Es gilt das gesprochene Wort

Wie überall gibt es auch in der Geschichtsschreibung wechselnde Moden. Wir hören heute ja auch andere Musik und kleiden uns anders als Aegidius Tschudi oder Johannes von Müller.

Der Blick auf die Geschichte ist immer auch geprägt durch den herrschenden Zeitgeist. Darum werden wir nie einen abschliessenden Forschungsstand haben; die Geschichte lebt und verändert sich mit den Generationen. Ich bin darum sehr gespannt und freue mich auf die neue Ausstellung.

Bedeutung der Geschichte

Die unterschiedlichen Interpretationen über die Jahrzehnte und Jahrhunderte zeigen uns aber doch vor allem eines: Wenn beispielsweise der Bundesbrief - oder auch andere, ähnliche Dokumente - immer wieder neu interpretiert werden, dann sind sie ganz offensichtlich von grosser Wichtigkeit. Sonst würde man sich kaum immer wieder mit ihnen beschäftigen.

Denken wir beispielsweise nur an den Aufwand, den einige Historiker in den letzten Jahren betrieben haben, um sogenannte Mythen zu widerlegen. Die Vehemenz, mit der sie die Bedeutungslosigkeit unserer Geschichte belegen wollen, belegt doch gerade deren Bedeutung.

Ich persönlich habe mich im Vorfeld meines Präsidialjahres wieder einmal etwas ausführlicher mit dem Bundesbrief und der Gründungszeit der Eidgenossenschaft auseinandergesetzt, bevor wir hier im Bundesbriefmuseum meine Neujahrsbotschaft aufgenommen haben.

Mir ist damals erneut bewusst geworden, wie aktuell diese Urkunde nach über siebenhundert Jahren noch ist. Das erstaunt vielleicht - aber nur auf den ersten Blick:

Denn der Bundesbrief ist unser Versuch, Machtstreben zu zähmen und dafür Frieden, Sicherheit und Stabilität zu gewinnen. In diesem Spannungsfeld zwischen Macht und Verständigung bewegt sich die Menschheit seit jeher - auch heute noch. Darum ist dieses alte Dokument zeitlos.

Gleichwertigkeit

Unser Land geht zurück auf eine Friedensordnung verschiedener Talschaften. Der Bundesbriefe hält diese verbindlich fest. Darin anerkannten sich diese Talschaften als gleichwertig. Ihre Abmachung regelte, wie Konflikte zwischen ihnen ohne Streit gelöst werden sollten. Sie verzichteten darauf, sich gegenseitig dominieren zu wollen.

Das ist historisch bedeutungsvoll: Es gilt damit also nicht mehr einfach das Recht des Stärkeren; es ist nicht mehr so, dass sich der Mächtige durchsetzt, wie es ihm beliebt. Die Vertragspartner sind gleichberechtigte Parteien. Sie begegnen sich auf Augenhöhe - das ist ein ganz entscheidender Schritt: Sie ersetzen Macht durch Gleichwertigkeit. Dazu stellen sie Regeln auf und legen Streitfälle einem Schiedsgericht vor. Abmachungen unter Gleichwertigen stehen somit anstelle eines Diktats des Stärkeren. Das ist der Boden, auf dem sich über die Jahrhunderte unser Bundesstaat entwickeln konnte.

Souveränität

Gleichwertigkeit und Verzicht auf Dominanz anstatt Grösse, Stärke und Macht - das wäre ja auch ein Rezept für ein friedliches Zusammenleben auf internationaler Ebene.

Und tatsächlich gibt es dort Parallelen: So ist die Gleichwertigkeit der verschiedenen Staaten eine der Lehren aus dem Dreissigjährigen Krieg. Mit dem Westfälischen Frieden von 1648 wurde diese Gleichwertigkeit der Staaten zum Grundsatz der internationalen Politik: Die Entwicklung, die damals ihren Anfang nahm, führte schliesslich zum modernen, souveränen Nationalstaat. Die Souveränität der Staaten gilt seither als Voraussetzung stabiler zwischenstaatlicher Verhältnisse. Man spricht noch heute vom Westfälischen System: Dieses beruht darauf, dass die Staaten souverän und untereinander gleichberechtigt sind.

Das hat Europa nicht den ewigen Frieden gebracht. Aber in jenen Zeiten, in denen der Grundsatz der Gleichwertigkeit beachtet wurde, hat er unserem Kontinent doch politische Stabilität verliehen und dadurch Fortschritt und Wohlstand ermöglicht.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde versucht, diese Gleichwertigkeit der Länder weltweit durchzusetzen. Die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker lag dem Völkerbund zugrunde. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es die UNO, die auf dem Prinzip der Souveränität und Gleichberechtigung aufgebaut werden sollte.

Und immer ging es im Kern um das gleiche Ziel wie damals beim Bundesbrief: Macht und Dominanz sollen durch eine Friedensordnung der Gleichwertigkeit ersetzt werden. Nicht zufällig war das immer nach grossen Kriegen der Fall, die das traurige Resultat von Machtpolitik und Dominanzstreben waren.

Es ist darum eine beängstigende Entwicklung, wenn die Mächtigen ihre Lehren vergessen, die sie früher aus den Katastrophen der Geschichte gezogen haben.

Friedensordnung Schweiz als Vorbild

Ich bin heute beunruhigt, wie sich grosse Staaten und internationale Organisationen zunehmend leichtfertig über den Grundsatz der Gleichwertigkeit hinwegsetzen. In letzter Zeit mischen sich die Mächtigen wieder öfter in die inneren Angelegenheiten kleiner Staaten ein.

Auch in der Schweiz bekommen wir das vermehrt zu spüren. Immer wieder setzt man uns unter Druck, unsere demokratisch beschlossene Staatsordnung fremden Vorgaben anzupassen. Und so wie es aussieht, werden die Forderungen immer anmassender: Mittlerweile fordert die EU von uns sogar die Übernahme fremden Rechts und fremder Richter.

Wir haben keinen Grund, den Weg zu verlassen, den wir mit dem Bundesbrief 1291 begonnen haben. Wir dürfen ruhig stolz darauf sein und unsere Werte mit mehr Selbstbewusstsein vertreten: Schliesslich wäre die Welt friedlicher, wenn sich mehr Staaten am Wesen des Bundesbriefes orientierten, wenn nämlich Völker und Staaten einander mit Respekt begegnen und als gleichwertige, souveräne Partner auf Augenhöhe miteinander verkehren würden, anstatt sich bei andern einzumischen und ihnen Forderungen zu diktieren.

Der Bundesbrief als Vorbild