Sehr geehrter Herr Pfarrer Sigrist
Sehr geehrte Frau Regierungsrätin Aeppli
Sehr geehrte Frau Stadträtin Nielsen
Liebe Gemeinde

Sehr gerne habe ich die Einladung von Herrn Pfarrer Sigrist zum Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettags-Gottesdienst angenommen, herzlichen Dank!
Zu danken, Busse zu tun, zu beten: Daraus können wir alle Kraft schöpfen.
Gleichzeitig ist uns allen aber klar, dass Danken und Beten allein selten zu jenen Lösungen führt, die den Menschen das Leben erleichtern und ihnen Perspektiven eröffnen.
Wichtig ist innehalten, nachdenken, hinterfragen.

Genau so, wie dies Gottfried Keller als Staatsschreiber des Kantons Zürich 1862 tat.
In seinem Bettagsmandat, das von der Kantonsregierung abgelehnt wurde, wollte er sich selber, den Menschen in der Kirche und den Mächtigen im Staate die Frage stellen:

„Habe ich mich und mein Haus so geführt, dass ich im Stande bin, dem Ganzen zum Nutzen und zur bescheidenen Zier zu sein?"

Genau in die gleiche Richtung zielt der Kirchenrat des Kantons Zürich auch heute mit seiner Bettags-Botschaft der „souveränen Beschränkung".
Hinter dieser Botschaft steckt ebenfalls die Frage: Machen wir alles zum Nutzen des Ganzen, oder machen wir es - unbescheiden - eher zur eigenen Zier?
Eine berechtigte Frage, die auch den Staat beschäftigt.

Die gesellschaftlichen Veränderungen, Modernisierung und Individualisierung haben die stabilen Lebenswelten in Bewegung gebracht.
Individualisierung gibt den Menschen zwar ein hohes Mass an Selbstbestimmung in der Lebensführung und entspricht einer freiheitlichen Gemeinschaft.
Modernisierung wiederum hat uns unzählige technologische Entwicklungen gebracht - die Entwicklung hin zu einer Wissensgesellschaft verbunden mit Chancen und Wohlstand für viele.

Die Kehrseite der Medaille ist, dass durch den Individualismus wichtige Werte, Regeln und moralische Bindungen der Gesellschaft in den Hintergrund treten.
Das ICH ist oft wichtiger als das WIR.
Das immer mehr ist wichtiger als, ich habe genug.
Die „souveräne Beschränkung", wie es der Kirchenrat formuliert, oder die „bescheidene Zier", wie es Keller sagte, ist in der heutigen Gesellschaft unmodern, nicht erstrebenswert, kein Ziel.

Wir verhalten uns anders: Jede Sekunde wird in der Schweiz ein Quadratmeter Boden verbaut.
Wir beanspruchen für unser Leben rund 10 Quadratmeter mehr Wohnfläche als noch vor 15 Jahren.
Die Mobilität nimmt ständig zu - 50% davon ist Freizeit- und Tourismus-Verkehr.
Unser Energie- und Stromverbrauch steigt jedes Jahr an.
Wir haben uns zwar als Vision eine 2000-Watt und eine 1-Tonnen-Co2-Gesellschaft vorgenommen.
Tatsächlich leben wir aber so, wie wenn wir noch einen Planeten in Reserve hätten.
Wir leben nicht im Einklang mit den natürlichen Ressourcen.

Für den Staat ist es schwierig zum Verzicht anzuhalten.
Wo man staatliche Leistungen zurückfährt, spricht man schnell von Rentenklau, Sozialabbau, Verhinderung von Entwicklung, Zweiklassengesellschaft - und so fort.

Wir müssen uns andere Wege überlegen.
In der Energie- und Umweltpolitik hilft uns ein Stück weit die Technologie.
Maschinen neuster Technik verbrauchen weniger Strom.
Ein intelligentes System schaltet die Waschmaschine dann zu, wenn genug Strom im Netz verfügbar ist.
Neue Autos verbrauchen immer weniger Benzin und sind schadstoffärmer.

Dieser Weg des souveränen, technischen Verzichtes wird unterstützt, weil er unsere Lebensqualität, die Freiheit und die Bequemlichkeit nicht einschränkt.
Wenn aber der Staat reglementiert, dann schreitet er oft zur verordneten Beschränkung.

Das Königreich Bhutan hat einen anderen Ansatz gewählt.
Vor rund 20 Jahren legten sie fest, dass nicht Wirtschaftswachstum das wichtigste Entwicklungsziel des Landes sei, sondern das „Bruttonationalglück".
Gemeint ist, dass jeder Mensch so glücklich wie möglich sein Leben leben kann.
Ein spannender Ansatz: Wenn die Menschen in einem Land Lebensqualität, Beschäftigung, Friede und Stabilität finden, dann verbreitet sich in der Regel auch ein Glücksgefühl. 

Tatsächlich wird das Streben nach stetem Wachstum auch bei uns zunehmend hinterfragt.
Ein wirtschaftliches Wachstum benötigen wir, wenn der Staat seine Leistungen nur schon aufrecht erhalten will.
Aber wir können die Art dieses Wachstums beeinflussen.
Der Bundesrat spricht heute von nachhaltigem Wachstum.
Er bringt damit zu Ausdruck, dass neben einem rein wirtschaftlichen Mehrwert gleichzeitig auch für die Gesellschaft, die sozialen Komponenten und die Umwelt ein Mehrwert resultieren muss.
Der Dreiklang ist anzustreben und nicht ein Mehr des einen zu Lasten des anderen.

Ich meine, das ist uns bislang nicht schlecht geglückt.
Aber die Politik muss sich diesen Dreiklang stets erarbeiten und der Gesellschaft damit die Bedeutung bewusst machen.
Teilt die Gesellschaft diesen Grundkonsens der Nachhaltigkeit, so wird sich dies auch auf unser Handeln auswirken.
Wo Habgier hinführt, haben wir in der letzten Zeit genug erlebt:

Beim Zusammenbruch der Banken,
bei völlig unangemessenen Salären,
wenn Arbeitsplätze ohne Not geopfert werden,
wenn sich gigantische Schuldenberge auftürmen,
wenn Raubbau ganze Landstriche zerstört,
wo Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden,
wo Folter, Terror, Hoffnungslosigkeit herrscht.

Die souveräne Beschränkung, beziehungsweise die bescheidene Zier, erhält in diesem Kontext einen ganz anderen Stellenwert.
Ich meine, es ist urschweizerisch, ja geradezu ein Erfolgselement unseres Landes, dass wir erkennen: Nur nachhaltiges Handeln macht uns stark.
Mit ICH, ICH und MEHR, MEHR werden wir kaum glücklicher und erfolgreicher.

Ich meine, wir sind sogar von unserem Staatswesen, von der Verfassung her ein typisches Volk des Ausgleichs, der Normalität.

Wir basieren auf dem Ausgleich zwischen finanzstarken und -schwachen Kantonen.
Wir basieren auf der Generationensolidarität bei den Sozialwerken.
Wir bezahlen Steuern nach der Leistungsfähigkeit eines jeden.

Ausgleich, Gemeinschaft - das mag gewöhnlich sein, gewöhnlich klingen.
Aber wer gewöhnlich so handelt, ist erfolgreich.
Erfolgreich werden wir weiter gemeinsam die Wohlfahrt und die nachhaltige Entwicklung fördern.
Ein Bruttonationalglück haben wir - es gilt, dies zu sichern für die nächste Generation. 

Der Staat lebt davon, dass Bürgerinnen und Bürger von ihren Freiheiten einen guten, verantwortlichen Gebrauch machen und sich für die Demokratie, für die Gemeinschaft und für die anderen Menschen einsetzen.

Der Bettag ist ein guter Tag, um innezuhalten und nachzudenken, wie wir den Kitt in der Gesellschaft, das WIR weiter stärken können.
Weniger ist manchmal mehr.

Der Bettag ist auch ein guter Tag, um zu danken.

Zu danken für die grossen Leistungen der Generationen die vor uns waren.
Zu danken den Menschen, die sich täglich für unser Land einsetzen - oft freiwillig.
Zu danken dafür, dass unser Land von Gewalt, Katastrophen oder Krisen bisher verschont wurde.

Aber der Bettag ist nicht der einzige Tag im Jahr.
Seien wir immer dankbar.
Hinterfragen wir uns gemeinsam - immer dann, wenn es nötig ist, gemeinsam zu hinterfragen - zum Wohle dieser Gesellschaft.

Ich wünsche uns allen daher einen besinnlichen Tag im Sinn der souveränen Beschränkung.

Innehalten - zum Wohle der Gesellschaft