Liebe Schülerinnen und Schüler

Sie befinden sich an einem Ort, an dem das Herz der Welt schlägt. Und Sie müssen an einem Ort sein, an dem Sie den Pulsschlag der Welt fühlen können!

Ihnen, Herr Generalsekretär Møller, gebührt der Dank, dass Sie uns hier im Palais des Nations, einem der weltweit wichtigsten Zentren der Vereinten Nationen, empfangen haben. Hier sprechen die Nationen zueinander.

Manchmal sprechen sie zu viel und handeln zu wenig. Manchmal sprechen sie nicht über das Gleiche. Manchmal benötigen sie Zeit, um zu einer gemeinsamen Sprache zu finden. Aber hier, dank der UNO und der internationalen Vernetzung, die nach dem Ersten, später nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen worden ist, sprechen die Nationen miteinander. Und dies ist essenziel. Es ist tausendmal besser, miteinander zu sprechen, als gegeneinander in den Krieg zu ziehen. Miteinander sprechen ist eine Bedingung, um Krieg zu vermeiden.

Um miteinander reden zu können muss man sich verstehen; aus diesem Grund gilt mein spezieller Dank den jungen Diplomandinnen und Diplomanden der Faculté de traduction et d'interprétation (FTI) der Universtät Genf, die sich grosszügigerweise bereit erklärt haben, dieses Treffen auf Französisch, Deutsch und Italienisch zu dolmetschen – auf dass wir uns alles verstehen! Ihre Arbeit ist unentbehrlich hier im internationalen Genf; die gute Arbeit der Dolmetscherinnen und Dolmetscher trägt dazu bei, dass bei den hier stattfindenden Verhandlungen und Diskussionen gute Resultate erzielt werden können!

Hier in Genf strebt man danach, Frieden zu schaffen und die Welt von morgen zu schaffen. Man arbeitet vor allem für Sie, die Jugend: Heute Frieden zu schaffen, bedeutet, dass Sie morgen in einer besseren Welt leben können. Es stimmt also: Sie befinden sich an einem Ort, an dem das Herz der Welt schlägt.

Und Sie befinden sich an dem Ort, an dem die ganze Welt zusammenarbeitet.

Frieden zu schaffen, ist eine schwierige und langwierige, manchmal auch frustrierende Arbeit. Dies musste der ehemalige Sondergesandte der UNO und der Arabischen Liga für Syrien, Lakhdar Brahimi, feststellen.

Er hat sich unablässig für die Verbesserung des Dialogs und den Frieden in Syrien eingesetzt. Aber trotz aller Anstrengungen sind die Friedensgespräche, die hier in Genf, in diesem Palais, zu Beginn des Jahres 2014 stattgefunden haben, zum Erliegen gekommen.

Es ist dies also eine frustrierende, langwierige und komplizierte Arbeit. Aber sie ist unabdingbar. Heute wohl mehr denn je, da unsere Welt an vielen Orten in Flammen steht, sogar in Europa!

Dieses Gebäude wurde errichtet als Sitz des Völkerbunds, einer Organisation, die nach dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde. Als Vorgänger der UNO war der Völkerbund die erste Organisation mit weltweiter Ausstrahlung. Sein erklärtes Ziel war es, den Frieden zu fördern und Krieg zu verhindern.

Nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs sagte man angesichts der vielen Opfer «Nie wieder Krieg». Man sagte dies insbesondere angesichts der ungezählten jungen Menschen, die ihr Leben verloren – viele davon waren nicht älter als 16, das Alter, das einige von Ihnen hier haben!

Leider hatten diese guten Absichten keinen Bestand; der Völkerbund konnte die hohen Erwartungen, die man an ihn hatte, nicht erfüllen.

Ernaut kam es zum Krieg. Ziemlich genau vor 75 Jahren ist der Zweite Weltkrieg ausgebrochen, in seinem Gefolge Tränen und schlimmere Gräueltaten als je zuvor.

Liebe Schülerinnen und Schüler

Sie sind hier, weil Sie an einem Projekt teilnehmen, das ich hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs lanciert habe; mein Wunsch war es, dass dieses Projekt dazu dient, über den Krieg, den Frieden und die Rolle der Schweiz nachzudenken.

Warum soll das für Sie wichtig sein? Warum sollen Sie sich mit einem Krieg befassen, der die Eltern Ihrer Grosseltern betraf? Weil dieser Krieg die Welt dauerhaft verändert hat. Weil die Auswirkungen dieses Kriegs bis heute spürbar sind. Weil sein erstes Opfer die Jugend war.

Mehr als je zuvor in der Geschichte zog der Erste Weltkrieg die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft. Es gehört zu den grössten Problemen heutiger Konflikte, dass zwischen der Zivilbevölkerung und dem Militär keine deutliche Trennlinie mehr verläuft.

Vor dem Ersten Weltkrieg betrafen kriegerische Auseinandersetzungen vorwiegend die Soldaten; diese Auseinandersetzungen wurden auf Schlachtfeldern ausgetragen. Heute finden Gefechte in den Städten statt; der Krieg bedroht Zivilistinnen und Zivilisten in ihren Wohnungen, ja sogar in Schulen und Spitälern!

Man spricht von «Schlachtfeldern», weil Schlachten einstmals Kämpfe auf den Feldern ausserhalb von Städten ausgetragen wurden. Dies ist kaum mehr der Fall. Heute müsste man eher von «Schlachtstrassen» oder «Schlachtvierteln» sprechen. Der Grossstadtdschungel steht in Flammen, denen Kinder und Jugendliche zum Opfer fallen; oder aber Kinder und Jugendliche können wegen der Gefechte nicht mehr zur Schule gehen, wie dies in Gaza, in Tripolis oder in Donezk der Fall ist. Man beraubt die jungen Leute ihres wichtigsten Rechts: des Rechts auf eine Zukunft.

1914 erinnert uns auch daran, dass Friede ein unentbehrliches Gut ist, auch ein delikates Gut, zu dem wir Sorge tragen müssen. Anfangs des Jahres 1914 glaubte niemand, dass ein Krieg ausbrechen würde – und sicherlich nicht ein derart langer und folgenschwerer Krieg, der die ganze Welt in Mitleidenschaft zieht. Seit diesem Jahr wissen wir aber, dass niemand sicher ist. Eines der ersten Opfer dieses Krieges von 1914 war das neutrale Belgien, das zwischen den Machtinteressen der Nachbarländer zerrieben wurde.

Es ist zwei Jahre her, dass ganz Europa die Fussballeuropameisterschaft in der Ukraine verfolgt hat. Dort, wo vor Kurzem noch Spiele ausgetragen wurden, werden heute bewaffnete Konflikte ausgetragen. Und die Passagiere aus der ganzen Welt, die auf ihrem Weg nach Malaysia diesen Juli die Ostukraine überflogen, hatten mit Sicherheit nicht daran gedacht, dass sie diesem Konflikt zum Opfer fallen werden. Die internationale Sicherheit und Stabilität betreffen uns alle, auch in der Schweiz. Der Bundesrat ist überzeugt, dass die Schweiz ihre Interessen und ihre Bevölkerung schützt und sich für Frieden, Stabilität und Demokratie in Europa und der ganzen Welt einsetzt.

Der erste Weltkrieg hat uns die Brutalität eines Konflikts, die durch den Einsatz neuer Waffen noch gesteigert wurde, vor Augen geführt.
Erstmals in der Geschichte der Menschheit gelangten grossflächig chemische Kampfstoffe zur Anwendung: Es war in Ypern, wo das Gas seine schreckliche Wirkung entfaltet hat. Und obwohl wir mittlerweile internationale Übereinkommen haben, müssen wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass solche Waffen nicht mehr zum Einsatz gelangen; der Konflikt in Syrien hat dies gezeigt.

Die Schweiz setzt sich ein

Liebe Schülerinnen und Schüler,

Ihr befinden Euch hier am Ort, an dem das internationale Herz der Schweiz schlägt. Und Sie befinden sich gewissermassen im Zentrum der Schweizer Aussenpolitik!

Die Schweiz setzt sich ein, weil dies in ihrem Interesse ist. Sie setzt sich ein, weil sie an zentrale Werte glaubt. Die Stadt Genf und der Palais des Nations sind gewissermassen getränkt von diesen Werten, die da sind:

- Friedensförderung;
- Förderung der Demokratie;
- Einsatz für die Menschenrechte;
- Armutsbekämpfung und Engagement für die Entwicklungszusammenarbeit;
- Erhaltung der natürlichen Ressourcen und Umweltschutz.

Es sind diese fünf zentralen Werte, die von der Schweiz, der UNO und der Stadt Genf geteilt werden.

Fünf Werte, die wir mit unserer Aussenpolitik weltweit verankern wollen; die Bundeserverfassung – vor fünfzehn Jahren hat das Schweizervolk diesem grundlegenden Text zugestimmt – gebietet uns dies.

Um der Kriegsopfer zu gedenken, und um an die Rechte dieser Opfer und die Pflichten eines jeden Staats zu erinnern, kündige ich heute an, dass die Schweiz hier, im Palais des Nations, die Errichtung eines Denkmals plant. Hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs soll dieses Denkmal die Rechte der Opfer und die Pflichten der Staaten betonen.

Das schweizerische Engagement hat sich aber mit dieser symbolischen und pädagogischen Massnahme nicht erschöpft – auch vor Ort setzt sich die Schweiz für den Frieden ein.

Wo die Menschenrechte nicht respektiert werden und die Armut gross ist; wo der Klimawandel die Lebensbedingungen verschlechtert – insbesondere den Zugang zu Wasser oder die Sicherheit der Bevölkerung in einer ohnehin schon fragilen Region –, erhöht sich das Risiko, dass Spannungen in Konflikte umschlagen.
Die Schweiz tut ihr Möglichstes, um in diesen Ländern frühzeitig tätig zu werden, bevor ein Konflikt eskaliert. Sie setzt sich damit für die Schaffung von Bedingungen ein, die den Frieden begünstigen und eine Zukunftsperspektive bieten.

Nehmen wir als Beispiel Nordafrika. Dort bemühen wir uns, die Zivilgesellschaft, die im Gefolge des «Arabischen Frühlings» ihre Stimme erhoben hat, zu stärken. Wie schwierig dies ist, sehen wir in Libyen oder in Ägypten. Aber man sieht am Beispiel von Tunesien auch, dass dies glücklicherweise möglich ist. Die Schweiz setzt sich auch mit Nachdruck in der Wasserfrage ein, ist doch Wasser eine unentbehrliche Ressource – als Trinkwasser, für die Landwirtschaft, die Hygiene, die Ernährung und die Energiegewinnung... Als begehrtes Gut kann Wasser in den kommenden Jahrzehnten auch zu einer der grössten Ursache von Konflikten werden.

Für unser Engagement in der Friedensförderung brauchen wir Sie, die jungen Leute. Häufig ist es die Jugend, die Änderungen vorantreibt – die Umstürze in der arabischen Welt haben uns dies vor Augen geführt. Es ist auch die Jugend, die auf Veränderungen drängen und die Zukunft erbauen kann.

Herrschen Spannungen, oder kommt es zu Konflikten, setzt die Schweiz auch auf den Dialog und die Mediation. Hier kann die Schweiz aus Erfahrung sprechen: Täglich erleben wir, wie wichtig der Dialog zwischen unseren verschiedenen Kulturen und unseren Kantonen ist, um gemeinsam eine friedvolle Zukunft zu schaffen.

Die Schweiz setzt sich ein für die Friedenswahrung. Trotzdem kommt es manchmal zum Krieg. Aus diesem Grund setzen wir uns für mehr Menschlichkeit im Krieg ein.

Beinahe auf den Tag genau vor 150 Jahren, am 22. August 1864, haben zwölf Staaten hier in Genf die erste Genfer Konvention unterzeichnet. Sie haben damit das «Humanitäre Völkerrecht» erfunden. Ersonnen wurde es von Henry Dunant – einem Genfer, der das Ende seines Lebens im Kanton Appenzell verbrachte, einem Mann also, der die «Schweiz im Kleinen» verkörpert hat! Einige Jahre vor der Unterzeichnung der Genfer Konvention hatte Dunant auf den Schlachtfeldern von Solferino in Norditalien das schreckliche Gesicht des Kriegs gesehen. Henry Dunant eilte den Verwundeten zu Hilfe. Zurück in Genf, gründete er eine Organisation, aus der später das IKRK hervorging. Und Dunant hat die Ausarbeitung der Genfer Konvention angeregt, in der sich die Unterzeichnerstaaten dazu verpflichten, Verwundete und Kranke im Krieg zu schützen und zu versorgen. Mit seinem beispiellosen Einsatz hat Henry Dunant Berge versetzt.

Wahrscheinlich ist das Rote Kreuz die schönste Erfindung, die die Schweiz je zugunsten der Menschheit gemacht hat. Henry Dunant erhielt für sein Werk 1901 den ersten Friedensnobelpreis.

Vorhin haben Sie das IKRK besucht und mit seinem Präsidenten gesprochen, und Sie haben gesehen: Das IKRK wacht während Konflikten darüber, dass in Kämpfen zumindest etwas Menschlichkeit überlebt, und das IKRK setzt sich dafür ein, dass der Zivilbevölkerung, Verwundeten, Gefangenen, Häftlingen und getöteten Menschen ein Mindestmass an Würde zukommt. Für Millionen von Menschen, die in der Düsternis des Krieges leben, ist das Rote Kreuz ein Schimmer der Hoffnung.

Der Erste Weltkrieg hat auch gezeigt, dass es unabdingbar ist, gewisse Regeln festzuschreiben, die in bewaffneten Auseinandersetzungen gelten müssen. Die Weltlage im Jahr 2014 zeigt, dass man auch heute für die Einhaltung dieser Regeln kämpfen muss – Krieg ist von Natur aus infernalisch, aber nicht alles und jedes soll in ihm erlaubt sein.

Gewisse Personen, Zivilistinnen und Zivilisten beispielsweise, Gefangene oder Verwundete, werden also dank des Prozesses, der in Genf vor 150 Jahren angestossen worden ist, geschützt. Und gewisse Waffen wie chemische Waffen sind verboten.

Aber wie 1914 werden auch heute auf den Schlachtfeldern, in den Schlachtstrassen, täglich neue Grausamkeiten begangen. Heute besteht die Herausforderung nicht mehr darin, Konventionen zu verfassen oder das Humanitäre Völkerrecht zu entwickeln: Beides existiert bereits. Die Herausforderung heute besteht darin, dem Völkerrecht vor Ort mehr Geltung zu verschaffen.

Zu diesem Zweck hat die Schweiz zusammen mit dem IKRK eine diplomatische Initiative lanciert, die mir sehr am Herzen liegt; diese Initiative soll dazu beitragen, dass Mechanismen geschaffen werden, dank denen Staaten und Kämpfende das Völkerrecht stärker beachten.

Und deshalb habe ich aus Anlass des 150-Jahr-Jubiläums der ersten Genfer Konvention vor einigen Tagen Bundeskanzlerin Angela Merkel, Präsident François Hollande, dem italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi und Präsident Barack Obama geschrieben sowie allen übrigen Staatsoberhäuptern der Staaten, die damals die erste Genfer Konvention unterzeichnet oder zur Unterzeichnung eingeladen waren. Denn ähnlich wie dies Henry Dunant vor 150 Jahren tat, müssen wir uns befleissigen, müssen wir Berge versetzen, um das Humanitäre Völkerrecht zu verteidigen.

Die Schweiz setzt sich zusammen mit dem IKRK für dieses Ziel ein; sie sucht aber auch auf die Unterstützung anderer Staaten, insbesondere derjenigen Staaten, die zusammen mit ihr hier in Genf vor 150 Jahren, das Humanitäre Völkerrecht begründet haben.

Man kann Berge versetzen, wie dies Henry Dunant tat; man kann aber auch Berge umbenennen. Vor einigen Tagen habe ich dem Kanton Wallis und der Gemeinde Zermatt einen Brief geschrieben mit dem Vorschlag, den Gründer des Roten Kreuzes zu würdigen, indem man die «Ostspitze» – eine Bergspitze, die sich unweit der Dufourspitze, einem Gipfel im Monte-Rosa-Massiv auf Schweizer Boden erhebt – umzubenennen in «Dunantspitze».

Ich würde es begrüssen, wenn der zweithöchste Punkt der Schweiz, 4632 Meter über Meer, in Zukunft den Namen des Gründers des Roten Kreuzes trägt. Zu meiner Freude hat die Gemeinde Zermatt die entsprechende Übereinkunft bereits unterzeichnet.

Liebe Schülerinnen und Schüler

Sie sehen: Krieg und Frieden, auch die Rolle der Schweiz dabei, sind wichtige Themen; wir haben es hier mit alten und gleichzeitig sehr aktuellen Fragestellungen zu tun. Als ich letzten Dezember das Projekt 1914 – 2014 lancierte, war ich weit davon, anzunehmen, dass in diesem Jahr der Krieg nach Europa zurückkehren würde!

Ich danke Ihnen für die Teilnahme an diesem Projekt, und ich beglückwünsche Sie dazu. Und ich hoffe, dass es Sie anregt und dazu bewegt, sich selbst in Ihrem Umfeld für die Werte, die unser Land ausmachen, einzusetzen, insbesondere für den Frieden.

Sie können dies durch ein gemeinnütziges Engagement tun, durch Ihre Haltung als Bürgerinnen und Bürger und – wer weiss – dereinst in Ihrem Beruf und in Ihren persönlichen und professionellen Vorhaben.

Henry Dunant hat uns gelehrt, dass das Engagement eines einzelnen Menschen enorm viel bewegen kann. Ich hoffe, dass Ihr Besuch in Genf, an einem Ort, an dem Sie den Herzschlag der Welt spüren, im Herzen der internationalen Schweiz, Ihr Interesse geweckt hat. Dass er Sie zum Nachdenken angeregt hat über die Lage der Welt und die Rolle, die die Schweiz und Sie selbst darin spielen. Sie befinden sich an einem Ort, an dem das Herz der Welt schlägt; seien Sie auch beherzt in Ihren Aktionen – und versetzen auch Sie Berge!

«Auch Ihr könnt Berge versetzen!»