Es gilt das gesprochene Wort!

Die Berge und wir
Was den Brüdern Johann Rudolf und Hieronymus Meyer mit den Führern Joseph Bortis und Alois Volker am 3. August 1811 gelang, ist ein historisches Ereignis.

Das ist nicht zu hoch gegriffen; ich meine es auch nicht ausschliesslich auf den Alpinismus oder den Bergsport bezogen. Die Beziehung der Schweiz und der Schweizer zu den Bergen ist so alt und tief, dass die vier Männer einen Beitrag zu unserer Landesgeschichte geleistet haben.

Ich möchte zur Bedeutung der Berge für unser Land etwas ausholen:

Montesquieu, also der Staatsphilosoph der Gewaltentrennung, hat die Meinung vertreten, dass ein Staatswesen immer auch ein Abbild der klimatischen und geographischen Bedingungen sei. Demnach prägen die Berge die Schweiz mit all ihren Eigenheiten. Die These mag damals richtig gewesen sein, in einer weitgehend verstädterten Schweiz wirkt sie auf den ersten Blick vielleicht etwas überzogen.

Und trotzdem, die Berge sind ein politisches Thema; auch heute noch. Ich mag mich gut zurückerinnern, an die Jugendunruhen vor etwa 30 Jahren:

In den unruhigen 80er-Jahren provozierte die Jugendprotestbewegung mit dem Slogan: „Nieder mit den Alpen! Freie Sicht aufs Mittelmeer!"

Der Slogan war nicht nur Scherz, sondern auch politische Parole: Gezielt wurde auf die Berge als Identitätsmerkmale unseres Landes, als Symbole einer wehrhaften Schweiz.

Mit diesem Gegensatz zwischen Bergen und Mittelmeer hat es auch geschichtlich etwas auf sich: Die warmen Länder, „wo die Zitronen blühen", waren immer Gegenstand von Träumen, Sehnsüchten und Gedichten.

Früher lockten nicht nur, Sonne, Strand und dolce far niente, womit heute die südeuropäischen Länder jeden Sommer Millionen von Besuchern anziehen, sondern die besseren landwirtschaftlichen Möglichkeiten. Und damit die besseren Ernährungs- und Lebensgrundlagen.

Die Berge in der Geschichte
Die Urbevölkerung der Schweiz, die Helvetier, entschlossen sich darum tatsächlich zu einem radikalen Schritt: im Jahr 58 vor Christus wollten sie nach Südfrankreich auswandern. Ihre Dörfer hätten sie niedergebrannt und weit über 300‘000 Männer, Frauen und Kinder hätten sich auf den Weg nach wärmeren Gefilden gemacht, berichten römische Quellen. Julius Cäsar stoppte den Zug bei Bibracte und befahl die Rücksiedelung.

Durch die Jahrhunderte hindurch waren die Berge immer beides: Lebensversicherung wie auch Bedrohung.

Lebensversicherung, weil die Schweiz schon in ihren Anfängen wirtschaftlich von den Alpenpässen und dem Handelsverkehr zwischen Norden und Süden profitierte. Aber auch, weil die Schweiz schon in den ersten militärischen Konflikten das Gelände geschickt nutzte. Morgarten 1315 etwa war ein strategisch geniale Geländekrieg. Seither ist das Gelände ein wichtiger Teil der militärischen Landesverteidigung. 

Bedrohung waren die Berge durch ihre ungebändigte Natur, durch Hochwasser, Murgänge, Lawinen usw. Oft boten die Alpregionen den Bewohnern nur harte und karge Lebensgrundlagen. Es kam zu keinem zweiten Massenexodus, wie ihn die Helvetier versuchten, aber viele Bergler waren gezwungen, ihr Glück anderswo zu suchen, oft als Söldner in fremden Armeen.

Zudem galten die Berge als Hort von Geistern und Dämonen; die Berge waren etwas Unheimliches - da hatte der Mensch nichts zu suchen! So wird etwa berichtet, im 14. Jahrhundert seien sechs Geistliche eingesperrt worden, die versucht hatten, den Pilatus zu besteigen!

Diese Sicht änderte sich mit der Aufklärung. Man begann, die Berge mit andern Augen zu sehen, begann, ihre Schönheit zu erkennen.

Albrecht von Haller (1708 - 1777), ein Berner Mediziner und Botaniker, schrieb das Gedicht „Die Alpen". Man zählt es zur Weltliteratur, aber man könnte es auch als die wahrscheinlich welterfolgreichste Tourismuswerbung oder Imagekorrektur auszeichnen.

Die Alpen wurden als Naturwunder anerkannt, die Besucher und Wissenschaftler aus ganz Europa anzogen. Auch die Alpenbewohner wurden anders bewertet. Philosophen wie Rousseau lobten das einfache Leben, das sie dem Prunk und den Intrigen der Grossstädte und Fürstenhöfe gegenüberstellten.

Erkunder und Erforscher in unseren Bergen, wie die Gebrüder Meyer aus dem Aargau und Bortis und Volker aus dem Wallis, sind Kinder der damals neu erwachenden Natur-, Berg und Heimatbegeisterung. Mit ihren Leistungen haben sie auch ihrerseits diese Bewegung weitergetragen.

Im geschichtlichen Rückblick können wir feststellen, dass diese neue Berg-Begeisterung für unser Land damals wahrscheinlich überlebenswichtig war.

Unser Land um 1811
Militärisch: Denken wir zurück: 1811 - die Schweiz war damals in einer tiefen Krise. 1798 waren die Franzosen einmarschiert. Der Zürcher und der Berner Staatsschatz und die Bären aus dem Berner Bärengraben wurden nach Paris abgeführt. Die Franzosen brauchten am 11. und 12. März 1798 11 Wagen mit 44 Pferden, um den Berner Staatsschatz abzuführen. Napoleon finanzierte damit seinen Feldzug nach Ägypten.

Danach hatten sich Franzosen, Österreicher und Russen in der Schweiz Schlachten geliefert und dabei das Land zerstört. Die grossen Schlachten um Zürich sind etwas in Vergessenheit geraten, aber der militärische Alpinismus des russischen Generals Suworow ist historisch präsent: Am 24. September 1799 nahmen die Russen den Gotthard-Pass, von Norditalien her kommend. Der Marsch führte weiter nach Norden, wobei die Russen über den Kinzigpass ins Muotatal abgedrängt wurde. Über den Pragelpass und das Klöntal gelangten sie nach Glarus. Suworow versuchte danach vergeblich, an den Walensee vorzustossen. Er musste sich über Elm und den bereits verschneiten Panixerpass aus dem Glarnerland ins Bündnerland zurückziehen. Am 10. Oktober 1799 erreichte er Chur, von wo aus er über St. Luzisteig nach Österreich gelangte.

Dadurch geriet die Schweiz unter französische Kontrolle. Unsere Soldaten dienten nicht mehr der Schweiz, sondern Frankreich: Junge Schweizer wurden in Napoleons Armee gezwungen und überall in Europa in den Krieg geschickt. Unvergesslich bleiben die Opfer, die Schweizer 1812 auf dem Russlandfeldzug bringen mussten: Von den 10‘000 Schweizern kehrten noch 700 zurück, viele davon verkrüppelt oder krank.

Umgekehrt kämpften Schweiz als Söldner oder Freiwillige in österreichischen Diensten gegen Napoleon, so zum Beispiel in der Legion Bachmann. So kam es zur tragischen Situation, dass in den Napoleonischen Kriegen auch Schweizer gegen Schweizer antraten.

Politisch: Politisch wurde die Schweiz zum napoleonischen Satelliten und nach fremden, zentralistischen Ideen zwangsumgestaltet: Aus dem alten Staatenbund wurde ein Einheitsstaat. Das neue, aufgezwungene Staatsmodell der Helvetik entsprach der Schweiz nicht, es kam zu Krisen und Staatsstreichen. Während der Mediation  wurde der Zentralismus etwas abgeschwächt und das Land war stabiler, stand aber unter so starkem Einfluss Frankreichs, dass man von einem Marionettenstaat sprechen muss.

Allmählich wurde die Schweiz durch Frankreich zerstückelt: 1809 wurde ein Teil Graubündens unter direkte französische Verwaltung gestellt, 1810 wurden das Tessin und das Wallis von Frankreich annektiert.

Erst im Spätherbst 1813 (nach der Niederlage Napoleons bei Leipzig) begann sich die Schweiz, aus dem französischen Einfluss zu lösen und kehrte zurück zur Neutralität. 1815 erhielt sie die volle Souveränität vom Wiener Kongress bestätigt.

Wirtschaftlich: Die Krisenzeit seit dem Einmarsch der Franzosen ruinierte die Schweiz auch wirtschaftlich: Zuerst waren die Staatsschätze beschlagnahmet worden, dann musste das Land fremde Truppen in den Zehntausenden mit Nahrungsmitteln versorgen.

Die Schweiz war damals vor allem ein Agrarland, aber an einigen Orten hatte sich bereits eine wichtige, florierende Industrie (vor allem Textilien) etablieren können. Die Schweizer Wirtschaft wurde in das französische Wirtschaftssystem zwangsintegriert und politisch-militärischen Zielen untergeordnet. Napoleon wollte seinen Gegner England in die Knie zwingen, indem er eine Handelsblockade verhängte (Kontinentalsperre). Damit wurde der Handel mit England praktisch unterbunden, was die aufstrebende Schweizer Industrie hart traf.

Die Kontinentalsperre brachte 1810 das Einfuhrverbot für Baumwolle. Das brachte viele Handelsunternehmen in den Konkurs, zehntausende von Webern (insbesondere Heimarbeiter) verloren ihre Existenzgrundlage; viele wanderten aus.

Wissenschaftlich: Fortschritte machten in jener Zeit insbesondere die Natur- und Ingenieurwissenschaften. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der grossen Infrastrukturarbeiten und der Erschliessung des Alpenraums. Das leitete grosse Veränderungen ein, insbesondere auch durch den aufkommenden Fremdenverkehr.

1811 stehen wir am Anfang dieser neuen Epoche. Ein ganz grosses Vorhaben ist allerdings schon im Gang: Die Linthkorrektur. Die Bauarbeiten unter der Leitung von Hans Conrad Escher begannen 1807, ein erster Teil des Kanals bei Mollis wurde 1811 eröffnet. 1816 waren auch die Arbeiten am Kanal zwischen Walensee und Zürichsee beendet.

Insgesamt steigt das Interesse an der wissenschaftlichen Erklärung der Natur. Auch die Gebrüder Meyer verstehen ihre Erstbesteigung als Beitrag zur wissenschaftlichen Erforschung der Alpen, wie sie 1811 in ihrem Bericht „Reise auf den Jungfrau-Gletscher und Ersteigung seines Gipfels" schreiben.

Das ist kein Zufall, sondern entspricht den wissenschaftlichen Bestrebungen der Zeit. Nur elf Jahre später beschliesst die Tagsatzung ein epochales Werk: 1822 beginnt das Projekt der gesamtschweizerischen Landesvermessung (Dufour führt das Vorhaben ab 1832, es entstehen die weltweit berühmten, schraffierten Dufour-Karten).

Trotz allem: Pioniergeist. Es wäre eine Zeit zum Verzweifeln gewesen. Man hätte die Schweiz als politisch endgültig überholt, wirtschaftlich ruiniert und militärisch besiegt abschreiben können.

Aber das Gegenteil ist geschehen: überall begannen sich Leute in der Schweiz, für Geschichte und altes Schrifttum, für Bräuche und Traditionen zu interessieren, für die grossartige Landschaft, für unsere schönen Berge. Man kann von einer eigentlichen Neuentdeckung der Heimat sprechen.

So fällt beispielsweise das erste Unspunnenfest in diese Zeit (1805). Das gab Halt in der schwierigen Epoche, gab Stolz zurück trotz aller Demütigungen, gab Heimatliebe und Patriotismus.

1811, also das Jahr der Jungfrau-Erstbesteigung, ist auch das Geburtsjahr der alten Schweizer Nationalhymne: Johann Rudolf Wyss, ein Berner Gelehrter, der sich für Volkskunde interessierte, schrieb den Text zu „Rufst Du, mein Vaterland", der Nationalhymne bis 1961. Heimatliebe und Bergbegeisterung finden auch da zusammen und kommen in verschiedenen Strophen zum Ausdruck. Besonders schön werden Berge, Widerstandsfähigkeit und Wehrbereitschaft in der zweiten Strophe verglichen:

Da, wo der Alpenkreis
Nicht dich zu schützen weiss
Wall dir von Gott,
Stehn wir den Felsen gleich,
Nie vor Gefahren bleich,
Froh noch im Todesstreich,
Schmerz uns ein Spott.

Das gestärkte Heimatbewusstsein führte dazu, dass die Schweiz nach dem Wiener-Kongress wiederauferstehen konnte; eine Generation von Zweiflern, Verzweiflern und Heimatmüden hätte das nicht geschafft. Die alpinistischen Pionierleistungen sind auch in diesem Zusammenhang zu sehen.

Leute wie die Jungfrau-Pioniere legten das Fundament, dass unser Land nach den alpinistischen Pionierleistungen bald schon andere - in ihrem jeweiligen Gebieten auch bewundernswert kühne - Pionierleistungen vorweisen konnte: Eine Bundesverfassung für eine einmalig freiheitliche Staatsordnung. Und bald wirtschaftliche und wissenschaftliche Pionierleistungen, die die Schweiz weltberühmt machten.

Erstbesteigung Jungfrau