Es gilt das gesprochene Wort

An der morgigen GV feiert das SRK sein 140-Jahre Jubiläum. Zu diesem Anlass gratuliere ich Ihnen recht herzlich.

Als in den 50-iger Jahren bei uns das Fernsehen aufkam und abends in den Schaufenstern der Radiogeschäfte die ersten Bilder zu sehen waren, da hat mich der Film "Solferino" gefesselt und ergriffen. Es war meine erste Begegnung mit dem Medium Television und mit der Rotkreuz-Bewegung. Seither habe ich die Idee des Henri Dunant stets anschaulich vor Augen. Sie ist aus Barmherzigkeit, Menschenliebe und Altruismus entstanden. Sie hielt Bestand gegenüber allen gesellschaftlichen, völkerrechtlichen und realpolitischen Entwicklungen. Dass sie sich deshalb zu einer weltumspannenden, professionellen, föderalen Institution verfestigte und etablierte, die noch heute humanitäre, karitative, aber auch gesundheits- und sozialpolitische Kraft besitzt, ist eine Logik und ein Segen zugleich.

Die Rotkreuz-Bewegung besitzt einen sehr hohen ethischen Wert. Sie verdient höchste Wertschätzung. Ich danke Ihnen im Namen des Bundesrates für Ihre Bereitschaft, Ihren Einsatz und Ihre Leistungen im Dienste unseres Volkes. Immer wieder durfte auch unser Land auf den Einsatz und die Hilfe des Roten Kreuzes in mannigfacher Hinsicht zählen. Umgekehrt ist unser Land aber auch so etwas wie der Gralshüter für die Bewegung mit Sitz in Genf.

Der Gedanke der Freiwilligkeit, der Ehrenamtlichkeit und des bedingungslosen Helfens ist auf das Engste mit dem Roten Kreuz verbunden. Er geniesst die Wertschätzung der ganzen Bevölkerung.

Wie aber - so fragen wir uns - kann Wertschätzung zum Ausdruck gebracht werden? Was bedeutet sie überhaupt?

Nun: es gibt zunächst einen Unterschied zwischen Wert und Wertschätzung.
Der Wert ist etwas Objektives, etwas, das wir wahrnehmen können. Der Wert wird meist in Preisen ausgedrückt. Dieser entsteht in der Regel durch Angebot und Nachfrage. Preisfindung und Preisentwicklung unterliegen mit anderen Worten Marktgesetzen oder zumindest plausiblen Überlegungen.

Die Wertschätzung ist demgegenüber etwas Subjektives, etwas, das wir eher empfinden als wahrnehmen. Wertschätzung kann sich als Dankbarkeit, als Bewunderung, als Achtung oder gar Hochachtung äussern. Wertschätzung kann aber auch mit Besitzerstolz zu tun haben und sie kann sodann eine Form von Liebe verkörpern. Vielen Menschen fällt es nicht leicht, anderen gegenüber Wertschätzung zu bekunden. Freiwilligenarbeit zu würdigen, fällt uns gelegentlich besonders schwer. Dabei sollten wir die Selbstlosigkeit als Gegenkraft zum Materialismus stärken.

Die Freiwilligenarbeit geniesst nämlich in unserem aus ländlichen und kleinstädtischen Traditionen entstandenen Land immer noch einen sehr hohen Stellenwert. Die privaten Kräfte seien geradezu die Grundlage unseres Staatsverständnisses, bekundete der langjährige Direktor der Caritas Zürich, Guido Biberstein.

Freiwilligenarbeit ist ein Zeichen der Solidarität. Es ist heute noch vielfach üblich, dass wir uns gegenseitig an die Hand gehen, sofern ein Problem im häuslichen Verbund nicht lösbar ist. Freiwilligenarbeit ist sodann ein Zeichen der Opferbereitschaft für das öffentliche Leben. Wir haben auf 7 Mio Einwohner fast 3'000 Gemeinden, 26 Kantone und den Bund, alle je mit eigenen Behörden, zusammen zehntausende von Männern und Frauen, dabei wäre unser Ländchen mit wenigen hundert begabten Köpfen durchaus regierbar. Aber die Klugheit einer Nation und die Weisheit eines Volkes sind eben nicht durch die Anzahl Köpfe definiert und schon gar nicht durch diese dividierbar.

In vielen Ämtern und bei vielen Tätigkeiten beschert Freiwilligkeit stets auch einen persönlichen Erlebniswert. Und sodann üben wir freiwillige Arbeiten oft auch mit einem Gefühl der Befriedigung aus. Aber genügt das, um auch in Zukunft genügen freiwillige Kräfte zu mobilisieren?

Im Nachgang zum UNO-Jahr der Freiwilligkeit ist im Bundesamt für Statistik 2004 ein Bericht über die Freiwilligenarbeit entstanden. Diesem sind vier Aspekte zu entnehmen:

1.   Freiwilligenarbeit besteht aus den vier Elementen: Freiwilligkeit, Unentgeltlichkeit, Einsatz für Dritte und Organisation

2.   Jede vierte Person ab 15 Jahren, das sind 1,5 Mio. Menschen, führt mindestens eine ehrenamtliche oder freiwillige Tätigkeit aus. Allein beim Schweizerischen Roten Kreuz sind 50'000 Freiwillige engagiert.

3.   Freiwillige, sprich unentgeltliche Arbeit, ist ökonomisch schwer zu beziffern.
Nach der Marktkostenmethode beträgt der Wert unbezahlter Arbeit rund 215 Mia Franken, das sind fast 60% des BIP. Nach Opportunitätskosten (also mit potentiellen Marktlöhnen) kommt man immer noch auf rund 140 Mia, was mehr als 1/3 des BIP entspricht. In beiden Fällen ist die Wertschöpfung der Frauen höher als diejenige der Männer. Beim Roten Kreuz entspricht die durch die Freiwilligen geleistete Arbeit umgerechnet 930 Vollzeitstellen oder einem Wert von über 50 Millionen Franken. 

4.   Der Milizgedanke ist in unserem Land tief verwurzelt, aber er befindet sich tendenziell auf dem Rückgang. Das hängt mit der Belastung in freiwilligen Ämtern zusammen, mit dem Druck am angestammten Arbeitsplatz, mit geändertem Freizeitverhalten, mit der Mobilität der Bevölkerung sowie mit der oft mangelnden Attraktivität der Freiwilligenarbeit.

Diese Tendenz müssen wir im Auge behalten.

Freiwilligen- und Milizarbeit hat bis heute vor allem auch mit flächendeckenden, öffentlichen Aufgaben zu tun: man spricht vom Feuerwehr-Dienst, Sozial-Dienst, Fron-Dienst. Es sind Aufgaben, die man als Dienste versteht, die aber typischerweise nicht als eigentliche Dienstleistungen betrachtet werden. In früheren Zeiten war es eine selbstverständliche Pflicht eines jeden Bürgers und eine Frage der Gerechtigkeit, Aufgaben für die Gemeinschaft zu übernehmen. Sehr viele dieser persönlich, ja eigenhändig zu erbringenden Dienste wurden im Laufe der Zeit jedoch durch Steuern und Abgaben ersetzt. Anstatt sich selber nützlich zu machen, leistet man heute als Ersatz lieber einen Geldbetrag. Man nennt diesen Vorgang "Monetarisierung". Mit der Monetarisierung ist meist gleich auch noch eine Professionalisierung verbunden; den Rest kennen Sie. Ich rufe als Beispiel die Entwicklung der Spitex-Idee in Erinnerung, die als Form der Selbsthilfe begann und die heute ein Milliarden‑Geschäft geworden ist.
Die Monetarisierung ist oft ein schleichender Prozess. Er beginnt mit symbolischen Entschädigungen, setzt sich mit Pauschalen fort und endet manchmal in eigentlichen Marktlohnstrukturen. Dementsprechend wird das praktische Erfassen des Wertes gegenüber der reinen Wertschätzung zum Thema. In der Tat werden in der freiwilligen Arbeit immer mehr Spesen-Entschädigungen gefordert, sodann Sitzungsgelder und Pauschalen, Versicherungsleistungen, ja sogar von einem "AHV-Bonus" war schon die Rede. Und wo Geld fliesst, da meldet sich - leider - der Fiskus.

Der Fiskus folgt dabei zwei volkswirtschaftlichen Überlegungen:

1.     Die Monetarisierung spielt sich vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Wandels ab. Die Schweiz ist ein Dienstleistungsland geworden. Der Anteil des Dienstleistungs‑Sektors an der Gesamtbeschäftigung beträgt rund 75%. Dabei sind 99% der Unternehmen sogenannte KMU, die im Wettbewerb der Märkte untereinander stehen. Freiwillige Dienstleistungen und Marktleistungen geraten sich ins Gehege.

2.     Staatsquote und Steuerquote sind in den letzten Jahren tendenziell gewachsen, u.a. auch infolge steigender Kosten für die Wohlfahrt. Es rechtfertigt sich, diese Branchen entweder möglichst flächendeckend in das Mehrwert-Steuersystem einzubeziehen mit der Begründung, dass Steuerzahlende und Leistungsempfänger nicht identisch sind. Die Alternative bestünde darin, die gesamte Wohlfahrt vom System auszunehmen, dafür aber Steuererhöhungen in Kauf zu nehmen. In der Realität bestehen beide Modelle.

Was bedeuten diese Entwicklungen für die Steuerzahlenden und für den Fiskus?

Freiwillige Zuwendungen werden bisher nur in Form von Geldleistungen, jedoch nicht als Arbeitsleistungen unter den allgemeinen Abzügen berücksichtigt. Auch das Steuersystem setzt damit einen Anreiz für die Monetarisierung. Deutschland zieht eine steuerfreie Aufwandpauschale in Erwägung, die den tatsächlichen Aufwand eines Freiwilligen im Dienste einer gemeinnützigen Körperschaft ausgleicht. Wir kennen einen solchen Abzug nicht. Für die gemeinnützigen Institutionen selbst ergeben sich sodann zusehends Abgrenzungsprobleme im Bereich der Mehrwert-Steuer. Diese erfasst bekanntlich vor allem auch die Dienstleistungen.

Dazu ein für Sie aktuelles und unliebsames Beispiel: Das SRK wandte sich am 7. Juni 2005 an die Eidg. Steuerrekurskommission (SRK) mit dem Anliegen, den Freiwilligen-Fahrdienst von der MWST zu befreien, wofür die Eidg. Steuerverwaltung nicht zu haben sei. Das SRK sei bemüht, menschliches Leid zu verhindern oder zu lindern, Leben zu schützen, und die Menschenwürde zu wahren. Eine breite Öffentlichkeit hätte Mühe zu verstehen, dass ein Freiwilligen-Dienst zur Vermehrung des Steuersubstrates herangezogen werde.

Der Fall ist noch nicht entschieden. Er zeigt aber: Wert und Wertschätzung können nicht nur entweder zusammengehören oder sich gleichgültig verhalten, sondern sie können sich auch widersprechen. Dieser Widerspruch tut oft dem weh, der den Wert erbringt. Er fühlt sich gering geschätzt, nicht verstanden, vielleicht gar gedemütigt.

Diese Befindlichkeiten müssen wir ernst nehmen. Denn im Bereich der Freiwilligkeit bleibt als Lohn vielfach eben "nur" die Wertschätzung. Der Volksmund weiss um diesen Sachverhalt. Der Ausdruck "Vergelt's Gott" will sagen, dass demjenigen die Gnade Gottes zufallen soll, der voraussetzungs- und bedingungslos hilft. In der Tat ist die Wertschätzung vor allem eine Haltung von Dankbarkeit und Anerkennung. Sie sollte aber auch eine Manifestation sein und sich äussern in Form von Geschenken, Vergünstigungen, Zuwendungen. Sie soll Anreize bieten.

Die Sprache des Fiskus tönt freilich anders und lautet im konkreten Fall wie folgt: "Der Fahrdienst wird nicht nur vom SRK, sondern auch von anderen gemeinnützigen Organisationen und sodann von gewöhnlichen privaten Taxis durchgeführt, welche täglich kranke, betagte und invalide Personen befördern. Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass Krankentransporte nur von der Steuer ausgenommen werden, wenn sie mit einem dafür besonders eingerichteten Transportmittel durchgeführt werden."
Aber auch im Bereiche von Subventionen und allgemeinen Beiträgen haben sich seit Beginn des neuen Jahrtausends und unter dem finanziellen Druck auf den öffentlichen Haushalt teilweise neue Kriterien herausgebildet. Der Bund strebt nach gezielten und projektbezogenen Beitragszahlungen. Zu diesem Zweck schliesst er mit den Empfängern Leistungs-Vereinbarungen ab. Auch das SRK erhält für seine vielfältigen Dienstleistungen Beiträge. Damit ist eine Wertschätzung verbunden.

Unser Land kann auf Freiwilligkeit nicht verzichten, im Gegenteil. Es gibt Gebiete, auf denen wir künftig vermehrt auf Solidarität und Fron zählen sollten. Zu denken ist an die soziale Sicherheit. Die Gesamtausgaben in diesem Bereich betrugen im Jahr 2004 rund 132 Mia. Zum Vergleich: die Gesamtausgaben des Bundes beliefen sich im gleichen Jahr auf 50 Mia Franken.

Unter den 26 europäischen Ländern steht die Schweiz bezüglich Sozialausgaben mit Norwegen an der Spitze. Länder wie Irland, Spanien, Griechenland, Portugal geben nur etwa halb soviel aus wie wir, die Oststaaten bloss etwa einen Drittel soviel. Die schweizerische Sozialausgabenquote lag 1950 noch bei 8%, heute ist sie bei 30%.
Über zwei Drittel dieser 132 Mia haben den Charakter von Geldleistungen, die keinen Bedarfsnachweis voraussetzen. Der wichtigste Leistungstyp sind dabei die Renten; sie machen 47% der Sozialleistungen aus. 21% stellen nicht bedarfsabhängige Sachleistungen dar, die grösstenteils dem Gesundheitssektor zugute kommen.
Auf diesem Gebiet, insbesondere im Pflegebereich, liessen sich mit Freiwilligenarbeit zur Stabilisierung einige Einsparungen erzielen.

Die Resolution zur Freiwilligenarbeit des Roten Kreuz und des Samariterbunds vom Samariterkongress von 1998 in Basel zielt genau in diese Richtung. Sie verdient eine anhaltende Beachtung und Vertiefung.

Es mag widersprüchlich erscheinen, den Staat in solche Bemühungen verstärkt einzubinden, und dennoch sollte er anlässlich einer Fortentwicklung der Freiwilligenarbeit die Frage prüfen, wo und wie er den Organisationen der Freiwilligenarbeit und deren Mitglieder seine Wertschätzung im Sinne von Anreizen entgegenbringen kann.

Ich komme damit zum Anfang zurück: die Rotkreuz-Idee ist aus einer konkreten Notsituation entstanden und sie hat sich weiterentwickelt. Hoffen wir, dass sich auch die Freiwilligenarbeit immer wieder erneuert. Der Staat - und damit wir alle - sind daran interessiert. Die grösste Wertschätzung gegenüber aller Freiwilligenarbeit und damit auch Ihnen gegenüber, sehr geehrte Damen und Herren, lautet: "herzlichen Dank, Sie sind unverzichtbar!"