Die Europäische Union ist seit geraumer Zeit unter Druck, einige sprechen von Krise. Zweifellos hat sie wichtige institutionelle Herausforderungen zu bewältigen.

„Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage" - in der Tradition von Shakespeare‘s Hamlet hat der britische Premierminister David Cameron am Weltwirtschaftsforum in Davos gefordert: "The EU must be able to act with the speed and flexibility of a network, not with the cumbersome rigidity of a bloc." Darum also geht es: Um Netzwerk oder Block! Um Föderalismus oder Zentralismus!

Neu ist die Diskussion über die ideale Staatsform, über Föderalisierung, Demokratisierung, Entbürokratisierung und Bürgernähe in der Europäischen Union nicht. Sie wurde immer dann laut, wenn die EU einen Entwicklungsschritt machte.

So etwa 1992 nach dem anfänglich knappen Nein Dänemarks gegen den Vertrag von Maastricht.
Oder 2005 nach dem klaren Nein zu einem Verfassungsentwurf in Frankreich und in den Niederlanden.

Ähnliche Diskussionen führen wir auch in der Schweiz, obwohl uns der Föderalismus quasi in die Wiege gelegt wird. Wir diskutieren beispielsweise dann besonders intensiv, wenn es um

die sprachregionalen Rücksichtnahmen und die Verhinderung eines sogenannten „Röstigrabens" zwischen der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz geht,
wenn der finanzielle Ausgleich zwischen den wirtschaftlich starken Zentrumskantonen und dem ländlichen Raum zu kippen droht oder
wenn es um die möglichst gerechte und sinnvolle Verteilung der Gelder für den Ausbau der Infrastrukturanlagen in den verschiedenen Landesgegenden geht.

Kurzum: Der Förderalismus ist ein Grundzug der Schweiz. Weil er so stark ausgeprägt ist, tun wir uns schwer mit der oft zentralistisch organisierten EU.

Die Forderung nach Mitsprache und Ausgleich erachten wir in der Schweiz als berechtigt, als legitim, im Resultat auch staatserhaltend und - im Sinne von Cicero‘s „de re publica" - motivierend für engagierte Bürgerinnen und Bürger. Sie fühlen sich befähigt, auch dann die Geschicke des Staates mitzubestimmen, wenn die Schweiz durch die Globalisierung herausgefordert wird. Sie können Probleme besser einordnen, wenn sie den Zweck staatlicher Massnahmen verstehen. Sie sind in der Lage, grenzüberschreitende - auch globale - Entscheide unter Berücksichtigung der lokalen Eigenheiten zu fällen.

Bewiesen hat die Schweizer Bevölkerung dies etwa bei den diversen Abstimmungen über bilaterale Verträge mit der EU. Die Regierung wurde immer unterstützt in ihrem Weg zur verstärkten Kooperation. Die Bevölkerung ist einverstanden, dass es nicht mehr genügt, sich vor allem innerhalb der eigenen Grenzen zu genügen.

Weil wir, verpflichtet durch den Föderalismus, den direkten Draht zu den Betroffenen über eine Vielzahl von Abstimmungen auf allen Staatsebenen pflegen, haben wir einen hohen Grad an Identifikation der Bürger mit unserem Staat erreicht. Politische Abstinenz, das ist uns fremd. Seit der Staatsgründung 1848 konnten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger bei uns den Staat in über 550 Volksabstimmungen aktiv und direkt mitgestalten. Das verbindet. Wir beziehen Bürgerinnen und Bürger bereits bei der Planung und Projektierung auf allen politischen Stufen mit ein - auf breiter Ebene und vor allem transparent. Dadurch entsteht Bürgernähe. Direkte Demokratie wird handfest mit der Diskussion von konkreten Projekten. Das schafft Akzeptanz.

Dennoch fühlt sich der Schweizer zuerst als Zürcher, Genfer oder Tessiner und erst dann als Schweizer, dann als Europäer. So wie die Bürger der Europäischen Union zuerst Österreicher, Kroaten, Slowenen - oder eben Briten sind und erst dann Europäer. Dennoch konnten wir dank unseren direktdemokratischen Einrichtungen eine hohe nationale Integrationswirkung erzielen, die staatspolitisch wichtige Werte schützen.

Unsere direkte Demokratie dient dem Schutz der Mehrheit vor dem Diktat einer gut organisierten Minderheit.
Unser Föderalismus bietet uns die Möglichkeit institutioneller Sicherung der Rechte von Minderheiten - insbesondere der kleinen Kantone.

Direkte Demokratie sorgt für Gleichheit. Föderalismus garantiert Sonderlösungen, die von allen mitgetragen werden. Und - Föderalismus garantiert einen Wettbewerb der Ideen! Die Vorteile des schweizerischen Systems sind aber nicht nur staatspolitischer Natur. Sie sind ganz handfest. So haben wissenschaftliche Studien spannende Resultate ergeben:

In Kantonen mit einer grösseren Partizipation der Bürger in Finanzgeschäften ist das Bruttoinlandprodukt pro Kopf bis zu 15% höher als in anderen.
In Gemeinden mit einer Referendumsmöglichkeit bei Finanzfragen sind die Staatsschulden um bis zu 25% tiefer als in anderen, die dieses Referendum nicht kennen.

Unsere Erfahrung mit dem föderalen Ausgleich der unterschiedlichsten Interessen in einem Staat - mit vier Sprachen und vielen Kulturen zeigt: Demokratie und Bürgerbeteiligung sind keine Bremsklötze für den Zusammenhalt des Staates, für eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung und für eine hohe Lebensqualität. Im Gegenteil! So konnten wir etwa auch die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen unseren Kantonen durch einen Finanzausgleich einer Lösung zuführen, auch dies durch das Stimmvolk abgesegnet. Ich bin überzeugt, dass ein föderales Miteinander auch für die europäische Union als Ganzes gewinnbringend sein kann. Für ein Europa, mit dem die Schweiz auch in Zukunft zusammenarbeiten wird.

Auch wenn wir nicht immer gleicher Meinung sind.
Auch wenn wir unsere allgemein- und direktdemokratischen Errungenschaften, unsere Volksrechte und unsere föderalistische Ordnung beibehalten wollen.

Die Werte, die gemeinsamen Sprachen und Kulturen und die Geschichte verbinden uns alle in Europa. Werte, die auch von Persönlichkeiten aus der Schweiz geprägt wurden - etwa vom Mediziner Paracelsus, vom Pädagogen Heinrich Pestalozzi oder vom Humanisten Henry Dunant. Werte, die wir als Depositärstaat der Genfer Konventionen hochhalten.

Aber auch technische Investitionen verbinden, die wir über die Jahrzehnte hinweg zum Nutzen Europas machten. Deshalb sind wir - im Gegensatz zu David Camerons Inselstaat - ein wichtiger Knotenpunkt im Strassen-, Eisenbahn- und Stromnetz für Europa. Wir sind uns bewusst, das föderalistische System ist auch bei uns ab und zu träge. Auch bei uns tut man sich schwer, Kompetenzen zu hinterfragen und erst recht sie abzugeben oder zu verändern. Trotzdem stellt der Wettbewerb unter den Mitglieder unseres Bundesstaates ein wesentliches Element des Erfolgs der Schweiz dar. Raum für den ökonomischen Wettbewerb wie auch Raum für den Wettbewerb der Ideen wirken stimulierend und positiv. Das meine ich, wird in der Europäischen Union unterschätzt.

Die Baustellen „Demokratie" und „Föderalismus" werden die Diskussionen in der Europäischen Union in den nächsten Jahren wohl wesentlich prägen. So hat Anfang Januar 2013 etwa der deutsche Finanzminister Schäuble in einer Rede an der Universität Heidelberg hervorgehoben: „Eine klare Kompetenzabgrenzung, auch unter Berücksichtigung des Schweizer Föderalismusmodells, könnte einen Weg zu einer weniger komplizierten Rechtssetzung öffnen". Und offenbar denkt man auch in Brüssel über neue Wege nach. So hat die Vizepräsidentin der Kommission, Frau Viviane Reding, diese Woche einen Artikel publiziert mit der Analyse, der Vertrag von Maastricht habe eine unvollendete Union geschaffen. Jetzt sei „die Zeit für eine demokratisch-föderale Verfassung Europas gekommen". Das freut mich aus Schweizer Sicht sehr und wir bringen uns gerne mit unseren Erfahrungen ein, falls dies erwünscht ist.

Gerade weil wir uns dieser Wertekultur, dieser Verantwortung bewusst sind, liegt es auch in unserem ureigenen Interesse, dass sich der europäische Kontinent und die EU weiterentwickeln. Heute steht unser Kontinent von zwei Seiten unter Druck.

Auf der einen Seite stehen die Schwellenländer, die ihren Anteil, ihre Bedeutung am Weltmarkt und an der Weltpolitik einfordern.
Auf der anderen Seite stehen die nach wie vor politisch dominierenden und wirtschaftlich wieder erstarkenden USA.

Auch wenn US-Präsident Obama, nachdem er Europa in der ersten Amtsperiode eher stiefmütterlich behandelt hat, jetzt die Beziehungen mit einem Freihandelsabkommen festigen will, muss Europa als Kontinent selber stark werden. Wenn wir als Kontinent nicht weiter an Bedeutung verlieren wollen, so müssen wir entschlossen bestehende Probleme lösen. Je länger dies nicht geschieht, je mehr werden sich Investoren abwenden, die Finanzmärkte negativ reagieren, die Wirtschaftsschwäche anhalten.

Als Mitglied der Schweizer Regierung liegt es mir fern, der EU Ratschläge zu erteilen. Aber wir beobachten gewisse Entwicklungen mit Sorge. So etwa die rekordhohe Arbeitslosenquote von 11,9% im Januar 2013. Beunruhigend erachte ich vor allem die Jugendarbeitslosigkeit mit 24,2%. Wenn jede vierte junge Person keine Arbeit findet, ist das sozialer Sprengstoff. Wenn diese Generation das Gefühl bekommt, keine Perspektiven zu haben und keine Unterstützung zu finden, ist das enorm gefährlich für die Zukunft Europas. Hier müssen wir agieren und Zukunftsperspektiven schaffen. In unserer Analyse könnte die duale Berufsbildung hilfreich sein. Sie hat den Vorteil einer Praxisbezogenheit, einer Ausbildung gemäss den reellen Bedürfnissen der Wirtschaftsunternehmen. Staaten mit diesem System weisen denn auch regelmässig tiefere Arbeitslosenquoten auf. Wenn wir je nach Fähigkeiten ein Ausbildungsangebot kreieren, von niederschwelliger Ausbildung durchlässig bis hin zum Masters Degree, dann schaffen wir Chancen, Möglichkeiten in der beruflichen Entwicklung und Leistungsbereitschaft der Jugend.

Zukunftsperspektiven sind wichtig. Die Bevölkerung akzeptiert eher einschneidende Massnahmen, wenn sich danach wieder Möglichkeiten einer besseren Lebensqualität ergeben. Menschen brauchen Sicherheit und Zukunftsperspektiven. Sie wollen vertrauen können. Wir, die Schweiz, haben ein Interesse an einem starken Europa. Wir haben ein Interesse daran, dass die über Jahrhunderte entwickelten moralisch-ethischen, gesellschafts-, rechts- und staatspolitischen Werte erhalten bleiben. Wir sind dann stark, wenn unser Kontinent als wirtschaftlich starker staats- und gesellschaftspolitisch verlässlicher Partner auf der Weltbühne auftreten kann, wenn er geachtet und gehört wird.

Stagnation bedeutet Rückschritt. Und ein Zurück ist keine Lösung - schon gar nicht der Rückschritt in eine nationalstaatliche Vergangenheit. Auch eine Vereinheitlichung über eine starke und dominierende Brüsseler Bürokratie ist aus Sicht der Schweiz keine Lösung. Die grossen Unterschiede in Kultur, Sprache, Tradition oder sogar in den wirtschaftlichen Strukturen lassen sich nicht über eine Zentrale in Brüssel überbrücken. Denn wir alle auf dem europäischen Kontinent können uns die Welt nicht aussuchen, in der und mit der wir zusammenleben. Wir wollen, wir müssen zusammenarbeiten, um unsere Interessen als Europäer gemeinsam zu festigen. Europa ist als Kontinent herausgefordert.

Deshalb ist es nie zu spät, das Europa von heute institutionell anzupassen. Es gibt ja bereits heute unterschiedliche Räume: Die Mitglieder der Europäischen Union, den Euro-Raum, den Schengen-Raum, den EWR oder Länder mit zahlreichen bilateralen Verträgen zur EU wie die Schweiz. Kooperation kann unterschiedliche Facetten haben.

Vielleicht braucht es daher 20 Jahre nach Maastricht und 55 Jahre nach den Römer Verträgen einen neuen Unionsvertrag.
Vielleicht braucht es gewisse Schuldenschnitte für eine nachhaltige Gesundung gewisser Haushalte.
Sicher aber braucht es neue Ideen und Wege für ein starkes Europa in der Welt.

Staaten sind vielleicht nicht die richtigen Adressaten zur Lancierung solcher Debatten. Man ist mit der Bewältigung der Aktualität beschäftigt, man hat Ressourcenprobleme etc. Die Wissenschaft, die Akademien könnten in dieser Situation wichtige Kräfte sein, um Wege aufzuzeigen, um Ideen zu vertiefen und für die Staatengemeinschaft Optionen zu erarbeiten. Diese Akademie sollte die Gunst der Stunde nutzen, um Denkarbeit zu leisten.

Meine Damen und Herren, wir müssen dafür sorgen, dass die Politik zugunsten der Menschen auf diesem Kontinent die Regeln bestimmt und nicht von anonymen Finanzmärkten getrieben wird. Wir müssen uns die Zeit nehmen, damit die betroffenen Staaten ihre Bürgerinnen und Bürger auch von schwierigen Schritten überzeugen und Reformen umsetzen können. Zurzeit steht viel auf dem Spiel in Europa. Als Folge der Schuldenkrise fällt Europa tiefer in die Rezession. Aber Europa ist trotz der Währungs- und Schuldenkrise eine Stabilitätszone. Deshalb ist es gefährlich zu glauben, man könne den Euro-Raum ohne Weiteres wieder in seine Teile zerlegen.

Die Schweiz kann in Manchem ein Modell für Europa sein. Eins zu Eins kann man die Schweiz aber nicht auf Europa übertragen. Wir haben eine gemeinsame Sicherheits-, Wirtschafts- und Finanzpolitik - die EU nicht. Wir konnten bei allen kantonalen unterschiedlichen Befindlichkeiten über die letzten 150 Jahre hinweg einen eidgenössischen Gemeinsinn entwickeln. Aber wir haben - ebenfalls dank eines 150jährigen Lernprozesses - auch einen Weg gefunden, wie Mehrheiten und Minderheiten in diesem Staat miteinander umgehen können.

Das sollte Europa ebenfalls entwickeln. Denn wir brauchen einen von allen Menschen mitgetragenen Kontinent mit Werten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Freiheit. Ein Engagement für diese Werte lohnt sich - vielleicht sogar auf einer föderalistischen Basis.

Die Schweiz als Modell für Europa