Vor dem kalifornischen Commonwealth Club auftreten zu dürfen, ist mir eine grosse Ehre, und ich möchte Ihnen zunächst für die Einladung sehr herzlich danken. Für mich ist ein solches Treffen überaus spannend. Als Stabschefin der Regierung eines souveränen Staates besuche ich einen von 50 Gliedstaaten der Weltmacht Nummer 1, und dieser Gliedstaat ist flächenmässig locker zehnmal grösser als mein Heimatland und beherbergt fünfmal mehr Einwohnerinnen und Einwohner. Nur gerade hinsichtlich des höchsten Berges haben wir in der Schweiz mit der Dufourspitze (4634 m.ü.M.) die Nase knapp – nicht vorn, aber 216 m höher als Kalifornien mit dem Mount Whitney (4418 m.ü.M.). Aber dieser Sieg zählt nicht; denn nimmt man den tiefsten Punkt hinzu (Schweiz: Ufer des Lago Maggiore 193 m.ü.M., Kalifornien: Death Valley – 86 m.ü.M.), so weist Kalifornien auch das grössere Gefälle auf. Wie also die Schweiz in Kalifornien präsentieren? Small is beautiful?

Die Schweiz mit ihren verschiedenen Kulturen und Sprachregionen braucht besondere Rahmenbedingungen. Die Schweiz braucht viel Individualität, sonst funktioniert das Zusammenleben nicht. Die Schweiz braucht auch viel gegenseitige Toleranz und Verständnis für die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen.

Die Schweiz löst diese Herausforderungen mit einem ausgeprägten Föderalismus. Die Schweiz mit ihren 7,7 Mio. Einwohnern besteht aus 26 Gliedstaaten von sehr unterschiedlicher Grösse. Der bevölkerungsreichste unserer 26 Kantone ist der Kanton Zürich mit 1,3 Mio. Einwohnern. Der kleinste Kanton ist der Kanton Appenzell I.Rh. mit nur 15'500 Einwohnern. Die Bevölkerungszahl ist 86 Mal kleiner.

Auch die verschiedenen Sprachregionen sind sehr unterschiedlich gross. Wir haben vier Landessprachen:

- rund 64 Prozent der Bevölkerung sprechen deutsch,

- rund 20 Prozent französisch,

- 6,5 Prozent italienisch, und

- 0,5 Prozent rätoromanisch.

- rund 9 Prozent der Bevölkerung haben eine andere Muttersprache. Englisch gehört zu diesen 9 Prozent.

Wie gelingt es, bei dieser Ausgangslage zusammen zu funktionieren? Wie kann man bei solchen Diskrepanzen verhindern, dass die Grossen die Kleinen dominieren? Wie lässt sich ein sorgsamer Umgang sichern? Wie können Minderheiten geschützt werden? Was hält das Land zusammen?

Bei uns haben die Kantone viele eigene Kompetenzen. Dies garantieren die föderalistischen Strukturen, die in unserer Bundesverfassung festgeschrieben sind. Wir kennen das Subsidiaritätsprinzip, das dem Gesamtstaat nur jene Aufgaben zubilligt, die ihm die Bundesverfassung ausdrücklich überträgt. So gehören zum Beispiel das Gesundheitswesen oder das Schulwesen in die Kompetenz der Kantone. Im Schulwesen garantiert dies die eigenen kulturellen und sprachlichen Eigenheiten.

Es gibt viele weitere Sicherungen auf gesamtschweizerischer Ebene, die für einen Ausgleich sorgen. So mildern wir zum Beispiel die unterschiedliche Finanzkraft zwischen den Agglomerationen mit grösserer Wertschöpfung und den ärmeren Bergregionen durch einen Finanzausgleich.

Auch das Schweizer Parlament ist auf Ausgleich angelegt. Wir haben zwei gleichberechtigte Parlamentskammern. Im Nationalrat sind die Kantone gemäss ihrer Bevölkerungsstärke vertreten. Der grösste Kanton hat 34 Sitze im 200-köpfigen Gremium, der kleinste nur einen Sitz als garantiertes Minimum. Im Ständerat dagegen – „Stände“ ist ein anderes Wort für „Kantone“ – , in der Kantonskammer, in unserem Senat also verfügen alle Kantone einheitlich über je zwei Sitze. Alle Gesetze müssen von beiden Kammern verabschiedet werden. Keine Kammer hat einen Vorrang.

In der Schweiz ist die direkte Demokratie sehr stark ausgebildet. Über jede Änderung der Bundesverfassung wird überdies obligatorisch abgestimmt. Für ein positives Resultat braucht es dabei nicht nur die Mehrheit des Stimmvolkes, sondern auch eine Mehrheit von zustimmenden Kantonen. Eine Reihe kleinerer Kantone kann somit eine Volksmehrheit überstimmen.

Minderheitenschutz bedeutet also, dass die kleineren Gemeinschaften gegenüber den grossen eine gewisse Privilegierung erfahren. In der Schweiz „verschmerzen“ dies die grossen Gemeinschaften problemlos. Diese Grosszügigkeit ist der Preis des guten Zusammenlebens – ein sympathischer Preis, den die Kleinen auch dankbar anerkennen.

Sie sehen also, wir bemühen uns in unserem Land sehr darum, überall den Ausgleich zu suchen. Wir bemühen uns darum, Auseinandersetzungen über Instrumente des Konsenses und des Kompromisses zu lösen. Auch unser Regierungssystem ist auf Ausgleich angelegt. Die sieben Mitglieder des Bundesrates repräsentieren die wichtigsten und stärksten Parteien. Zurzeit sind es fünf Parteien, die zusammen auf einen Wähleranteil von über 75 Prozent kommen. Der Präsident ist „nur“ primus inter pares. Er wechselt jedes Jahr. Er kann nicht alleine entscheiden oder befehlen. Der Bundesrat entscheidet als Kollegium.

Die Regierung und das Parlament müssen nach Lösungen suchen – Lösungen, die mehrheitsfähig sind und in den Volksabstimmungen akzeptiert werden. Dies lässt keine Extremlösungen zu. Es braucht gut austarierte und von allen getragene Lösungen.

Nun, die USA und die Schweiz zu vergleichen, mag anmassend sein; reizvoll ist es allemal. Und dasselbe gilt für den Vergleich Kaliforniens mit meiner Heimat. In der Tat haben die grossen USA und die kleine Schweiz einander in mehr als einer Hinsicht beeinflusst.

Zunächst einmal sind beide nach ihrem Eigenverständnis Bundesstaaten. Und ins Auge springt dabei, dass die Vereinigten Staaten und die Schweiz mit Abstand die beiden stabilsten Bundesstaaten der Moderne sind: Die USA sind seit 1787, die Schweiz seit 1848 ununterbrochen Bundesstaaten – lebendige Beispiele gegen die Theorie, wonach Bundesstaaten Übergangsgebilde beim Zerfall von Zentralstaaten oder bei der Überführung von Staatenbünden in einen Zentralstaat darstellen. Und in der Tat: Seit der Französischen Revolution 1789 waren nahezu die Hälfte der heute souveränen 195 Staaten einmal in einem Bundesstaat organisiert. Heute sind es noch 23.

Woran mag diese bundesstaatliche Stabilität liegen? An der Grösse bestimmt nicht – denn die USA und die Schweiz sind denkbar unterschiedlich gross. Einiges spricht dafür, dass die grosse Anzahl Gliedstaaten die USA und die Schweiz als Bundesstaaten besonders stabil gemacht haben. Denn mit zunehmender Anzahl Gliedstaaten sinkt das Risiko, dass stets die selben Bevölkerungsteile und Gliedstaaten minorisiert werden. Es fällt auf, dass unter den Bundesstaaten der Welt jene mit weniger als sechs Gliedstaaten überdurchschnittlich grosse Probleme inneren Zusammenhalts aufweisen, am deutlichsten Bundesstaaten mit nur zwei oder drei Gliedstaaten. Dort sind sprachliche, ethnische oder religiöse Konflikte besonders schwierig zu entschärfen.

Derweil aber die USA 50 doch zum grössten Teil recht umfangreiche Gliedstaaten zählen, hat die kleine Schweiz mehr als halb so viele Gliedstaaten, nämlich 26; sie ist damit flächenmässig viertkleinster Bundesstaat der Erde, aber zugleich der Bundesstaat mit der viertgrössten Anzahl Gliedstaaten rund um den Erdkreis. In der Schweiz – zehnmal kleiner als der Gliedstaat Kalifornien – gibt es also 26 Gliedstaaten; ihre Durchschnittsgrösse erreicht nicht einmal jene der kalifornischen 58 Counties: In der Schweiz beginnt beinahe an jeder zweiten Hausecke ein neuer Kanton. Small is beautiful. Das stimmt. Denn wenn direkte Demokratie in der Schweiz Rechtsgleichheit und Mitbestimmung gewährleistet, so stellt der Föderalismus ein Höchstmass an Freiheit sicher. Lassen Sie es mich nur am Beispiel der Sprachen erläutern: In der Schweiz werden vier Sprachen gesprochen: Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. Von den 26 Kantonen sind 4 rein französischsprachig, 1 rein italienischsprachig, 1 kennt drei Amtssprachen (deutsch, italienisch und rätoromanisch), 3 haben zwei Amtssprachen (deutsch und französisch) und 17 Kantone sind deutschsprachig. Aber jede(r) Schweizer(in) kann die Amtssprache seiner/ihrer Wahl sprechen – auch im Amtsverkehr.

Die demographische Verteilung der Sprachen in Kalifornien und in der Schweiz zeigt spannende Ähnlichkeiten. In Kalifornien spricht die grösste Sprachgruppe mit knapp über 60 Prozent Englisch, in der Schweiz bewegt sich die deutschsprachige Bevölkerung in ähnlicher Grössenordnung mit rund 64 Prozent. Die grösste Minderheitensprache in Kalifornien ist Spanisch mit knapp 26 Prozent, und in der Schweiz sprechen etwas über 20 Prozent Französisch. Auch der Vergleich der kleineren Minderheiten zeigt Parallelen: zwischen Chinesisch und Italienisch sowie zwischen Tagalog und Rätoromanisch.

Auch wenn heute Kalifornien und die Schweiz über ein ähnliches Instrumentarium an Volksrechten verfügen, so nähren sich diese Institutionen doch aus einer unterschiedlichen Mischung historischer Wurzeln, die anderseits auch wechselseitige Einflüsse zwischen der „Neuen Welt“ und dem Herzen Europas keineswegs ausschlossen. Gerade ein Vergleich dieser unterschiedlichen Wurzeln zeigt auch jene frappanten Ähnlichkeiten auf, welche Kalifornien und die Schweiz für Erfahrungsaustausch empfänglich machten:

In den Vereinigten Staaten gründeten die protestantischen angelsächsischen Auswanderer schon aus Gründen nackten Überlebens kleine überblickbare und befestigte Siedlergemeinschaften, welche alle Voraussetzungen direktdemokratischer Selbstverwaltung erfüllten: lagen sie örtlich konzentriert, so konnten Entscheide an Gemeindeversammlungen (Town meetings), andernfalls durch schriftliche Absprachen gefällt werden. Das Fehlen einer Krone brachte es für die Auswanderer und ihre Nachkommen mit sich, dass sie alles Wesentliche selbst und demokratisch entscheiden mussten. Und im Jahrhundert der grossen Besiedlung Westamerikas hatten die Squatter viele Entscheide zu treffen.

Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Kalifornien die Eisenbahngesellschaft „Southern Pacific Railroad“ die staatliche Politik ebenso wie die Justiz völlig zu dominieren begann, entstand eine Koalition mittelständischer Verleger, Geschäftsleute und Freimaurer, welche unter der Bezeichnung „Progressivisten“ zu opponieren begann. Der Arzt und Physiker John Randolph Haynes (1853–1937), Gatte der Frauenstimmrechtsverfechterin („Suffragette“) Dora Haynes gründete die „Direct Legislation League“ und beeinflusste damit die Gemeindeverfassungen von San Francisco (1899) und Los Angeles (1903). Zuvor hatte er die Schweiz – Small was beautiful – besucht, um die Funktionsweise der direkten Demokratie in meinem Heimatland zu studieren. Kaum war die neue Gemeindeverfassung von Los Angeles in Kraft, organisierte „Recall John“ – so sein Übername im Volksmund – 1904 erstmals erfolgreich die Abberufung eines gewählten Amtsträgers.

Sechs Jahre später wurde der Republikaner Hiram Warren Johnson zum Gouverneur Kaliforniens gewählt, der sich ganz dem Kampf gegen die Korruption verschrieb und für kurze Zeit eine „progressivistische“ Parlamentsmehrheit zur Seite gestellt bekam. So führte Kalifornien in dem kleinen Zeitfenster von 1911 die direktdemokratischen Rechte von Referendum, Volksinitiative und Recall ein und bekam dafür am 10. Oktober 1911 eine überwältigende Zustimmung des Volkes.

Von diesen Vorgängen berichtete der Schweizer Politologieprofessor in den USA und spätere Nationalrat William Rappard 1912 in einem Aufsehen erregenden Aufsatz: „The Initiative, Referendum and Recall in Switzerland“; darin stellte er u.a. Zeugnisse mehrerer amerikanischer Vorkämpfer der Volksrechte zusammen, die ausnahmslos dem Hinweis von B. J. Hendrick aus Oregon entsprechen: „It is fair to say that there would be no modern revival of the initiative and referendum had it not been for the Swiss example.“

Wie also war die Geschichte in der Schweiz gelaufen? Hier waren doch keine Squatter zur Besiedelung ausgeschwärmt. Die Schweiz hatte direkte Demokratie während einiger Jahrhunderte einüben können. An einigen Orten waren die Verhältnisse überblickbar, als sich – etwa in Glarus – im 14. Jahrhundert lokale Bauernlandsgemeinden bildeten, die anstehende Sachfragen im direkten Gespräch und anschliessendem „Mindern und Mehren“ entschieden. Small was beautiful.

Aber nicht überall. Es gab auch unübersichtliche Verhältnisse, buchstäblich. Nötig wurde die direkte Demokratie in der Schweiz, als im 14. Jahrhundert der niedere Adel verarmte und die Bauern einiger Bergdörfer dies erkannten: Geistesgegenwärtig boten die Bauern ihren Vögten an, die Steuern in einem Jahr für zehn Jahre zu bezahlen, wenn ihnen dafür anschliessend die Steuerpflicht völlig erlassen werde. Den Vögten stand das Wasser zum Hals – sie akzeptierten. Die Bauern kratzten alles zusammen und zahlten. Und danach waren sie frei. Nun mussten sie ihre eigenen Angelegenheiten selber in die Hand nehmen. Die Berge, welche sie vor bewaffneter Rückeroberung schützten, standen ihnen aber auch im Wege. Wie nun eine demokratische Entscheidfindung für eine Verbindungsstrasse zwischen zwei Dörfern organisieren, die – Luftlinie 2 km auseinander liegend, durch Gebirge doch so getrennt waren, dass die Reiseverbindung mehrere Tage Fussmarsch in Anspruch nahm? In meinem eigenen Kanton, Graubünden, ersannen die Bauern einen ähnlichen Mechanismus wie 300 Jahre später die amerikanischen Verfassungsväter für die Präsidentenwahl: Dorfälteste und ‑schreiber handelten Absprachen aus, die anschliessend von den Vertretern der verschiedenen Dörfer in den Ruck-Sack gepackt („hinter sich genommen = ad referendum genommen“, von daher der Name) und nach Hause getragen, dort am folgenden Sonntag nach dem Gottesdienst von allen waffenfähigen Männern verlesen, debattiert und unverändert angenommen, unter Änderungen oder Bedingungen angenommen oder abgelehnt wurden, bevor die Dorfvertreter einander wieder alle trafen, alle ihre Dorfmehrheiten abglichen und das Dörfermehr protokollierten. Dieses föderative Bündner Gemeindereferendum war geprägt durch die Berge. Es funktionierte 400 Jahre lang.

1798 eroberten französische Truppen die Schweiz und befreiten die bis dahin zumeist untertänigen französischsprachigen Gebiete. Durch die französische Revolution gelangten auch Wertvorstellungen grosser amerikanischer Staatsdenker wie Thomas Jefferson und Thomas Paine in die Schweiz und fanden auf so Eingang auch in schweizerische Köpfe:
●   das Erfordernis einer geschriebenen Verfassung;
●   das Kollegialsystem für die Exekutive;
●   die Vorstellung eines Verfassungsreferendums;
●   die direkte Volkswahl von Legislative und Exekutive;
●   das Zweikammersystem und
●   die Erklärung der Grundrechte und der Rechtsgleichheit.

In der Regenerationszeit ab 1830 sollte dies dann Früchte tragen. Dass die Schweiz aus dem Bürgerkrieg (Sonderbundskrieg) 1848 einen Ausweg im Kompromiss des Bundesstaates und insbesondere des Zweikammerparlamentes fand, ist direkt dem amerikanischen Vorbild zu verdanken. Insofern geht die Stabilität der schweizerischen Verfassungsordnung ganz direkt auf amerikanische Hilfe zurück. Typisch schweizerisch, versüsste man der unterlegenen konservativen Minderheit den Kompromiss noch dadurch, dass man die Schweiz französisch und italienisch nicht einen Bundesstaat (Federation), sondern weiterhin Staatenbund (Confederation) nannte – bis heute. Der Trick funktioniert!

Im jungen Schweizer Bundesstaat hatten zunächst die Pioniere des Sieges aus dem Bürgerkrieg das Sagen – nicht anders als in Kalifornien – die Pioniere des Eisenbahnbaus, der Mobilität und des Wirtschaftsaufschwungs. Und derweil ein späterer Schweizer Militärminister (Emil Frey) als Offizier in republikanischen Diensten an der Schlacht bei Gettisburg teilnahm, bereitete mein Vorgänger in der Bundeskanzlei das erste obligatorische eidgenössische Verfassungsreferendum vor, und in den Kantonen entstand die demokratische Bewegung, welche alsbald die Pioniere der Gründergeneration – etwa Alfred Escher, Eisenbahnbaron und Gründer der Vorläuferin der Crédit suisse – von der Macht verdrängte und die Erweiterung der Volksrechte erstritt: Volksinitiative, Referendum und Abberufung der Behörden.

Als Kaliforniens Recall John ein Vierteljahrhundert später in der Schweiz das Funktionieren der direkten Demokratie studierte, analysierte er also in Wirklichkeit nichts anderes als die demokratische Weiterentwicklung des amerikanischen Pioniergedankens der Town meetings. Dass diese in der Schweiz Fuss zu fassen vermocht hatten, war darauf zurückzuführen, dass sie in meinem Heimatland seit Jahrhunderten in einer föderalistischen Vorform des Referendums existiert hatten.

Die Geschichte ist hier so wenig als für andere Institute gradlinig oder gar zielgerichtet verlaufen. Aber die Wechselwirkungen zwischen den riesigen USA und der kleinen Schweiz vermochten trotz unterschiedlicher Wurzeln jeweils in beiden Kontinenten Fortentwicklungen auszulösen, die sich heute wie ein Dialog lesen lassen.

Daraus sollte freilich auch nicht allzu viel abgeleitet werden. Wäre Kalifornien ein souveräner Staat, so würde es zu den 40 bevölkerungsreichsten und den 70 flächengrössten, wirtschaftlich zu den zehn stärksten souveränen Staaten der Erde gehören. Small is beautiful – mag sein; aber Kalifornien und die Schweiz sind allzu verschieden, als dass die Volksrechte in den beiden Staaten gleich ausgeprägt sein könnten. In Kalifornien haben sich die Volksrechte als Gegenrechte gegen beargwöhnte Behörden etabliert. Obwohl rechtlich möglich, hat sich die Vorprüfung von Volksinitiativen und die behördliche Beratung in Kalifornien nicht durchsetzen können, und auch Gegenentwürfe gehen niemals von Behörden aus, sondern in Form von Volksinitiativen gegnerischer Teile der Zivilgesellschaft. Die kalifornische Volksinitiative ist konfrontativ, nicht konsens- oder kompomissorientiert; sie wird nie zurückgezogen und verzeichnet in einem Drittel aller Fälle einen Vollerfolg. Widersprüchlichem Recht durch Annahme mehrerer einander widersprechender Volksinitiativen wird dadurch vorgebeugt, dass die höchste Anzahl Ja-Stimmen entscheidet. In der Schweiz hingegen hat sich als Folge des Referendums eine starke Konsenskultur mit oftmals institutionalisierter Kompromisssuche herausgebildet: Die Behörden erarbeiten zu den meisten Volksinitiativen direkte Gegenentwürfe auf Verfassungsstufe oder indirekte Gegenvorschläge auf Gesetzesstufe, die das oder ein Anliegen der Volksinitiative zumeist auf nachgeordneter Rechtsstufe aufnehmen und umsetzen: Zwischen Initiativkomitees und Behörden entfaltet sich hinter den Kulissen ein hartes, aber faires Bargaining.

So wurden in der Schweiz von den 58 bereits erledigten Volksinitiativen der letzten 15 Jahre nicht weniger als 36 mit einem indirekten Gegenvorschlag und weitere 5 mit einem direkten Gegenentwurf beantwortet; dementsprechend wurden schliesslich 11 Volksinitiativen zurückgezogen. Derweil in Kalifornien rund ein Drittel aller Initiativen vom Volk angenommen wird, ist es in der Schweiz nur ein knapper Zehntel. Die Kultur behördlichen Entgegenkommens nimmt Initiativen oftmals den Wind aus den Segeln; trotzdem sind auch die Initiativkomitees damit in aller Regel so zufrieden, dass sie ihr Begehren schliesslich zurückziehen. Das harte Bargaining zwischen Initianten und Behörden ist doch von einem gemeinsamen demokratischen Grundvertrauen geprägt.

Angelpunkt dieses Konzepts ist die erst kurz vor der Einführung der Volksrechte in Kalifornien entwickelte Möglichkeit eines Rückzugs der Volksinitiative in der Schweiz. Davon hatte Recall John nichts mehr mitbekommen. Nötige Folge dieser anderen Kultur sind in der Schweiz erheblich längere Behandlungsfristen für Volksinitiativen und die Pflicht der Bundeskanzlei, ohne Machtmittel, allein durch frühzeitiges Analysieren und Aufmerksammachen gegenüber den Politikern zu vermeiden, dass jemals zwei einander widersprechende Volksinitiativen oder andere Vorlagen gleichzeitig zur Volksabstimmung gelangen, damit nie ein innerer Widerspruch in der Rechtsordnung entstehen kann. Denn in der Schweiz beschlagen Volksinitiativen zwangsläufig immer die Verfassungsstufe.

Oft wird die Schweiz als Wiege der direkten Demokratie bezeichnet. Nichts ist falscher als dies. Die Schweiz ist nicht Mutter, sondern Tochter der direkten Demokratie.

Es trifft zu: Die Schweiz hat manche Verfassungsentwicklung im Ausland beeinflusst – in Kalifornien ebenso wie in Uruguay oder Australien. Am Ursprung standen regelmässig persönliche Beziehungen.

Im Falle der USA und Kaliforniens gilt ebenso das Umgekehrte: Auf die Schweizer Verfassungswirklichkeit des 19. Jahrhunderts haben amerikanische Staatsdenker und Erfahrungen entscheidend eingewirkt. Sie stehen am Ursprung jenes bundesstaatlichen Konzepts, welches der Schweiz die Umformung des föderalistischen Referendums in direktdemokratische Rechte unter Wahrung der Freiheit ermöglichte. Denn die Freiheit ruht im Föderalismus.So überrascht es kaum länger, dass die unterschiedliche Grösse der USA und Kaliforniens einerseits und der Schweiz anderseits dennoch zu vergleichbarer staatlicher Stabilität geführt haben.

Die US-Verfassung – älteste noch in Kraft stehende Verfassung eines souveränen Staates der Erde – wurde in 233 Jahren ganze 27 mal geändert. Weit über 10'000 Verfassungsänderungsversuche sind gescheitert. In der Schweiz haben wir seit 1848 eine Bundesverfassung; sie wurde 1874 und 1999 zweimal total revidiert, und in der Zwischenzeit erfuhr die Bundesverfassung um die 200 Teilrevisionen.

Es ist schon frappant: Die US-Verfassung drückt in ihrer Kürze und Prägnanz die Stabilität des Staatswesens aus. Die Schweizer Verfassung ist das Gegenteil: die labilste Verfassung der Welt; dauernd in Änderung begriffen, garantiert sie einen stabilen Staat, weil Reformdruck dauernd in homöopathischen Dosen abgebaut wird.

Will man die Verfassung gedruckt besitzen, so kauft man sich die US-Verfassung wie die Bibel in Leder gebunden; die schweizerische Bundesverfassung abonniert man am besten wie eine Zeitung, denn alle drei Monate riskiert sie, in einer Volksabstimmung geändert zu werden. All dies sind Schweizer Folgen der direkten Demokratie und des permanenten Bargainings zwischen beliebigen Initiantengruppen und den Behörden. Verloren haben wir längst die Kürze und Prägnanz der US-Verfassung – small is beautiful!

Flexibilität und Stabilität im Verfassungsgefüge