Es gilt das gesprochene Wort

In den letzten Monaten und Jahren habe ich häufig an Walter Stucki gedacht. Der Grund liegt auf der Hand: Die Schweiz wird international immer wieder unter Druck gesetzt. Grosse Staaten und internationale Organisationen erpressen uns. Ich habe mir dann jeweils die Frage gestellt: Wie hätte jetzt wohl Walter Stucki reagiert?

Darum habe ich angefangen, mich etwas näher mit dieser ausserordentlichen Persönlichkeit zu befassen. Und je mehr ich über ihn erfahren habe, desto mehr vermisse ich so jemanden wie Stucki in unserer Aussenpolitik.

Ich muss zugeben, für den Bundesrat wäre es wahrscheinlich nicht immer einfach mit ihm. Er galt als sehr, sehr, sehr selbstsicher. Jetzt ist es so, dass wir einen Chef haben, das Volk. Mit einem Stucki hätten wir noch einen zweiten Chef. Man sagt ja, es sei ihm gleichgültig gewesen, wer unter ihm Bundesrat sei.

Man nannte Stucki auch den achten Bundesrat. Übrigens wurde er einmal darauf angesprochen; er soll dann gesagt haben, in diesem Gremium sei er gewiss nicht der Achte.

Wenn es auch für den Bundesrat schwierig wäre, für das Land wäre es aber sicher gut, so einen Stucki zu haben. Die Schweiz hat ihm viel zu verdanken. Und auch heute noch könnten wir viel von ihm lernen.

1. Druck auf die Schweiz ist Normalzustand

Die erste Lehre ergibt sich allein schon aus seiner Biographie: Nämlich, dass der Druck auf die Schweiz ein Normalzustand ist. Stucki führte Verhandlungen in drei ganz verschiedenen Epochen, aber immer war unser Land unter Druck:

Die erste Epoche waren die 20er-Jahre, die Zeit der Weltwirtschaftskrise. Durch Inflation verloren viele Volkswirtschaften ihre Kaufkraft. Viele Länder erhoben hohe Schutzzölle und Einfuhr- und Lieferbeschränkungen. Die Schweiz war in einer schwierigen Situation: Einerseits war sie auf den Import von Rohstoffen angewiesen, andererseits auf den Export ihrer Industrieprodukte. Unter diesen schwierigen Bedingungen war Stucki für die Handelsverträge verantwortlich.

Eine zweite Epoche war die Bedrohung durch das Dritte Reich in den dreissiger Jahren und während des Weltkrieges. Stucki prägte auch da zuerst die Aussenhandelspolitik, später war er Schweizer Botschafter in Paris und in Vichy.

Und eine dritte Epoche war die Neuordnung der Welt nach dem Krieg. Damals traten vor allem die USA sehr arrogant auf und verlangten weitgehende Konzessionen. Unter anderem ging es ihnen darum, ihre Kriegsschulden zu decken. Darum stellten sie auch hohe Forderungen an die Schweiz. Stucki führte die heikelsten Verhandlungen, vor allem auch jene mit den USA in Washington.

Wenn wir heute auf diese drei Epochen und auf Stuckis Berufsleben zurückschauen, stellen wir fest: Die Schweiz musste sich immer wehren. Eine harte Verhandlung folgte der nächsten - und das über Jahre.

Natürlich, Stucki lebte auch in einer bewegten Zeit. Aber in der Geschichte sind bewegte Zeiten häufiger als ruhige.

Druck auf die Schweiz ist historisch gesehen der Normalzustand. Wenn jetzt die Schweiz unter Druck gesetzt wird, ist das nichts Neues. Denn grosse Staaten neigen immer wieder dazu, ihre Interessen mit Machtpolitik durchzusetzen. Besonders dann, wenn es ihnen wirtschaftlich nicht gut geht. So wie damals. Und so wie heute.

Das Neue am Druck auf die Schweiz ist, dass wir ratlos sind und glauben, wir müssten immer nur nachgeben. Damit komme ich zu zwei Grundsätzen, die wir aus Stuckis Verhandlungsführung lernen können. Ich bin überzeugt, wir würden damit besser fahren:

2. Bedingungslos für die Schweiz eintreten

Der erste Grundsatz ist das bedingungslose Eintreten für die Schweizer Interessen. Dazu gehört, dass Schweizer Werte wie Unabhängigkeit, Neutralität, eigene Rechtsordnung usw. schlicht nicht verhandelbar sind. Für Stucki war das immer selbstverständlich. Er forderte auch den Bundesrat immer wieder zu einer konsequenten Haltung auf.

Diplomaten eines Kleinstaates sind ja manchmal versucht, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Das kann sogar dazu führen, dass sie mehr oder weniger den Standpunkt und die Argumente der Gegenseite übernehmen.

Das wäre Stucki nie in den Sinn gekommen. Obwohl der Druck oft noch weit über das hinausging, was wir heute erleben. Auch damals wurde mit Handelsnachteilen und mit schwarzen Listen gedroht. Auch damals gab es Grossmächte, die nicht verhandeln, sondern diktieren wollten. Auch damals gab es geschickt orchestrierte Pressekampagnen gegen die Schweiz. Aber darüber hinaus drohte noch die Sperrung von Vermögen und während des Krieges die Blockade von Nachschub oder sogar ein militärischer Angriff.

Dadurch liess sich Stucki allerdings nicht in die Defensive drängen. Denn Stucki ist nicht nur bedingungslos für die Schweiz eingetreten, er hat auch immer auf Augenhöhe verhandelt.

3. Nicht als Bittsteller auftreten

Stucki ist nie als Bittsteller aufgetreten - das ist der zweite Grundsatz, den wir von ihm lernen können. Er betrieb eine offensive Verhandlungsführung, nicht diplomatische Leisetreterei. Auch gegenüber viel grösseren Staaten trat er betont selbstbewusst auf. Man sagt, er sei ein brillanter Debattierer und den ausländischen Delegationen ein charmanter Gastgeber gewesen. Aber wenn es nötig war, dann klopfte er vehement auf den Tisch. Er sagte seine Meinung und liess Verhandlungen auch platzen. Der Vertragsabschluss allein war für ihn kein Ziel, sondern der beste Vertragsabschluss für die Schweiz war sein Ziel.

1935 zum Beispiel führte er schwierige Verhandlungen über die Regelung der Handelsbeziehungen mit Nazideutschland. Die Nazis traten überheblich und drohend auf. Und als man sich nach zähen Verhandlungen geeinigt hatte, griffen sie zu einem diplomatischen Trick, der übrigens auch heute immer wieder angewendet wird: Die Unterschrift wird verweigert und es werden nochmals neue Bedingungen gestellt.

Das verfing bei Stucki nicht: Er ging nach Hause. Am Samstagabend suchte der deutsche Gesandte dann wieder den Kontakt und läutete an Stuckis Haustür. Stucki sagte ihm, er solle nach Berlin melden, Deutschland habe sich sehr peinlich verhalten. Und dem Bundesrat riet er eindringlich: „Wir stehen vor einem brutalen Ultimatum und können jetzt den Deutschen nicht nachspringen und dürfen erst recht nicht nachgeben". [1]

Dass er für den Kleinstaat Schweiz von den Grossmächten Respekt einforderte, hat Stucki bei den Verhandlungen über das Washingtoner Abkommen auch gegenüber den Amerikanern deutlich gemacht: Einmal bestellte er demonstrativ Flugtickets zurück in die Schweiz. Damit war klar, dass sich Stucki und die Schweiz nicht alles bieten lassen.

Vor 50 Jahren ist Walter Stucki gestorben. Zu Recht ehren Sie ihn hier in Konolfingen mit einer Gedenktafel. Mit seinen ausserordentlichen Leistungen für unser Land hat er das verdient. Und unser Land hätte verdient, dass wir uns wieder stärker an Stuckis Grundsätzen orientieren: Treten wir bedingungslos ein für die Schweiz. Und treten wir nicht als Bittsteller auf!

[1] Konrad Stamm, der „grosse Stucki", Zürich 2013, S. 77

Ansprache zur Gedenkfeier für Walter Stucki