Es gilt das gesprochene Wort.

Der NHG kommt das grosse Verdienst zu, staatspolitisch wichtige Fragen zu thematisieren. Sie und ihre Schwesterorganisationen bieten mit ihren Veranstaltungen Raum dafür, losgelöst von der Hektik des politischen Alltags über solche Fragen nachzudenken. Dazu beglückwünsche ich sie und danke für den grossen Einsatz. Ich freue mich sehr, heute Abend bei Ihnen das Wort ergreifen zu dürfen. Das Thema „Demokratie“, das Sie für Ihre heutige Veranstaltung gewählt haben, könnte aktueller nicht sein. Obwohl darüber Bibliotheken von Büchern und Artikel geschrieben worden sind, stellen sich stets wieder neue Fragen und erhält das Thema neue Dimensionen. Und seit dem letzten Dezember, für den diese Veranstaltung eigentlich geplant war, haben politische Ereignisse dem Thema zusätzliche Aktualität verliehen:

Freie und faire Wahlen haben vor kurzem in Palaestina eine Bewegung an die Macht gebracht, die Terroranschläge verübt. Im Iran droht der gewählte Präsident, Israel müsse von der Landkarte verschwinden. Der Karikaturenstreit zeigt hüben und drüben, wie Politik instrumentalisiert werden kann. Werte wie Freiheit, Toleranz und Achtung anders Denkender sind in Frage gestellt. Aber auch die Kreuzzüge der Amerikanischen Regierung im Namen von Demokratie und Freiheit verfolgen wir mit Sorge. Die Welt ist nicht so, wie wir sie gerne hätten. Wir müssen einmal mehr feststellen, dass die Freiheit auch die Möglichkeit zum Schlechten enthält und dass „Demokratien in rechtsstaatlich tadelloser Form Fehlentscheidungen fällen können“, wie dies die NZZ vom 4./5. Februar 2006 schreibt. Dies gilt für Wahlen ebenso wie für Volksabstimmungen. Dass die Demokratie auch Risiken enthält, ist eine Tatsache, der wir uns stets bewusst und deshalb achtsam sein müssen.

Aber auch die schweizerische Demokratie ist in der jüngsten Zeit vermehrt der Kritik ausgesetzt. Glaubt man den unter anderen auch in Basel stark vertretenen ökonomischen Positionen, so sind die direkt-demokratischen Rechte eine entscheidende Quelle der Blockierung, welche die Schweiz in den vergangenen 12 Jahren in eine eigentliche Wachstumsschwäche hinein manövriert haben. Es wird behauptet, dass das Referendum allzu oft ergriffen würde und damit die dringend nötigen Reformen verhindere.

Kritik am demokratischen Verfahren kommt auch aus politischen Kreisen, welche die Neutralität, Zuverlässigkeit, Effizienz und Transparenz in Frage stellen, wie jüngst rund um das Zustandekommen der Einbürgerungsinitiative. Im „Facts“ erschien daraufhin ein Artikel mit dem Titel "Pfusch-Demokratie Schweiz“! Das überparteiliche nationale Abstimmungskomitee für die am 13. Januar eingereichte Volksinitiative "für eine vernünftige Hanf-Politik mit wirksamen Jugendschutz" veröffentlichte eine Pressemitteilung mit dem Titel "Der Anfang vom Ende der Direkten Demokratie". Die Art und Weise, wie solche Kritiken mit medialer Begleitung instrumentalisiert werden, gibt zu Sorgen Anlass.
Andererseits wird die Schweiz zunehmend häufiger besucht, analysiert, um Rat angegangen in der weltweit zu beobachtenden Tendenz souveräner Staaten –auch reformfreudiger und wachstumsorientierter -, direktdemokratische Rechte einzuführen. Es ist eine sehr erfreuliche Tatsache, dass die Demokratie auf dem Vormarsch ist. Gab es 1950 noch kaum zwanzig demokratische Staaten, sind es heute wesentlich mehr als 130 und allein im Jahre 2004 gab es in der Welt gleichviel Wahlen wie in der Zeit vor dem Ende des 2. Weltkriegs. Sinnen diese Staaten alle auf Wachstumsblockade? Wohl kaum!

Wirtschaftliche Stagnation und direkte Demokratie

Die Kritiker der Referendumsblockade gehören – m.E. zu Recht – zu jenen, die weniger und schlankere Gesetze fordern. Sie wissen sehr wohl um die negativen Auswirkungen administrativer Belastungen, die für Unternehmen und die Wirtschaft mit vielen neuen Gesetzen verbunden sind. Analysiert man den tatsächlich festzustellenden Zuwachs an Referenden in den vergangenen Jahren etwas näher, so muss man feststellen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Referendumsflut und der Gesetzgebungswut. So hat sich die Zahl der Gesetzestexte in den letzten 50 Jahren mehr als verdoppelt.

Diese enorme Zunahme der Gesetzgebungstätigkeit den Volksrechten in die Schuhe zu schieben, scheint mir nicht gerechtfertigt zu sein. Verantwortlich dafür sind vielmehr die zunehmenden Verflechtung der Politikbereiche, die Komplexität der zu lösenden Probleme, die Globalisierung sowie die Anspruchs- und Absicherungsmentalität. Ins Gewicht fällt aber auch die enorme Zunahme bestens ausgerüsteter Interessenvertretung auf allen Ebenen des Staates und in allen Bereichen. Darauf möchte ich in der Folge noch näher eingehen.

Aber kommen wir zunächst zurück auf den behaupteten Zusammenhang zwischen den Volksrechten und der Wachstumsschwäche. Selbst wenn verschiedene Daten darauf hin zu deuten scheinen, müsste eine solide Analyse und ein solider Vergleich mit ausländischen Staaten sowohl hinsichtlich Wirtschaftsdaten als auch hinsichtlich institutioneller Rahmung vorgenommen werden. Beides fehlt bis jetzt bei den referendumskritischen Ökonomen. Das möchte ich ansatzweise nachholen:

Das Referendum kennzeichnet die Schweiz. Nur: Wer weiss schon, dass 132 Verfassungen souveräner Staaten, also nahezu 70% aller 195 Verfassungen souveränen Staaten eine Form des Referendums kennen? Weitaus die meisten Staaten kennen die französische Spielart des Referendums, das Präsidial- oder Parlamentsmehrheitsplebiszit. Es hat den Vorteil, dass die Regierung es allein in der Hand hat festzulegen, ob und wann ein Referendum stattfindet. Welcher dieser Staaten weisst nun eine höhere Wachstumsrate auf als die Schweiz? Antwort: Tschechien, Polen und Bulgarien – aber auf weit tieferem Niveau! Höhere, sogar deutlich höhere Wachstumsraten als die Schweiz hat auf vergleichbarem Niveau unter den Staaten mit Behördenplebiszit einzig die Bundesrepublik Österreich. Sie ist rechtzeitig der Europäischen Union beigetreten – per Volksabstimmung!

Eine andere Spielart des Referendums kennt Italien: Nur bereits in Kraft stehende Gesetze können via Referendum aufgehoben werden (referendum abrogativo). Was Walter Wittmann für die Schweiz u.a. fordert - dass Volksabstimmungen nur wirksam werden sollen, wenn die Stimmbeteiligung 50% übersteigt – ist fixer Bestandteil des italienischen Referendums und hat in den meisten osteuropäischen Staaten Schule gemacht. Die Folgen waren allerdings nicht berauschend: In Litauen z.B. hat diese 50%- Klausel das in den Jahren 1990-1995 sehr beliebte und frequentierte Referendum völlig ausser Kurs gebracht und in Serbien konnte wegen des Wahlbeteiligungsquorums von 50% in drei Wahlen kein Präsident bestellt werden. Und in Italien gewinnt die italienische Regierung seit dem Jahr 2000 Volksabstimmungen nur mehr mit dem Aufruf zum Boykott. Kann eine derart geförderte Fehlsteuerung politischer Prozesse denn noch Rechtssicherheit sowie eine nachhaltige und wirtschaftsfreundliche Entwicklung gewährleisten?

Und warum hat die Bundesrepublik Deutschland geringere, die nordischen Staaten grössere Wachstumsraten als die Schweiz? An Volksinitiative und Referendum kann es nicht liegen! Offenbar müssen doch andere Erklärungen gesucht werden: Weltweit ist zu beobachten, dass Regieren zunehmend schwieriger wird und dass sich Opposition stärker und oft wirksamer artikuliert. Was differiert, ist nicht die Opposition als Phänomen an sich, sondern die Wege, auf denen sie sich artikuliert.

Geschriebene Verfassungen werden zunehmend überlagert von einer Verfassungswirklichkeit. Auch dazu einige Beispiele: De Gaulles Verfassung war nicht für eine cohabitation gedacht; doch in den letzten 20 Jahren hat Frankreich die Hälfte der Zeit unter einer cohabitation verbracht! In der Bundesrepublik Deutschland ist die durch eine 5%-Klausel spezifisch regierbar konzipierte parlamentarische Demokratie via Länderwahlen und Sperrmechanismen in der zweiten Kammer zu einer de-facto-Zauberformelregierung geworden, und diese Tendenz wurde zusätzlich verstärkt durch das Anwachsen der Parteienzahl (Grüne) vor und nach der Wiedervereinigung (Linkspartei).

In Italien hat das Mehrheitswahlrecht die erste stabile Regierung seit dem 2. Weltkrieg gebracht, die Parteienzersplitterung hat es aber nicht beseitigt, und rechtzeitig vor den Neuwahlen und nach Verabschiedung von Medien- und Justiz-„Reform“ kehrt die Regierungsmehrheit zum Verhältniswahlrecht zurück, um eine Verlängerung derart stabiler Mehrheiten zu vereiteln, die echte Reformen hervorbringen könnte. In den Vereinigten Staaten kann sich der Präsident seit wenigen Jahren zum ersten Mal seit langem auf eine gleich orientierte Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses stützen. Die Staatsfinanzen sind deswegen nicht ins Lot gebracht worden, selbst nicht nach Ausgliederung der Militärausgaben aus dem ordentlichen Budget. Nicht weniger laufen die Staatsfinanzen in Europa – ausser in Belgien und der Slovakei – aus dem Ruder. Die neue deutsche Bundesregierung hat bereits eine Steuererhöhung beschlossen.

Demgegenüber bedarf in der Schweiz jede Steuererhöhung der Zustimmung des Souveräns, der nachweisbar das zurückhaltendste Gremium im Geldausgeben ist! Das bestätigen auch zahlreiche Studien über die Auswirkung der Demokratie auf der kantonalen Ebene. Sie zeigen auf, dass die Volksrechte zu weniger Staatsausgaben, zu weniger Verschuldung und zu tieferen Steuern geführt haben und damit zu mehr Wachstum und zu einem signifikant höheren BIP pro Kopf. Die Wirkung der jüngsten, vom Volk abgesegneten Steuerentscheide in den Kantonen Ob- und Nidwalden und Schwyz werden nicht ausbleiben.
Erwähnen möchte ich auch eine neuere, amerikanische Untersuchung zu den Wirkungen der Volksinitiative. Sie zeigt auf, dass direkte Volksrechte keine ideologische Schräglage haben, weder in die konservative noch in die liberale Richtung (John Matsunsaka). Die Wirkung der Volksrechte ist dann besonders gross, wenn sich die öffentliche Meinung zu ändern beginnt und die Politik diese Änderung nicht richtig einschätzt. Das hat sich in den jüngsten Sachabstimmungen wiederholt gezeigt.

Also doch: die Demokratie Schweiz - ein Vorzeigemodell?

Verfassung und Verfassungswirklichkeit Schweiz

Ich bin versucht, diese Frage positiv zu beantworten, nicht etwa aus einem patriotischen Gefühl heraus, sondern aufgrund der Überzeugung, dass die geforderte ökonomische Effizienz dort ihre Grenzen haben soll, wo es um Minderheiten, um Geborgenheit, Sicherheit und Heimat geht.

Das heisst nun nicht, dass dadurch der kritische Blick verstellt ist. Auch in der Schweiz hat sich nämlich – selbst unter der neuen Bundesverfassung – eine Verfassungswirklichkeit herausgebildet, die doch zu gewissen Vorbehalten Anlass gibt.

1. Der erste Vorbehalt betrifft die jüngsten Entwicklungen des demokratischen Instrumentariums. Unsere Vorväter haben dem Schweizervolk im 19. Jahrhundert die drei wichtigsten, direkt-demokratischen Rechte gegeben: Das obligatorische Verfassungsreferendum (1848), das fakultative Gesetzesreferendum (1874) und die Volksinitiative (1891). Diese wichtigen Volksrechte sind seither zwar nicht in ihren Grundzügen, wohl aber in ihrer Ausgestaltung z.T. wesentlich ausgebaut worden. Meine Vorbehalte gegenüber diesem Ausbau betreffen nicht die Einführung des Staatsvertragsreferendums (1921), des Dringlichkeitsreferendums (1949), die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für die Frauen (1971) und die Ausländerinnen und Ausländer (1966 und 1975). Bei diesen Neuerungen geht es um äusserst positive Errungenschaften. Auch die Erhöhung der Unterschriftenzahlen für Volksinitiativen und Referenden (1977), die Befristung der Unterschriftensammlung (1978), die Verkürzung der Behandlungsfristen für Volksinitiativen (1996) und die Einführung der brieflichen Stimmabgabe (1994) waren sinnvolle Anpassungen an die veränderten, gesellschaftlichen Bedingungen und gaben dem Schweizer Volk doch die Möglichkeit, zu über 600 Abstimmungsthemen Stellung zu nehmen.

Hingegen ist m.E. mit der Ausweitung des Staatsvertragsreferendums (1977/2003) und der Einführung der allgemeinen Volksinitiative (2003) über das Ziel hinausgeschossen worden. Beide öffnen neue Mitwirkungsmöglichkeiten. Mit der allgemeinen Volksinitiative ist ein Instrument geschaffen worden, das in der Umsetzung droht, äusserst kompliziert, ineffizient und kostspielig zu werden. Die entsprechenden Verfassungsbestimmungen enthalten derart viele Hürden, bis und mit Anfechtungsmöglichkeit beim Bundesgericht, dass Behörden und Volk gefordert, wenn nicht sogar überfordert sein werden. Wir bemühen uns zurzeit, eine einigermassen passable Umsetzungslösung auszuarbeiten.

Zukünftige Reformen der Volksrechte müssten nicht in einen weiteren Ausbau, sondern eher in eine Konzentration auf das Wesentliche münden. So wäre z.B. zu prüfen, ob das Gesetzesreferendum auf Vorlagen zu beschränken wäre, welche im Parlament umstritten waren. Dies wäre nicht nur ein Beitrag zur Effizienz, sondern auch ein Anreiz für das Parlament, gute Kompromisse einzugehen. Ich würde eine solche Einschränkung einer Erhöhung der Unterschriftenzahl bei weitem vorziehen.

Interessant wäre m.E. auch ein Versuch mit der Versuchsgesetzgebung. In Anlehnung an das Dringlichkeitsverfahren könnte in bestimmten Fällen zuerst Erfahrungen mit einer Problemlösung gesammelt werden. Das Volk hätte dann die Möglichkeit, aufgrund dieser Erfahrungen zu einem Gesetz Stellung zu nehmen.

Bei solchen Reformen muss jedoch auf das geachtet werden, was die ehemalige Nationalrätin und Rechtsprofessorin Suzette Sandoz etwas provokativ wie folgt auf den Punkt gebracht hat: "Gesunder Menschenverstand – und Mässigung – weiss eine Grenze zu ziehen zwischen den Bereichen, in welchen die Meinungsäusserung der Bürger erwünscht ist, und denjenigen, welche der ausschliesslichen Verantwortung der gewählten Behörden unterliegen".

2. Der zweite Vorbehalt betrifft den Gebrauch des demokratischen Instrumentariums. Eine eigentliche Schwäche unserer Demokratie sehe ich darin, dass wir zwar über intelligent konzipierte Institutionen verfügen, dass aber nicht garantiert ist, dass sie auch intelligent genutzt werden. Wie immer kommt es auf die Menschen an, die in den Institutionen tätig sind. Bei der direkten Demokratie sind dies nicht nur das Volk, das Parlament, der Bundesrat, sondern auch die Verwaltung, die politischen Parteien sowie die zahlreichen Interessengruppen der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft.

Das demokratische System der Schweiz ermöglicht auf allen Ebenen und in allen Etappen des politischen Entscheidungsprozesses ein Maximum an Partizipation. Diese Partizipation und Einflussnahme spielen sich vorwiegend jenseits der politischen Rechte ab, hängen aber natürlich damit zusammen. So haben die organisierten Interessen in verschiedenen formellen (Vernehmlassung) und informellen Verfahren die Möglichkeit, ihre Haltung einzubringen. Ich denke vor allem an deren Mitwirkung in Expertengruppen und ausserparlamentarischen Kommissionen, bei Anhörungen durch die Verwaltung und im Parlament. Ich denke auch an den in den letzten Jahren stark ausgebauten Lobbyismus, in den enorme Mittel und Energie investiert wurden. Es geht um die Frage, ob die direkten Volksrechte den Einfluss von solchen Partikularinteressen stärken oder ob sie eine bessere Vertretung des Mehrheitswillens garantieren.

Mit den jüngsten Parlamentsreformen sind auch die Mit- und Einwirkungsrechte des Parlamentes wesentlich ausgebaut worden. Dies birgt neben vielen positiven Seiten die Gefahr, dass die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zwischen den Gewalten zunehmend verwischt werden.

Viele dieser Verfahren sind wenig transparent und nicht immer zuverlässig. Meinungen werden im Verlaufe des Entscheidungsprozesses geändert, was die Aufgabe der Entscheidungsträger wesentlich erschwert und den Entscheidungsprozess verzögert. Hinzu kommt, dass viele Interventionen weniger vom Willen zur inhaltlichen Mitgestaltung und zur Übernahme von Verantwortung als vom Misstrauen geprägt sind. Und dieses Misstrauen ist für die Medien besonders attraktiv!

Zurecht weisen viele Studien darauf hin, dass unser schweizerisches System zwar sehr viel Partizipation ermöglicht, dass damit aber die Regierbarkeit eingeschränkt wird. Das mag für ruhige, problemlose Zeiten kein Problem sein. Wenn es aber grosse Probleme und Herausforderungen zu lösen gilt, müssen die Kompetenzen und Verantwortungen klar sein. Es wird in Zukunft darum gehen, nicht nur einseitig die Partizipation zu erhöhen, sondern auch die Regierbarkeit. Es wird darum gehen, die Bürgerinnen und Bürger gegenüber Interessenorganisationen nicht zu benachteiligen. Dazu sind nicht neue Gesetze und Reformen nötig, sondern eine strikte Einhaltung der gesetzlich festgeschriebenen Verfahren - und eine neue politische Kultur.

Eine weitere Schwäche bezeichnen wir in der Bundeskanzlei mit "Contraprojectitis acuta". Selbst die Basler Chemie hat dagegen noch kein Medikament entwickelt! Das Virus löst den folgenden Mechanismus aus: Um einer Volksinitiative den Wind aus den Segeln zu nehmen, haben sich die Behörden angewöhnt, zu allem und jedem einen indirekten Gegenentwurf auszuarbeiten, in dem Teile des Begehrens erfüllt werden. In fast jedem Einzelfall funktioniert die Methode. Weniger bedacht wird, dass die daraus erwachsende Anspruchsinflation als Gegenstrategie neue und noch weitergehende Forderungen auslöst (Beispiel Tierschutz). Das führte in den letzten 30 Jahren nicht nur zu einer deutlichen Zunahme von Volksinitiativen, sondern auch zu einer Zunahme der Gesetze. Auch das Ziel, dass die Initiative zurückgezogen würde, konnte in weit mehr als der Hälfte der Fälle nicht erreicht werden. Der Bundesrat hat diese Gefahr erkannt und in den letzten Jahren nur noch wenige Gegenentwürfe unterbreitet. Leider ist ihm das Parlament nicht gefolgt. Es ist dazu übergegangen, selbst solche Gegenentwürfe zu erarbeiten. Zu wünschen schiene mir, dass wir vermehrt Volksinitiativen mit einfacher Abstimmungsempfehlung Volk und Ständen unterbreiten.

Masshalten als Strategie

Ich habe versucht darzulegen, dass die Schwächen unserer Demokratie nicht in den verfassungsmässig festgeschriebenen Volksrechten liegt. Sie liegen auch nicht am Volk. Auch wenn wir davon ausgehen können, dass nicht jeder Bürger und jede Bürgerin jede Abstimmungsvorlage versteht, ist seine oder ihre Stimme ernst zu nehmen. Auch ich habe, wie wahrscheinlich die meisten Schweizerinnen und Schweizer, die bilateralen Verträge nicht alle gelesen und nicht alles verstanden, und mir trotzdem zugemutet, über die Frage abstimmen zu können. Weil unsere Demokratie hohe Anforderungen stellt, ist es wichtig, sachgerechte und verständliche Informationen zur Verfügung zu stellen. Die Behörden – allen voran der Bundesrat – müssen mit einer möglichst neutralen, objektiven und wahren Information präsent sein. Die Volksinitiative "Volkssouveränität statt Behördenpropaganda" ist vor diesem Hintergrund entschieden abzulehnen. Es ist für mich selbstverständlich, dass die Behörden mit ihrer Informationspflicht zurückhaltend umzugehen haben.

Ohne Zurückhaltung – und gelegentlich Bereitschaft zum Verzicht – kann ein demokratischer Staat auf die Dauer nicht funktionieren. "Die Demokratie ist die Kunst, sich selbst im Zaun zu halten, damit man nicht von anderen in Zaun gehalten wird" hat Georges Clémenceau diese Notwendigkeit umschrieben.

Eine Vorbildfunktion dürfen wir dabei von den Politikern und Politikerinnen erwarten. Sie tragen eine besondere Verantwortung dafür, dass die demokratischen Spielregeln eingehalten und die unserer politischen Kultur zugrunde liegenden Werte beachtet werden. Wir brauchen nicht nur ein gutes Volk, das sich für die öffentliche Sache engagiert und die Bürgerpflichten wahrnimmt. Wir brauchen vor allem gute Politiker und Politikerinnen, die die Spielregeln des demokratischen Streitens beherrschen und den politischen Gegner nicht als Feind betrachten, sondern sich bewusst sind, dass es schliesslich um eine gemeinsame Sache geht!

Wir brauchen auch gute Medien, die die kritische Auseinandersetzung mit den politischen Inhalten ins Zentrum ihrer Berichterstattung stellen. Die Medien haben nicht nur und zu Recht eine grosse Freiheit, sie haben auch eine grosse Verantwortung. Für sie gilt das Gebot der Zurückhaltung und Mässigung ebenso wie für die Politik.

Demokratie Schweiz – ein überholtes Modell?

Die direkte Demokratie ist eine geniale Erfindung. Sie erlaubt es, chronisch repetitive Revolutionen mit ihrer auch zerstörerischen Energie in permanente Evolution umzuwandeln, die Bürgerinnen und Bürger an der Macht teilhaben zu lassen und damit an den Staatsgeschäften zu interessieren.

Die schweizerische Demokratie gibt den Bürgerinnen und Bürger weit mehr Mitwirkungsrechte, als dies anderswo der Fall ist. Sie ist denn auch, zusammen mit dem Föderalismus und der Rechtsstaatlichkeit, eine wichtige Grundlage für die bisherige politische und wirtschaftliche Stabilität unseres Landes. Die trotz Wachstumsschwäche ökonomisch relevante Stärke der Schweiz ist ein gutes Stück weit der Systemfestigkeit sowie dem korrekten Umgang mit Minderheiten und den demokratischen und föderalistischen Entfaltungsmöglichkeiten zu verdanken.

Nur müssen diese Entfaltungsmöglichkeiten genutzt werden, nicht nur für das persönliche Fortkommen, sondern vor allem für die Weiterentwicklung unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Und sie werden genutzt, vielleicht nicht in spektakulären Reformen. Die Weiterentwicklung geschieht in kleinen, soliden Schritten, die leider in der Regel nicht Eingang in den Schlagzeilen der Medien finden.
Aus dieser Sicht ist die Demokratie Schweiz noch lange nicht überholt.

Ich bin mir bewusst, dass die Demokratie Schweiz oft die Geduld der Vorwärtsdrängenden auf die Probe stellt. Weniger Geduldige mögen einmal die Schweiz von heute mit jener von früher vergleichen:

1848 war die Schweiz ein entzweiter, bürgerkriegsversehrter Staat
1874 erhielt der Bund erste, kleine über den Nachtwächterstaat hinaus gehende Kompetenzen
1918 finden wir die Schweiz als kriegsverschonten und nun generalstreikgeplagten Staat
1935 ist die Schweiz in der grossen Wirtschaftskrise zum deflationsgeplagten Staat geworden
1950 ist die Schweiz auch 5 Jahre nach dem II. Weltkrieg ein durch und durch notrechtsgeprägter Staat
1970 begegnen wir einer satten Schweiz, die die Totalrevision der Bundesverfassung als intellektuelle Übung angeht und von einem Juraproblem geplagt wird
2000 ist der Jura gegründet, und die Totalrevision der Bundesverfassung erweist sich als weit mehr denn jene Nachführung, von der man gesprochen hat.

Oder eine andere kritische Anmerkung ins Stammbuch der weniger Geduldigen: Wer weiss schon, dass Volk und Stände - ach so blockadeversessen – dem Bund in den vergangenen 60 Jahren seit dem Ende des II. Weltkriegs über 30 neue Kompetenzen zugestanden haben. 2004 mussten wir mit 23 Verfassungsänderungen unter dem Titel Neuer Finanzausgleich im Paket der Föderalismusreform den Wildwuchs wieder etwas entflechten. Hatte die Referendumsdemokratie also blockiert, oder war sie vielleicht doch eher da und dort etwas zu … rasch vorangeschritten?!

Ist es nicht besser, der Stabilität und der Legitimität willen etwas mehr Zeit zu investieren. Und schliesslich gebe ich zu bedenken, dass keine Staatsform die Richtigkeit von politischen Entscheiden gewährleisten kann, so wie auch kein Staat und keine Gesellschaftsform Gerechtigkeit garantieren kann.

Dies spricht nicht gegen die Demokratie. Im Gegenteil: erst die Demokratie und ganz besonders die Referendums-Demokratie ermöglichen es auch, klüger zu werden und Fehlentscheide zu korrigieren. "Demokratie setzt die Vernunft im Volk voraus, die sie erst hervorbringen soll" hat Karl Jaspers gesagt. Aber wer nennt mir den Monarchen – oder gar den Diktator! – der stets vernünftige Entscheide gefällt hätte? Fällt in einer direkten Demokratie einmal ein Fehlentscheid, so haben jene, die ihn auszubaden haben, wenigstens auch die Möglichkeit gehabt, beim Entscheid mitzuwirken. Sie konnten also vorbeugen. Diese Vorbeugekompetenz ist das unverwechselbare Gütezeichen direkter Demokratie. Johann Wolfgang von Goethe ist dem ein unverdächtiger Zeuge mit seinem Wort: "Die Demokratie rennt nicht; aber sie kommt sicherer zum Ziel."

Demokratie Schweiz – Vorzeigeobjekt oder überholtes Modell