „Für uns oder gegen uns“, war zu hören. Von einer einigen und solidarischen Weltgemeinschaft konnte keine Rede mehr sein. Der zweite Irakkrieg 2003 wurde ohne UNO-Beschluss durch eine so genannte Koalition der Willigen geführt.

Generationenkonflikt in der Sicherheitspolitik
Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg, Weltfriedenshoffnung nach 89, Krieg gegen den Terror seit 2001, humanitäre Interventionen und die Versuche, zerrüttete Staaten wie Afghanistan nach demokratischem, westlichem Vorbild neu aufzubauen – Das sind die Bilder, die unser sicherheitspolitisches Denken prägen. Bleibt noch ein Kriegsbild, noch ein Kriegstypus: Der nächste Krieg, der Krieg der Zukunft, von dem wir nicht wissen, wann er kommt und wie er aussehen wird.

Und unsere Aufgabe ist es, uns damit auseinanderzusetzen. Selbstverständlich hilft es uns, wenn wir die verschiedenen Konflikttypen genau anschauen. Aber wir müssen uns von solchen Bildern auch lösen können, so wuchtig sie auch sind. Und Kriegsbilder haben eine unglaubliche Wucht. Sie prägen sich tief ein. Es ist deshalb gut verständlich, dass die Erfahrungen vergangener Konflikte die Vorbereitungen auf den nächsten Konflikt dominieren.

Aber es ist verhängnisvoll, gewissermassen ein Maginot-Effekt: Die französische Verteidigung zog damals die Lehren aus dem Stellungskampf im Ersten Weltkrieg, indem sie diesen Stellungskampf perfektionierte; wo im Ersten Weltkrieg dem Angreifer in handgeschaufelten Schützengräben und hinter Stacheldrahtverhauen getrotzt wurde, sollte ihn ein ausgeklügeltes Bunkersystem erwarteten. Aber der nächste Krieg sah anders aus, und im Blitzkrieg 1940 nützte die Maginotlinie nichts. Dieser Maginot-Effekt wiederholt sich immer wieder: Der nächste Konflikt wird zu stark aufgrund der Erfahrungen des letzten vorbereitet und gerät zum Debakel.

Einen solchen Maginot-Effekt stelle ich auch bei uns fest. Vergangene Konflikte und weltpolitische Konstellationen prägen die Vorstellungen von Sicherheit sehr stark. Wobei verschiedene Generationen jeweils durch die Epochen und Konfliktbilder geprägt sind, die sie als Bürger und Soldat erlebt haben. Besonders prägend für uns war die Wende 1989; der Glaube an eine internationale Friedensarchitektur ist entsprechend stark verbreitet.

So ist die Sicherheitspolitik von Generationenkonflikten gezeichnet. Nehmen wir den Ausdruck „Réduit-Denken“. Oft wird er als Synonym für Hinterwäldlertum gebraucht. Oder nehmen wir den Ausdruck „Kalter Krieger“; das wird gleichgesetzt mit „unflexibler Militärkopf“. Beides sind Kampfbegriffe aus der Armeedebatte. Wer sich so schubladisiert wiederfindet, der ist politisch so gut wie entsorgt. Das Réduit-Denken ist Vergangenheit und den Kalten Krieg glauben wir so gründlich überwunden, dass sogenannt Kalte Krieger in der Diskussion kaum mehr Gehör finden. Gleichgültig, wie stark sie sich zu ihrer Zeit für die Armee und die Sicherheit des Landes engagiert haben.

Interessant ist, dass gerade die Fundamentalopposition gegen die Armee vom selben traditionellen Kriegsbild geprägt ist, das sie andern vorwirft: Sie geht von den grossen Vernichtungsschlachten aus und kann offenbar eine Gefahr für unser Land nur wahrnehmen, wenn gleich hinter der Grenze schon einige hunderttausend Mann angriffsbereit unter Waffen stehen.

Die Armeeabschaffer sind die eigentlichen Kalten Krieger, wenn man denn diesen Begriff tatsächlich verwenden will; gerade sie sind in diesem Kriegsbild verhaftet. Den Begriff Krieg verbinden sie automatisch mit dem anrückenden Massenheer oder mit der atomaren Bedrohung durch die Sowjets. Jetzt, da der Warschauer-Pakt nicht mehr existiert, halten sie einen Krieg nicht mehr für möglich, da ihr Kriegsbild 1989 stehen geblieben ist. Weil die Armeeabschaffer keine Panzerketten rasseln hören, ist für sie der Krieg überwunden. Aber wenn etwas überwunden ist, dann ist es das Kriegsbild der Armeeabschaffer. Wobei anzumerken ist, dass es auch diesen klassischen konventionellen Krieg immer noch gibt: Ich denke etwa an den letzten Georgienkrieg, das war ein Stoss mit Panzern, mit Infanterie und mit starker Artillerievorbereitung. Die Georgier haben militärisch einen schlechten Eindruck gemacht, weil sie sich auf das von der NATO geforderte Peacekeeping vorbereitet haben und nicht auf Verteidigung!  Und weil sie von ihren Freunden in der Stunde der Not allein gelassen worden sind.

Weltfriedenshoffnung
Aber die Epoche, welche die Kriegsvorstellungen und die Sicherheitsdebatte bis heute am stärksten prägt, ist die Phase nach 1989. Nach dieser Vorstellung dominiert eine Weltfriedensarchitektur, getragen durch eine Weltgemeinschaft, die in freundschaftlicher Verbundenheit die wenigen verbleibenden Probleme löst. Alle befinden sich auf der Einbahnstrasse zum ewigen Frieden, ab und zu mag es zwar auf dem Weg dahin noch eine Kollision geben, dann rückt die Weltgemeinschaft gewissermassen als Sanität und Verkehrspolizei aus; solche Zwischenfälle sind dann ärgerlich und traurig, aber eben doch nicht mehr als eine Episode.

Nach dieser Vorstellung weigert sich die Zeichen der Zeit zu erkennen, wer abseits steht. Oder er ist ein Egoist, der nur kleinlich auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Oder er ist gleich beides, ein selbstsüchtiger Ewiggestriger.

Unsere Sicherheitsdiskussion ist im Wesentlichen hier stehen geblieben, beim ersten Irak-Krieg 1991. Es ist die Überzeugung, in einer reibungslos funktionierenden, selbstlos zusammenspielenden Staatengemeinschaft gut aufgehoben zu sein.

Die Welt hat sich aber in den letzten bald zwanzig Jahren weiter bewegt. Der Krieg gegen den Terror löste eine neue Art militärischer Interventionskriege aus. Getragen werden sie durch sogenannte „Koalitionen der Willigen“. Die Wirklichkeit dieser Kriege wurde bei uns noch nicht richtig wahrgenommen, noch immer sehen viele darin robuste Friedensmissionen oder humanitäre Interventionen.

Denken wir an Afghanistan. Die Amerikaner sprechen offen von Krieg, während andere, die auf dem selben Schlachtfeld operieren, wortreiche Umschreibungen vorziehen. Aber wie immer man den Konflikt auch benennen will, es ändert nichts an der Tatsache, dass gekämpft und gestorben wird.

Und wir nehmen auch jetzt noch gar nicht richtig zur Kenntnis, dass diese modernen Armeen im Einsatz nicht überzeugen. Die moderne israelische Armee konnte im letzten Libanonkrieg vom Sommer 2006 gegen den Hisbollah keinen schnellen Sieg erringen. Die NATO-Armeen vermögen den Widerstand im Irak nur teilweise einzudämmen, brechen können sie ihn nicht. Und in Afghanistan kämpfen die Amerikaner mit der modernsten Armee der Welt. Und das in einem Gelände, das von unserem nicht ganz verschieden ist.
 
Ich setze mich dafür ein, dass sich die Sicherheitsdiskussion von der vergangenen Epoche der grossen Weltfriedenshoffnung lösen kann. Damit erhalten wir den gedanklichen Freiraum, uns mit den Herausforderungen der Zukunft zu beschäftigen. Und dazu gehört leider auch – so realistisch müssen wir sein –, dass wir schlimmste Szenarien wie bewaffnete Aggressionen nicht ausschliessen können.

Was die Zukunft bereithält, weiss niemand. Richtig ist deshalb ein offener Ansatz: Es gilt an der Flexibilität zu arbeiten, innert kurzer Zeit reagieren zu können.

Der Zustand unserer Armee
Unser Ziel muss sein, den Frieden in Freiheit zu sichern. Dazu können und müssen die verschiedensten Bereiche einen Beitrag leisten; ich denke an unsere Energieversorgung, an unsere Landwirtschaft und Ernährungssouveränität, an unsere Wirtschaftspolitik, an unsere Aussen- und Neutralitätspolitik, an unseren Nachrichtendienst, an unseren Bevölkerungsschutz – und eben auch an unsere Armee. Ich setze bei der Armee den Schwerpunkt, weil Sie mich ja als Vorsteher des VBS eingeladen haben, aber auch weil die Armee das Mittel ist, das wir einsetzen können, wenn alle andern Mittel versagt haben. Die Armee ist gewissermassen die Rückversicherung unserer Sicherheit und Freiheit.

Entsprechend dem Subsidiaritätsgrundsatz drängt sich die Armee nicht auf; aber schnell kann der Mittel- und Personalbedarf ein Ausmass annehmen, das nur noch durch die Armee abgedeckt werden kann. Somit wirkt die Armee als Stütze des Staates in ausserordentlichen Lagen.

Denken wir an den Schutz unserer kritischen Infrastruktur. Die Schweiz muss fähig sein, diese zu sichern und zu schützen: Flughäfen, Bahnhöfe, Strassenverbindungen, Kraftwerke, Staumauern, Stromverteil- und wichtige Industrieanlagen. Dazu ist allein die Armee in der Lage.

Denn der Kräftebedarf ist hoch. Nehmen wir als Beispiel die Nord-Süd-Achse A 2 von Basel über Luzern, Altdorf, Gotthard, Lugano nach Chiasso. Allein diese Achse weist 634 Brücken, 45 Tunnels und 720 andere Kunstbauten auf. Das macht deutlich, wie wichtig ein einsatzbereites und glaubwürdiges Sicherheitsinstrument in der Hand der Landesregierung ist. Und das gibt uns auch einen Hinweis auf die erforderliche Grösse und Stärke der Armee.

Unsere Armee muss verhindern, dass in unserem eigenen Land ein sicherheitspolitisches Vakuum entsteht. Dadurch leistet sie übrigens auch einen Beitrag an die internationale Stabilität. Allein beispielsweise die Tatsache, dass die Schweiz auf ihrem Territorium wichtige Nord-Süd-Achsen schützt, ist eine Leistung, die ruhig selbstbewusst als Beitrag an den Frieden in Europa verstanden und vermittelt werden darf.

Ausserordentlichen Ereignissen muss mit einem starken strategischen Mittel begegnet werden können. Wir müssen notfalls in der Lage sein, auf Ausnahmesituationen zu reagieren, die wir uns jetzt unmöglich vorstellen können.

Schrumpft die Armee infolge Mangels an Mannschaft oder finanziellen Mitteln unter eine kritische Grösse, kann die Armee ihre Aufgabe als strategisches, als letztes Mittel nicht mehr wahrnehmen.

Wir haben massiv weniger Geld zur Verfügung, als dass dies ursprünglich bei der Planung der Armee XXI vorgesehen war. So fehlen uns die Mittel für die erforderliche Beschaffung von Rüstungsgütern. Es drohen Immobilien zu verkommen, weil wir sie nicht ordentlich unterhalten können. Und wir haben teilweise zu wenig Material, um alle eingerückten Armeeangehörigen auszubilden. Oder auch zu wenig Material, um erwartete Leistungen zu erbringen: Zur Zeit können wir von unsern 20 Infanteriebataillonen gerade noch drei vollständig mit Korpsmaterial ausrüsten, stellen wir die Ausbildung in den Rekrutenschulen ein und nehmen auch dieses Material dazu, kommen wir auf sieben. Einfach zum Vergleich: In der Armee 61 hatten wir 490 Infanteriebataillone mit vollständiger Ausrüstung.

Wenn wir nicht mehr Geld für die Sicherheit erhalten, müssen wir uns auf das Allerwichtigste vom Allerwichtigen konzentrieren. Das zwingt uns, selbst auf Wichtiges zu verzichten. So – dramatischerweise – zum Beispiel auf den Tiger-Teilersatz, was ich sehr bedaure. Dieser kann bei der momentanen Finanzlage nicht realisiert werden, obschon das für die Sicherheit unseres Landes wichtig wäre. Aber die Lage ist in vielen Bereichen derart angespannt, dass wir dort um das schlichte Funktionieren kämpfen; solchen Bereichen müssen wir jetzt Priorität einräumen.

Die Verzichtsplanung trifft nicht nur die Luftwaffe. Wir verzichten auf die Einführung neuer Systeme, beispielsweise im Bereich der elektronischen Führung oder des elektronisch vernetzten Soldaten. Dagegen mustern wir alte Waffen vorzeitig aus und schliessen Anlagen, um so Unterhaltskosten zu senken.

Die Armee nimmt den Sparauftrag ernst. Dabei darf sie aber von der Politik nicht einfach als Sparobjekt gesehen werden. Denn die Folgen sind verhängnisvoll. Es ist wie eine Wette: Man wettet darauf, dass nichts passiert; als Wetteinsatz setzt man die Sicherheit. Wenn wir die Wette verlieren, kann der Preis hoch sein. Möglicherweise müssen wir mit Menschenleben oder mit dem Verlust der Freiheit dafür bezahlen.

Fazit
Sicherheit ist keine Selbstverständlichkeit. Der Mensch bleibt Mensch; und immer wirken die selben Triebfedern für Konflikte: Revanchebedürfnis, Angst vor aufsteigenden Konkurrenten, Interessensgegensätze herbeigeführt durch Gebietsansprüche, durch den steigenden Bedarf an Ressourcen verschiedenster Art, durch unterschiedliche Vorstellungen über Werte und die Ordnung des Zusammenlebens; oder Interessensgegensätze aufgrund von Ansprüchen auf Verbindungswege.

Es gilt, uns auf die nächsten Konflikte und Krisen vorzubereiten, nicht auf die letzten. Wir können und müssen aus vergangenen Konflikten lernen, aber wenn wir uns auf ein Konfliktbild fixieren, erliegen wir leicht dem Maginot-Effekt. Das wäre verhängnisvoll, das darf uns nicht passieren. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns von der prägenden Vorstellung einer Weltfriedensarchitektur lösen, wie sie die Zeit nach dem Mauerfall populär gemacht hat.

Wir müssen auch in Zukunft eine eigenständige Antwort auf Überraschungen aller Art geben können. Denken wir daran: Sicherheit ist für die Stabilität in Wirtschaft und Gesellschaft unabdingbar. Und Stabilität ist Voraussetzung für Wohlstand. Wer mit der Sicherheit experimentiert, experimentiert mit der Grundlage unseres Wohlstandes. Deshalb braucht unser Land weiterhin ein starkes letztes Mittel, um im Notfall unsere freiheitliche Ordnung zu sichern – eine einsatzfähige Armee.

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