Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

Ich freue mich, an diesem feierlichen Tag hier in Chiasso sein zu dürfen. Und ganz besonders freue ich mich, den 1. August hier mit Ihnen, den Tessinerinnen und Tessinern, zu feiern.

Das Tessin ist für mich wie eine zweite Heimat: Hier habe ich meinen Militärdienst geleistet und war ich als Unternehmer tätig. Ich kenne den Kanton seit Langem und habe ihn schätzen gelernt für seine Fähigkeit, vergangene und aktuelle Herausforderungen mit einer Siegermentalität, einem Engagement und einer Dynamik anzupacken, die hoch zu achten sind und für die Ihnen die gesamte Schweiz nur dankbar sein kann.

Besonders heute - in dieser schwierigen Übergangsphase. Unser Land ist stark, wettbewerbs- und innovationsfähig und kann Arbeitsplätze schaffen - das hat es dem gemeinsamen Einsatz all seiner Landesteile und Regionen zu verdanken.

Wir stehen zusammen, um das Erreichte zu verteidigen und neue Erfolge zu erzielen, damit wir unser Land so an unsere Jungen weitergeben können, wie es heute ist. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht die Schweiz auch Sie, liebe Tessinerinnen und Tessiner.

Die Nord-Süd-Achse ist von zentraler Bedeutung

Ein Klischee besagt, dass die Schweiz eine Insel sei und ihr Erfolg darauf zurückzuführen sei. Das Gegenteil ist der Fall.

Die Schweiz ist keine Insel, sondern eine Wegkreuzung mit regem Austausch, wie es ihre Geografie und ihr Wappen erkennen lassen. Und gerade weil unser Land eine Wegkreuzung ist, ist unsere Geschichte eine Erfolgsgeschichte. Sie, die Sie in den Tälern wohnen, die den Norden der Alpen mit dem Süden verbinden, die Sie an der Grenze zur Poebene und zum Mittelmeer leben, Sie wissen das besser als alle anderen.

In der Schweiz entspringen die grossen Flüsse, die in die Nordsee, ins Mittelmeer und in die Meere Osteuropas münden. Flüsse, die den Handel und den Austausch zwischen den Völkern florieren liessen und noch immer florieren lassen. Die bevorzugte Verbindung zwischen Nord und Süd ist seit jeher Ihr - unser - Gotthard: die Strasse der Völker, die durch die italienische Schweiz verläuft.

Die Grenze zwischen dem Tessin und Italien ist keine Mauer, sondern eine Brücke, die die Alpen mit dem Mittelmeer verbindet. Dank dieser Brücke konnten die Urkantone seit der Entstehung der Eidgenossenschaft einen florierenden Handel mit den Märkten in Mailand entwickeln. Das ist auch heute noch so: Italien ist nach Deutschland unser zweitgrösster Handelspartner und innerhalb Italiens ist die Lombardei unser bevorzugter Handelspartner. Das AlpTransit-Projekt - das bis 2017 realisiert wird - sowie unsere Teilnahme an der Expo Milano 2015 stehen für unseren Willen, Brücken zu bauen, statt Grenzen zu errichten. Dass die Schweiz heute von einem erleichterten Zugang zum Mittelmeerraum profitiert, ist - liebe Tessinerinnen und Tessiner - auch dem Umstand zu verdanken, dass Sie dem Rest der Schweizer Bevölkerung vor Augen geführt haben, wie wichtig dieser Absatzmarkt nicht nur für die italienische, sondern für die gesamte Schweiz ist.

Die Gotthardbahn wäre ohne die unermüdliche Vermittlungsarbeit von Bundesrat Giovan Battista Pioda nicht entstanden, der Gotthardstrassentunnel wäre ohne die Intelligenz der Tessiner Ingenieure nie gebaut worden, und wir hätten auch keinen AlpTransit-Basistunnel unter dem Gotthard ohne das erfolgreiche Engagement des Kantons Tessin und der Tessiner Abgeordneten in den beiden eidgenössischen Räten, die das Parlament von der strategischen Bedeutung dieser Milliardeninvestition überzeugen konnten. Aus diesen Gründen habe ich mich dafür eingesetzt - und werde ich mich auch weiterhin dafür einsetzen -, dass der Gotthardstrassentunnel eine zweite Röhre erhält. Für die Schweiz, die produziert, Innovationen tätigt und an ihrer eigenen Zukunft baut, ist es zentral, dass sie auf eine gute und schnelle Autobahnverbindung mit dem Süden und dem Norden Europas zählen kann und dass alle Regionen der Schweiz gleichermassen von dieser schnellen Verbindung profitieren.

Daher muss das Tessin mit - seiner Industrie, - seinen KMU, - seinem Finanzplatz,

- seinen Dienstleistungen, - seinen universitären Forschungszentren das ganze Jahr über mit den wichtigsten Zentren der Schweiz verbunden sein und die Touristen müssen von Januar bis Dezember von der Schönheit des Tessins profitieren können - ohne dafür Berge überwinden zu müssen. Eine zweite Gotthardstrassenröhre ist - abgesehen von der verbesserten Verkehrssicherheit - für das Tessin die beste Garantie dafür, dass es stabil mit dem Rest des Landes verbunden bleibt.

Eine Schweiz ohne - vollständig und stabil - in das nationale Verbindungsnetz integriertes Tessin wäre nicht mehr die Schweiz!

Freihandel und Integration der Vielfalt

Da wir eine Wegkreuzung sind, konnte in der Schweiz Folgendes entstehen:

eine Mentalität und Kultur des Vertrags, des Bündnisses, der pragmatischen Suche nach dem Konsens, der von der Basis kommt;
die Fähigkeit, Vielfalt positiv zu integrieren;
der Wille und die Fähigkeit, über die Grenzen hinweg Freihandelsbeziehungen aufzubauen;
eine Beziehung zum Ausland, die von einer grossen wirtschaftlichen Offenheit geprägt ist und sich auf bilaterale Abkommen stützt, dank denen wir unsere Identität und Souveränität bewahren können, uns aber gleichzeitig für den Handel sowie den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch mit der ganzen Welt öffnen. Die Funktionsweise der Schweizer Wirtschaft und Politik verdeutlicht diese erfolgreiche Kultur und Mentalität der Integration, dazu gehören der Föderalismus, die Konkordanzdemokratie, der soziale Arbeitsfriede und die Vereinbarungen zwischen Sozial- und Wirtschaftspartnern.

Die Stärke der Schweizer Wirtschaft und Wissenschaft: Öffnung

Unsere Wirtschaft ist stark, innovativ und gut entwickelt, da wir Eisenbahnen, Strassen und Autobahnen gebaut und die Grenzen geöffnet haben für:

ausländische Unternehmer, die hier fruchtbaren Boden vorfanden, um Unternehmen wie Nestlé, Brown Boveri und Swatch aufzubauen;
für Deutschschweizer und deutsche Hoteliers, die zum Aufbau und zur Entwicklung der Hotellerie im Tessin beigetragen haben;
für kluge Köpfe, die an unseren Hochschulen optimale Bedingungen vorfinden, um ihre Forschung voranzutreiben, wovon die Schweizer Unternehmen mit Blick auf die Innovation grossen Nutzen ziehen.

Eine Öffnung letztlich auch für die neuen «Autobahnen der Wissenschaft», die das Tessin ausserordentlich weitsichtig und zielstrebig mit der Universität der italienischen Schweiz in Lugano und Mendrisio verwirklicht hat.

Unsere Wirtschaft ist aber auch dank des Schweizer Berufsbildungssystems so stark geworden. Vergessen wir nicht die Worte von Stefano Franscini: «Ohne Ausbildung, keine echte Freiheit», die wir heute wie folgt ergänzen könnten: «Ohne exzellente Berufsbildung, kein echter Wohlstand».

Die Personenfreizügigkeit: grosse Chancen

Unsere Entwicklung und die mit der Europäischen Union abgeschlossenen Abkommen machen die Schweiz attraktiv für leistungsstarke Unternehmen, kluge Köpfe sowie Arbeitskräfte, die wiederum zur Weiterentwicklung des Landes beitragen und unsere Sozialversicherungen unterstützen. Der positive Nutzen des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der Europäischen Union ist nicht von der Hand zu weisen: Nach einer wirtschaftlich schwierigen Phase hat unser Wachstum seit Inkrafttreten des Abkommens an Fahrt gewonnen, die Exporte haben angezogen und verharren trotz der Frankenstärke auf einem soliden Niveau. In den zukunftsorientierten, innovativen und wettbewerbsfähigen Sektoren, die für die Arbeitsplätze von morgen entscheidend sind, hat die Personenfreizügigkeit die Schweizer Wirtschaft merklich belebt und einen Wohlstand ermöglicht, um den uns heute viele beneiden.

... sofern wir Missbräuche wirksam bekämpfen

Die Personenfreizügigkeit bringt aber auch Probleme und Missbräuche mit sich.

In einem kleinen Land wie der Schweiz bleibt eine massive Immigration nicht ohne Nebeneffekte, die sich - ohne wirksame flankierende Massnahmen - negativ auf die Arbeitsbedingungen, die Löhne, die Sicherheit, die Wohnverhältnisse und den Verkehr auswirken können. Dies sind reale Probleme, die in den Grenzregionen wie dem Tessin augenfälliger sind und die wir auf keinen Fall ignorieren dürfen.

Um Missbräuchen vorzubeugen, die eine solche Öffnung indirekt mit sich bringt, müssen wir gezielt und differenziert vorgehen, damit sich die Rahmenbedingungen nicht verschlechtern, die die Stärke und Attraktivität unseres Landes als Ganzes und der einzelnen Regionen mit ihren spezifischen An- und Herausforderungen ausmachen. Wenn wir wollen, dass diese Rahmenbedingungen unserer Wirtschaft und unserem Wohlstand Vorteile und nicht letztlich Schaden bringen, dürfen wir uns nicht zu einer Vervielfachung aufoktroyierter staatlicher Vorschriften verleiten lassen.

Die Stärke der Schweiz liegt, wie gesagt darin, Bündnisse zu schmieden, und in ihrer Fähigkeit, differenziert auf die speziellen Bedürfnisse der verschiedenen Sektoren und Regionen zu reagieren. Der Bundesrat und das Parlament sind sich dessen bewusst und reagieren - schrittweise, aber entschlossen - auf die besagten Nebeneffekte, wenn möglich ohne dabei die produzierenden Unternehmen mit kontraproduktiven Massnahmen zu belasten. Die Antwort auf die bestehenden Probleme kann nicht ein Modellwechsel sein. Um Lohndumping und eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zu vermeiden, müssen vor allem die Sozialpartner die besten Verhandlungslösungen finden. Und man sollte sich bewusst sein, dass eine allfällige Schliessung der Grenzen für die Schweizer Wirtschaft und somit für unseren Wohlstand extrem schädlich wäre.

Schliesslich widerspricht - wie bereits erwähnt - ein Verzicht auf den Freihandel und auf unseren Status als Wegkreuzung und Brücke, dem wir unseren beneidenswerten Wohlstand verdanken, unserer Tradition. Der Kampf gegen die unerwünschten Nebeneffekte der Personenfreizügigkeit muss auf die Bewahrung unseres Modells der Offenheit ausgerichtet sein, das aus unserer Geschichte eine Erfolgsgeschichte gemacht hat.

Investieren, um stark zu bleiben

All das reicht jedoch noch nicht. Um stark und innovativ zu bleiben und für unsere Jungen Arbeitsplätze zu sichern, die auch in der Welt von morgen noch wettbewerbsfähig sind, müssen wir investieren: Genauso wie es das Tessin gemacht hat, mit dem Aufbau der Universität der italienischen Schweiz und von Forschungszentren, mit der erfolgreichen Entwicklung der Tessiner Fachhochschule (SUPSI), mit der Eröffnung von Fakultäten in zukunftsorientierten Sektoren und der Vernetzung mit den besten nationalen wissenschaftlichen Forschungszentren, mit der Gründung wettbewerbsfähiger Start-ups und mit der Gewinnung von Unternehmen mit hoher Mehrwertgenerierung für den Standort Tessin. Solche Initiativen eröffnen neue Wege und Möglichkeiten, wie wir sie brauchen. So schlagen unser Land und dieser Kanton neue Brücken über die Grenzen hinweg, um den Wohlstand der Bürgerinnen und Bürger auch für die Zukunft zu sichern.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Tessinerinnen und Tessiner

Bei meinen Auslandreisen und Treffen mit neuen Wirtschafts- und politischen Partnern ist mir gerade in letzter Zeit aufgefallen, wie sehr unser Modell der Entwicklung, der Integration der Vielfalt und der Achtung der Multikulturalität bewundert wird. Die Schweiz existiert und wird für das bewundert, was sie ist: für ihre Unabhängigkeit, für ihre Solidarität und ihre Sozialpartnerschaft, für ihre Offenheit und ihre Zuverlässigkeit, für ihre Fähigkeit, aus der Vielfalt Kraft zu schöpfen.

Liebe Tessinerinnen und Tessiner, Ihr könnt auf mein Engagement und meine Unterstützung zählen!

Die Schweiz ist eine Wegkreuzung − Grenzen sind Brücken