Sehr geehrter Herr Abt des Klosters Disentis
Sehr geehrter Herr Direktor der Schweizerischen Studienstiftung
Sehr geehrter Herr Präsident der Lia Rumantscha
Liebe Studienstiftlerinnen, liebe Studienstiftler
Geschätzte Anwesende

Ich freue mich sehr, heute hier in Mustér zu Ihnen sprechen zu dürfen, im Rahmen einer Veranstaltung der Schweizerischen Studienstiftung für junge Akademikerinnen und Akademiker. Auch von meiner Seite ein herzliches Willkommen in diesem wunderschön renovierten Peter-Kaiser-Saal. Es freut mich ausserordentlich, dass zwei Studentinnen der Schweizerischen Studienstiftung die Initiative für ein Seminar zum Thema Rätoromanisch ergriffen haben. Ich bin überzeugt, dass Ihnen diese drei Tage einen Einblick erlauben in eine faszinierende Sprach- und Kulturwelt, die gar nicht so klein und abgelegen ist, wie man meinen könnte.

Als ich Gymnasiastin war, waren Mädchen hier in der Klosterschule Disentis noch nicht zugelassen. Ich habe meine Matura deshalb an der Kantonsschule in Chur absolviert. Trotzdem war die Klosterschule in meiner Jugend präsent. In den 1960er- und den frühen 1970er-Jahren waren meine Brüder hier im Internat. Sie durften nur einmal pro Trimester nach Hause kommen. Dies fiel ihnen nicht leicht, zumal wir nur etwa 20Km von Mustér talabwärts wohnten, in Ruschein. So ergab es sich, dass ich mit meinen Eltern jahrelang im Herbst und Frühjahr Sonntag für Sonntag nach Mustér «pilgerte». Nach der Messe nahmen wir dann meinen Bruder Georges, später dann Christian in Empfang und entschwanden über den Lukmanier ins Tessin, wo wir in der Magadino-Ebene picknickten und später eine Bootsfahrt auf dem See machten. Nach einem Gelato traten wir dann wieder die Heimreise an und «deponierten» die Brüder im Kloster. Schon in meiner Jugend erlebte ich also zwischen der Kantonsschule im deutschsprachigen Chur, dem Zuhause in den romanischsprachigen Gemeinden Ruschein und Tarasp sowie den Sonntagsfahrten ins italienischsprachige Tessin die schweizerische Mehrsprachigkeit hautnah.

Im Folgenden möchte ich Ihnen einige Gedanken und Geschichten zum Rätoromanischen und zur mehrsprachigen Identität der Schweiz vortragen und einige Hintergründe dazu erörtern. Zuerst werde ich aus geschichtlicher Perspektive die Kultur- und Sprachsituation der Region beschreiben. Dann möchte ich auf einige politische und sprachliche Wechselbeziehungen zwischen Graubünden und der Eidgenossenschaft zu sprechen kommen. Und zum Schluss werde ich noch den aktuellen gesetzlichen Rahmen zur Mehrsprachigkeit und zur Verständigung in der Schweiz beleuchten.

1. Kultur- und Sprachkontakte in einem Durchgangs- und Auswanderungsgebiet

Sie hätten für die Auseinandersetzung mit dem Thema «Mehrsprachigkeit» wohl keinen geeigneteren Ort wählen können als Disentis, liegt es doch an einem Verkehrsknotenpunkt von überregionaler geostrategischer Bedeutung. Der Lukmanier verbindet die Surselva mit dem Bleniotal und dem Tessin - schon im Mittelalter eine rege benutzte Route für alpenüberquerende Kaiser, Händler und Pilger. Der Oberalppass verbindet die Surselva mit Andermatt und damit mit dem Gotthard- und dem Furkapass, also wieder mit dem Tessin, mit Uri, mit dem Wallis und über den Grimsel mit dem Kanton Bern.

Aber über diese Berge verlaufen nicht nur geografische und politische Grenzen, sondern auch sprachliche. Im Süden grenzen wir hier an italienisches, im Westen an deutschsprachiges Gebiet. Disentis gehört zum traditionellen rätoromanischen Gebiet, noch heute sprechen hier 86% der Bevölkerung Rätoromanisch. Während es allerdings früher hier noch eine grosse Anzahl einsprachiger Rätoromanen gab, sind diese heute quasi inexistent. Die Sprachgrenze verläuft also heutzutage quer durch die Gemeinde, oder, exakter, sie macht auch vor dem Individuum nicht Halt. Wir Rätoromanen sind heute - gezwungenermassen - alle mehrsprachig. Jeder Rätoromane wächst mit mindestens zwei Sprachen auf, mit Rätoromanisch und Deutsch. Die Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit sind also in dieser Gegend alltägliche Realität.

Verschiedene Denkmäler der Region zeugen davon, dass der Austausch zwischen Sprachen und Kulturen hierzulande kein Phänomen der Moderne ist, sondern eine lange Tradition hat. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die Kapelle Sontga Gada (Hl. Agatha), die bedeutendste der 14 Kirchen und Kapellen von Disentis. Wenn wir einige Schritte von hier Richtung Süden gehen, auf den Wiesen in Richtung Val Medel und Lukmanierpass, gelangen wir zu dieser mittelalterlichen Saalkirche. Sie ist mit einer Reihe von Fresken dekoriert, welche von den Malern Nicolao und Cristoforo da Seregno stammen. Diese beiden lombardischen Meister aus Seregno bei Milano hinterliessen in ihrer Schaffensperiode, in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, eine ganze Reihe von äusserst interessanten und gut erhaltenen spätgotischen Fresken.

Das Einzigartige daran ist, dass das grösste Gemälde - fast vier auf drei Meter - eine ziemlich getreue Kopie der Adorazione dei Magi von Gentile da Fabriano darstellt. Dieser bedeutende italienische Meister der Renaissance schuf dieses Bild 1423 in Florenz. Es befindet sich heute in der Galleria degli Uffizi in Florenz. Aber nicht genug damit, dass man die Variante eines solchen Meisterwerkes hier in Mustér wiederfindet: Die lombardischen Meister haben das Sujet mit einigen Variationen auch in der Kirche Sogn Sievi (Hl. Eusebius) in Breil/Brigels übernommen, wenige Kilometer talabwärts, auf dem Weg, der damals dem Waren- und Personentransit über den Kistenpass nach Glarus diente.[3]

Der kulturelle Austausch zwischen Graubünden und Italien, ja zwischen Graubünden und Europa, fand jedoch nicht nur in diese eine Richtung statt. Es wirkten nicht nur ausländische Kräfte in Graubünden, nein, die Bündner wirkten auch im Ausland. Ich möchte nur zwei bedeutende historische Auswanderungsbewegungen Graubündens in Erinnerung rufen, nämlich die Steinmetze der Bündner Südtäler und die Engadiner Cafetiers.

Bereits im 16. Jahrhundert begann die Auswanderung zahlreicher Misoxer nach ganz Europa, besonders nach Süddeutschland, Österreich und Polen, wo sie als Architekten, Stukkateure, Glasermeister, Steinmetze und Maler arbeiteten. Um 1650 befand sich ein bedeutender Teil der männlichen Talbevölkerung des Misox und des Calancatales im Ausland, unter ihnen Baumeister und Künstler von Rang und Namen. Diese wirkten teilweise entscheidend mit beim Bau und bei der Dekoration grosser Kathedralen und anderer Bauwerke, wie beispielsweise der Kathedralen von Breslau, Krakau und Genua, dem Regensburger Dom, dem Kurfürstlichen Schloss in Koblenz und dem Kloster Ettal in Oberbayern.

Aus ganz Graubünden, jedoch ganz besonders aus dem Engadin, stammten Zuckerbäcker und Cafetiers, die in ganz Europa mondäne Salons, Confiserien, Konditoreien und Kaffeehäuser gründeten und erfolgreich führten. Noch heute können Sie einkehren bei Caviezel in Catania, bei Gilli in Florenz, bei Klainguti in Genua oder bei Sandri in Perugia. Im Engadin nannte man die Auswanderer, die jeweils die Sommermonate in der Bergheimat zu verbringen pflegten, «Randulins», Schwalben. Die Erfolgreichen unter den Auswanderern setzten sich als Rückkehrer in ihrer Heimat oft grosszügig für das Gemeinwesen ein und prägten so die Gesellschaft und Kultur, aber auch das Antlitz ihrer Dörfer. So fand vom 17. bis 19. Jahrhundert in diesen scheinbar abgelegenen Tälern der Alpen, die eben zu den wichtigsten Europäischen Transitrouten gehörten, ein doch ganz bedeutender Kulturtransfer statt.

Auch die Anwesenheit dieses Klosters an einem Verkehrsknoten ist kein Zufall. Bereits im 7. Jahrhundert gegründet, wurde es als Verwalterin und Hüterin der Passstrassen seit dem Mittelalter bisweilen zum Spielball der europäischen Grossmächte. Die Klöster waren von grosser geostrategischer Bedeutung: Sie finden nicht zufällig sozusagen am Eingang und am Ausgang des Kantons zwei Ortsnamen, die auf ein Kloster hinweisen, lateinisch «monasterium»: Mustér hier in der Surselva und Müstair im Münstertal, an der schweizerisch-italienischen Grenze. Das Kloster war aber auch wegen seiner religiösen und kulturellen Ausstrahlung bedeutsam für die Geschichte und die Entwicklung des Tales, des Kantons und der Region. Verschiedene mit dem hiesigen Kloster in Verbindung stehende Personen gaben beispielsweise wichtige Impulse für die Erforschung des Rätoromanischen und für die rätoromanische Sprachbewegung ganz allgemein. Ich möchte Ihnen kurz die Impulse dreier Männer vorstellen: eines Konventualen, eines Rektors und eines Schülers der Klosterschule.

Pader Placidus a Spescha, der Konventuale (1752-1833)
Julius Baptist Spescha von Trun trat 1774 ins das Benediktinerkloster Disentis ein und studierte dann in Einsiedeln Philosophie und Theologie. Als Alpenforscher, Naturforscher und Sprachforscher wurde er zu einem wichtigen Vertreter der Aufklärung in Graubünden und in der Schweiz.

Zürcher Reisende beschrieben um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Surselva als «verfluchtes Land», als «wilde, unfruchtbare und einöde Gegend», mit Einwohnern, denen «wenig Menschlichkeit, wohl aber Wildheit und Brutalität» im Gesicht geschrieben stehen. Dagegen entwarf Pater Placidus a Spescha ein positives Bild der Alpen und ihrer Bewohner, die zwar «wild und unbeugsam wie die Alpen» seien, aber rechtschaffen, einfach, arbeitsam und vor allem frei, «frei wie ihr Wildpret in den Alpen».

Pader Placidus a Spescha war auch einer der ersten, der die Mehrsprachigkeit der Alpenbewohner lobte und sich für ein stärkeres rätoromanisches Sprach- und Selbstbewusstsein einsetzte. Wir lesen in seinem Werk Die Beschreibung der Alpen, vorzüglich der höchsten von 1823: «Eben so verschieden ist die Sprache der Alpiner wie ihre Religionsmeinung. [...] Es wird in den Alpen deutsch, italiänisch, französisch und romanisch, welche letztere eigentlich die alpinische Sprache kann genennt werden, in zerschiedenen Mundarten gesprochen. [...] Man kann sagen: die romanische sey aus der thuscischen [etruskischen] entsprungen und in den Alpen die älteste, aber an Wörtern, ausgenommen an denen, welche die Alpen betreffen, die ärmste. Sie war vor Alters in ganz Rhätien die herrschende; nun aber ist sie bis in die wildesten Thäler der Alpen verdrängt worden.»

Peter Kaiser, der Rektor (1793-1864)
Nach Peter Kaiser, dem Liechtensteinischen Historiker, Pädagogen und Philologen, wurde dieser schöne Saal benannt. Er amtete hier zwischen 1837 und 1842 als Rektor der damaligen katholischen Bündner Kantonsschule. Neben seiner Beschäftigung mit der Geschichte Graubündens, interessierte er sich auch für die Sprachen des Kantons, besonders für das Rätoromanische. Bereits 1838 plädierte er für die Gründung einer «Gesellschaft zur Erforschung der rätoromanischen Sprache». Diese progressive Forderung wurde erst 30 Jahre später mit der Gründung der Societad Retorumantscha von 1868 erfüllt.

Caspar Decurtins, ehemaliger Klosterschüler (1855-1916)
Caspar Decurtins verbrachte einige Schuljahre hier in der Klosterschule. Er wurde durch seine 20-jährige Tätigkeit als katholisch-konservativer Nationalrat, als Mitgründer der Universität Fribourg und als Geschichtsprofessor schweizweit bekannt. In Graubünden setzte er sich für die Volksrechte und die Gemeindeautonomie ein, sowie für das Rätoromanische. Seine Rätoromanische Chrestomathie, eine 13-Bändige Sammlung rätoromanischer Texte und mündlicher Literatur aus 4 Jahrhunderten und 7 Talschaften gilt bis heute als eine Grundlage der rätoromanischen Sprachbewegung. Später nannte man ihn: «Der Löwe von Truns».

Mit diesen Erläuterungen wollte ich Ihnen vor Augen führen, dass die Durchreise, Auswanderung und Einwanderung im Transitland Graubünden Spuren hinterlassen hat. Das heutige Graubünden ist seit über 1000 Jahre ein mehrsprachiges Gebiet, mit dessen Sprachgeschichte und sprachlicher Identität sich Gelehrte seit der Aufklärung befasst haben.

2. Graubünden und die Schweiz: Bündner Mehrsprachigkeit und Föderalismus als Vorbild

Die Mehrsprachigkeit und der damit zusammenhängende Föderalismus Graubündens waren ein Vorbild für die politische Struktur, die Sprachenpolitik und die mehrsprachige Identität der Eidgenossenschaft. Der Föderalismus ist - wie die Mehrsprachigkeit - ein wesentliches Merkmal der heutigen Schweiz. Die Geburtsstätte des Föderalismus sind jedoch nicht unsere Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden, sondern die Kantone Graubünden und Wallis, Staatengebilde also, welche nicht ganz zufällig lange vor der Eidgenossenschaft mehrsprachig waren.

Es wurde und wird immer wieder gesagt, Graubünden sei eine Schweiz im Kleinen. Dies ist natürlich eine vereinfachende Aussage, die jedoch in gewissen Aspekten einen wahren Kern hat. Schon lange vor der Gründung des schweizerischen Bundesstaates 1848, war Graubünden als Republik der Drei Bünde ein föderalistischer Staat. Seit 1524 besassen die drei Bünde - der Graue, der Gotteshaus- und der Zehngerichtebund, deren Wappen wir im Bündner Kantonswappen wiederfinden - eine gemeinsame Verfassung. Die Republik der Drei Bünde hatte ausgeprägte föderalistische Strukturen. Alle Entscheide der Tagsatzung mussten von der Mehrheit der Gemeinden bestätigt werden - was eine Vorform unseres heutigen Ständemehrs darstellt - und diese hatten auch Initiativ- und Referendumsrechte. Die Republik der Drei Bünde war ein sogenannter Zugewandter Ort der Alten Eidgenossenschaft, ihre Beziehungen regelte ein System von Absprachen, heute würden wir sagen «bilaterale Verträge». Die Eidgenössische Tagsatzung interessierte sich für das politische System der Republik der Drei Bünde, deren föderalistische Struktur für den wachsenden Staatenbund der Alten Eidgenossenschaft in manchen Fragen Vorbildcharakter entwickelte. Die grosse Autonomie der Bündner Gemeinden, welche in diesem mehrsprachigen und später auch mehrkonfessionellen Staatsgebilde ein funktionierendes Zusammenleben ermöglichte, stand also bei der Verankerung der heute vieldiskutierten Kantonsautonomie Pate. Vereinfachend kann man sagen, dass dieses Urprinzip der Schweiz in erster Linie ein Walliser- und Bündnerurprinzip ist, das einen nicht unerheblichen Zusammenhang mit der Mehrsprachigkeit dieser Kantone hat.

Die Eidgenossenschaft war lange Zeit kein mehrsprachiges Staatsgebilde, sondern ein ausschliesslich deutschsprachiges. Zwar wurde mit der Stadt und Republik Freiburg bereits 1481 ein zweisprachiger Ort in das eidgenössische Bündnis aufgenommen. Weil das zweisprachige Freiburg den Verkehr mit den Eidgenossen jedoch seit jeher ausschliesslich deutsch abwickelte, wurde die Sprache dabei nicht zum Thema. Andere französischsprachige Gebiete, wie die Waadt und das Unterwallis, aber auch das italienischsprachige Tessin waren bis Ende des 18. Jahrhunderts Untertanengebiete. Erst mit der Französischen Revolution änderte die Einstellung zum Französischen, und mit der Mediationsakte von 1803 wurde die Schweiz zum ersten Mal offiziell mehrsprachig. In der Bundesverfassung von 1848 wurden auf Antrag der Kantone Waadt und Tessin «die drei Hauptsprachen» Deutsch, Französisch und Italienisch als «Nationalsprachen des Bundes» verankert. Zwei Jahre später führte man als Reverenz an die französische Schweiz als eidgenössische Währung nicht etwa die in der Deutschschweiz gebräuchlichen Taler oder Gulden ein, sondern den im Welschland längst eingebürgerten Franken. Diese französisch geprägte Währung hatte nebenbei den Vorteil der Dezimalklassifikation, war also einfach zu rechnen und damit handelsfördernd. Die Leitidee einer mehrsprachigen Schweiz, basierend auf einer Partnerschaft zwischen Sprachmehrheit und Sprachminderheiten nach dem Prinzip der Gleichwertigkeit, bildete sich also erst im 19. und 20. Jahrhundert heraus.

Aber auch nach der Verankerung der institutionellen Mehrsprachigkeit in der Bundesverfassung von 1848 wurden die Gesetze, Verordnungen und Erlasse einzig ins Französische übersetzt, und auch dies nicht systematisch. Dies besserte sich erst ab 1896 mit der Einsetzung eines französischsprachigen Vizekanzlers [Georges Wangière, 1862-1948], der die systematische Übersetzung ins Französische zu überwachen hatte. Ein italienisches Bundesblatt erschien erstmals am Ende des Ersten Weltkrieges. Dieses blieb jedoch auch dann noch lange ein mageres Blättchen.

Die eigentliche ideologische und breitenwirksame Festlegung der Mehrsprachigkeit als identitäres Merkmal der Schweizerischen Eidgenossenschaft, erfolgte in der Zwischenkriegszeit, im Zuge der sogenannten Geistigen Landesverteidigung. Und das Rätoromanische spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden in Graubünden erste Stimmen laut, welche die verfassungsrechtliche Anerkennung des Rätoromanischen als Landessprache forderten. Anfang der 1930er-Jahre erhielt dieses Begehren politisches Gewicht, sodass sich die Bündner Regierung mit einer Eingabe an den Bundesrat wandte, welche die Anerkennung des Rätoromanischen als Landessprache verlangte. Die Zwischenkriegszeit war geprägt von aggressiven nationalistischen Diskursen im Norden und im Süden der Schweiz. Italienische Nationalisten behaupteten damals beispielweise, das Rätoromanische sei keine eigenständige Sprache, sondern ein italienischer Dialekt, und die rätoromanischen Täler seien demzufolge italienisches Kultur- und Staatsgebiet. Der schweizerische Konsens über die Sprachenfreiheit und über das Selbstbestimmungsrecht der Kleinen führte in dieser Zeit zum innenpolitischen Schulterschluss. Die Selbstbehauptung der «kleinen Rätoromanen» wurde zum Symbol für die Selbstbehauptung der kleinen Schweiz. Der katholisch-konservative Bundesrat Philipp Etter, der als Vater der Geistigen Landesverteidigung gilt, unterstützte die Forderung der Rätoromanen von Anfang an. Er war dankbar für dieses «patriotische Postulat» in einer Zeit vieler wirtschaftlicher und sozialer Sorgen.

Hören Sie, wie er im Parlament für diese Vorlage plädierte: «Wir danken unseren rätoromanischen Freunden von Herzen dafür, dass sie uns durch ihre Forderung die Gelegenheit schenken, unser Volk aus materieller Sorge und wirtschaftlichen Kämpfen aufzureissen zur Besinnung auf geistige Werte und zu einer geistigen Tat! [...] Ein Bergvolk von nur 40'000 Seelen, das dermassen an seiner hergekommenen und angestammten Sprache hängt, das mit solcher Hingabe seine Sprache zu verteidigen weiss, das muss ein moralisch, ein geistig und seelisch starkes Volk sein.»

In diesem Geist des gesteigerten Patriotismus und der freundeidgenössischen Solidarität konnte man die Massen mobilisieren. Am 20. Februar 1938 wurde das Rätoromanische als Landessprache anerkannt, mit einem überwältigenden Ja von 92%. Dieses historische Resultat wurde in der Geschichte der Eidgenossenschaft nur zwei Mal übertroffen.

Wir können also festhalten, dass sich der Föderalismus nach unserem schweizerischen Verständnis in zwei mehrsprachigen Staatsgebilden herausgebildet hat, im zweisprachigen Wallis und im dreisprachigen Graubünden. Diese hatten eine Vorbildfunktion für die Eidgenossenschaft. Der sprachliche Föderalismus erhielt in den Bundesverfassungen von 1848 und von 1874 eine verfassungsrechtliche Verankerung, die staatliche Mehrsprachigkeit entwickelt sich jedoch langsam. In der Zwischenkriegszeit hat dann die Propaganda um die Anerkennung des Rätoromanischen als vierte Landessprache das mehrsprachige Selbstverständnis der Schweiz gestärkt.

3. Mehrsprachigkeit in der heutigen nationalen und internationalen Gesetzgebung

Nach diesem kurzen Einblick in die historische Dimension der schweizerischen Mehrsprachigkeit wollen wir nun noch die aktuelle Gesetzgebung zur Mehrsprachigkeit und kulturellen Vielfalt betrachten. Allerdings kann hier auch die Aktualität nur stichpunktartig behandelt werden.

Die Mehrsprachigkeit und die kulturelle Vielfalt sind in den letzten Jahrzehnten ein internationales politisches Thema geworden. Und auch in der Schweiz haben die gesellschaftliche und die institutionelle Mehrsprachigkeit im Rahmen der Erarbeitung eines Sprachengesetzes und einer Sprachenverordnung die Legislative und Exekutive während einiger Jahre intensiv beschäftigt.

Der internationale Kontext
Im Rahmen der UNO begannen während der 1960er-Jahre Diskussionen über einen allgemeinen Minderheitenschutz, welche am 19. Dezember 1966 zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte führten. Dieser garantiert den Angehörigen von ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten die freie Pflege und Ausübung ihrer Kultur, Religion und Sprache. Ein Menschenrechtsausschuss wurde für die Überwachung der staatlichen Verpflichtungen eingesetzt. In der Schweiz ist dieser Pakt im Jahre 1992 in Kraft getreten.

In Europa begann sich in den 1970er-Jahren die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit mit der Minderheitenproblematik zu befassen. Nach dem Fall der Berliner Mauer und in Folge der Minderheitenkonflikte in Osteuropa sowie diverser nationalistischer Strömungen in Europa befasste sich ab den 1990er-Jahren auch der Europarat mit dem völkerrechtlichen Schutz von Minderheiten.

Im Jahre 1992 verabschiedete der Europarat eine Konvention, deren Erarbeitung insgesamt elf Jahre gedauert hatte. Das Hauptwerk dieser Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ist die Erhaltung und Förderung der sprachlichen Vielfalt als eines der wertvollsten Elemente des europäischen Kulturlebens. Das Ziel der Charta ist die Verbesserung der Möglichkeiten, Regional- oder Minderheitensprachen in Bildung, Rechtsprechung, Verwaltung, Medien, Kultur und Wirtschaft zu benützen. Die Schweiz hat mit Bundesbeschluss vom 23. September 1997 der Ratifikation der europäischen Sprachencharta zugestimmt. Der Bund hat das Rätoromanische und das Italienische als Regional- oder Minderheitensprachen im Sinne der Charta definiert und den Förderungsbestimmungen unterstellt.

Im Jahre 1995 wurde in Strassburg das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten unterzeichnet. Dieses ist in der Schweiz seit 1999 in Kraft, der dritte ausführliche Bericht der Schweiz zur Umsetzung dieses Rahmenübereinkommens steht für nächsten Januar an. Das EDA als federführendes Departement arbeitet zur Umsetzung dieses Übereinkommens eng mit anderen Departementen, mit den Kantonen und mit betroffenen Organisationen zusammen.

Am 18. März 2007 schliesslich, trat die UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen in Kraft, welche eine völkerrechtlich verbindliche Grundlage schafft, für das Recht aller Staaten auf eigenständige Kulturpolitik. Diese Konvention gilt als Meilenstein im Bestreben, die Durchsetzung einer «globalisierten Monokultur» zu verhindern. Die sprachliche und kulturelle Vielfalt werden darin als grundlegendes Gut und Identitätsmerkmal definiert, die Erhaltung dieser Vielfalt als Grundlage demokratischer Staatsbürgerschaft und rechtsstaatlicher Minderheitenpolitik. Angesichts dieser Zielsetzung versteht es sich von selbst, dass die Schweiz bei der Ausarbeitung dieser Konvention, zusammen mit Frankreich und Kanada, eine tragende Rolle übernommen hat. Nach der massiven Zustimmung des Ständerates im März 2008 hat die Schweiz am 16. Juli 2008 die Konvention ratifiziert.

Der nationale Kontext
Wie wir gesehen haben, gehört die Mehrsprachigkeit, also die Gegenwart mehrerer Sprachen innerhalb einer Gesellschaftsgruppe oder eines Staates, zum Selbstverständnis nicht nur der schweizerischen Öffentlichkeit, sondern ganz besonders auch der eidgenössischen Institutionen. Die grossen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen der letzten beiden Jahrzehnte haben auch die hiesige Diskussion über die Landessprachen in einen ganz neuen Kontext gestellt - denken wir beispielsweise an die Bilateralen Verträge und den freien Personenverkehr, an die unglaubliche Entwicklung der Kommunikation und des Internets sowie an die unerreichte Attraktivität des Englischen im Zuge der Globalisierung mit gleichzeitigen Bestrebungen zur Stärkung der Mundart. Vor diesem Hintergrund fanden die Überlegungen zur Rolle der Landessprachen und zur nationalen Identität statt.

Die Ausarbeitung des Bundesgesetztes über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften wäre ein spannendes Thema für einen ganzen Vortrag. Der lange Prozess zur Erarbeitung des Sprachengesetzes war emblematisch für das politische Funktionieren der Schweiz mit der Komplexität des föderalistischen Systems und den subtilen Ausgleichsmechanismen, die dabei im Spiel sind, besonders bei sprachlichen und identitären Fragen.

Zur Ausarbeitung dieses Gesetzes nur soviel: Die Initiative dafür geht auf eine Motion des Bündner Nationalrates Martin Bundi von 1985 zurück [85.516], der sich um die Zukunft des Rätoromanischen sorgte. Der Anstoss für eine erneute intensive Beschäftigung mit den Landessprachen kam also erneut aus Romanischbünden. Es folgten die Debatten und die Abstimmung über den neuen Sprachenartikel 116 der Bundesverfassung [116a, 10. März 1996], welche mit grossem Volksmehr angenommen wurde. Dieser neue Sprachenartikel wurde dann in die neue Bundesverfassung vom 18. April 1999 aufgenommen und ausgebaut [Art. 70]. So wurde die Bundesunterstützung der mehrsprachigen Kantone in der Verfassung verankert. In der Zwischenzeit hatten sich die Probleme der Verständigung zwischen Sprachgemeinschaften in der Schweiz akzentuiert, nicht zuletzt aufgrund einiger deutlicher Differenzen im Abstimmungsverhalten bei eidgenössischen Volksabstimmungen. Die Abstimmung über den EWR-Beitritt im Jahre 1992 ist dabei zweifellos die bekannteste. Das hat die Dringlichkeit eines Bundesgesetzes über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften vor Augen geführt.Nach einer langen Ausarbeitungsphase, unter Beteiligung der Kantone, verabschiedete das Parlament am 5. Oktober 2007 das Sprachengesetz.

Das Sprachengesetz und die analog strukturierte Verordnung des Bundesrates, die seit dem 1. Juli 2010 in Kraft ist, enthalten die Prinzipien, welche die Sprachenpolitik des Bundes sowie die institutionelle Mehrsprachigkeit der Bundesbehörden in Zukunft prägen sollen. Es handelt sich insbesondere um drei Bereiche: Das gegenseitige Verständnis und der Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften der Schweiz soll gefördert werden. Die mehrsprachigen Kantone sollen unterstütz werden. Und die Rolle der Landessprachen in den Bundesbehörden und ihre Gleichwertigkeit sollen geregelt werden.

Die entschiedene und kohärente Stärkung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt steht im Zentrum der Bestrebungen dieses Gesetzes, unter anderem auch in Bezug auf die Erhaltung und Förderung des Rätoromanischen und des Italienischen in den Kantonen Graubünden und Tessin. Diese Kantone werden zu diesem Zweck mit namhaften Beträgen unterstützt, der Kanton Graubünden mit 4,6 Millionen Franken jährlich.

Die Verordnung zum Sprachengesetz setzt auch verschiedene Massnahmen fest zur Förderung der individuellen und sozialen Mehrsprachigkeit. Es wird davon ausgegangen, dass Kultur das Resultat konstanter individueller und kollektiver Entscheidungen ist und sich im Zusammenleben sowie im Austausch unter Individuen herausbildet. Als Beitrag zum Verständnis zwischen den Sprachgemeinschaften wird deshalb der Austausch im Rahmen der Volksschule ausgebaut, sowohl für die Schülerschaft wie auch für Lehrpersonen. Zudem soll der Unterricht in den Landessprachen weiter gefördert werden.

In Bezug auf die institutionelle Mehrsprachigkeit der Bundesverwaltung bestätigen das Sprachengesetz und die Verordnung die Vorreiterrolle der Bundesverwaltung und besonders der Bundeskanzlei in der Umsetzung einer mehrsprachigen Gesetzgebung. Jedoch verpflichten sie die Bundesverwaltung auch zu einer adäquaten Berücksichtigung der nationalen Sprachen und Kulturen. Dies reflektiert einerseits die mehrsprachige Realität des Landes und garantiert andererseits das Funktionieren einer mehrsprachigen und interkulturellen Verwaltung. Deshalb verlangt die Sprachenverordnung auch ganz konkrete, in Prozenten angegebene Zielvorgaben für die Vertretung der Sprachgemeinschaften in der Bundesverwaltung.

Der Bundesrat sprach bei der Vorstellung der Verordnung von einem «grossen nationalen Projekt», denn es soll mittelfristig erlauben, den Reichtum kultureller Vielfalt sowie den grossen Wert mehrsprachiger Kompetenzen besser auszuschöpfen. Der Bund hat sich damit für die Vielfalt und für die sprachlichen Minderheiten entschieden und ist bestrebt, diese Vorgabe auch als Institution vorbildhaft umzusetzen.

Die sprachliche und kulturelle Vielfalt ist ein Reichtum Europas und insbesondere der Schweiz; ein Merkmal unseres Landes, das sich - wie wir gesehen haben - historisch entwickelte und unser politisches System massgeblich geprägt hat. Der Schutz und die Berücksichtigung der sprachlichen, kulturellen, politischen und religiösen Vielfalt sind in der Gesetzgebung der Schweiz mehrfach verankert. Die Erhaltung und die Förderung der sprachlichen Vielfalt verlangt zweifelsohne Engagement. - Ein Engagement gegen einfache und rein ökonomische Lösungen und gegen kulturelle Gleichgültigkeit. Und ein Engagement für einen tatsächlichen individuellen und kollektiven Reichtum, für die Stärkung der Landessprachen und damit für die Stärkung der mehrsprachigen Identität unseres Landes.

«Il rumantsch e l’identitad plurilingua da la Svizra»