Es gilt das gesprochene Wort.

Der Aufbruch, den wir heute feiern, hatte einen hohen Preis. Auch 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind wir von tiefer Dankbarkeit erfüllt, all denen gegenüber, die diesen Preis bezahlt haben, die mit dem Einsatz ihres Lebens Europa vom Terror des Totalitarismus befreit und den Grundwerten wieder Raum geschaffen haben.

Ich bin deshalb froh, dass neben Winston Churchill, der geistig im Zentrum dieser Konferenz steht, auch Dr. Henry Kissinger unter uns ist, ein besonders herausragender Vertreter der U.S.A., die mit ihrem militärischen Einsatz und dem Marshall - Plan entscheidend zum Sieg und zum Frieden beigetragen haben.

Als Churchill vor 59 Jahren hier in Zürich seine denkwürdige Rede hielt, sah die Welt in einem von uns nicht mehr fassbaren Mass anders aus. Grosse Teile waren vom Krieg zerfetzt. Die Menschen waren noch völlig benommen von der ungeheuren Zahl der Opfer, die er gefordert und von der unendlichen Zerstörung, die er angerichtet hatte. Sie waren zutiefst erschüttert und gelähmt vom Blick in die schaurigen Abgründe, die der Totalitarismus aufgerissen hatte. Viele hatten ihre ganze Lebenszuversicht, ihren Glauben an das Gute und an den Menschen und die von ihm geschaffenen Institutionen verloren. Der Verdammte in Michelangelos Gemälde des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle, der, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand und mit dem andern ins Grauen starrend, hinabstürzt von Verzweiflung zu Verzweiflung – so hat Thomas Mann das Ende Hitlerdeutschlands gesehen.

Und da spricht Churchill von Verzeihung, von Vertrauen und vom Zusammenwachsen der europäischen Völker zu einer grossen, glücklichen Familie. Dr. Kissinger weiss wohl wie kein anderer von uns, welche seelische Grösse und welchen Mut es brauchte, damals, nach den schlimmsten kriegerischen Auseinandersetzungen der Geschichte, von faith und oblivion zu sprechen.

Von der offiziellen Politik wurde die Rede denn auch vorerst mit einiger Distanziertheit aufgenommen. Für die Menschen aber war sie, um mit Helmut Schmidt zu sprechen, „eine fast unglaubliche Nachricht“. Sie war ein Fanal zum Aufbruch, eine Vision, die die Menschen aus der Schreckensstarre löste. Sie war nach der Befreiung Europas auf dem Schlachtfeld ein Akt geistiger Befreiung.

Jahr für Jahr hat die Kraft dieser Vision Wirklichkeit geschaffen und Europa die längste Friedenszeit seiner Geschichte gebracht. Jahr für Jahr ist denn auch Churchills Zürcher Rede mehr Autorität zugewachsen, sodass heute viele Politiker der Versuchung erliegen, sie zu instrumentalisieren, indem sie ihre eigenen politischen Vorstellungen, wie Europa auszusehen habe, mit Churchills Autorität untermauern.

Gemeinsame Werte zuerst

Churchill aber hat 1946 für Europa kein „detailed programme“, vorgezeichnet, denn er war sich bewusst: Die Strukturen und Organisationsformen müssen alle Beteiligten in einem langen, mit Geduld, Sorgfalt und Fairness geführten Prozess selber erarbeiten.

Churchill begnügte sich mit dem Bild einer glücklichen Familie. Glückliche Familien gibt es in den unterschiedlichsten Formen. Gemeinsam ist ihnen aber immer, dass sich die Familienmitglieder gegenseitig respektieren. In einer glücklichen Familie gibt es keine verletzende Bevormundung.
Und in einer glücklichen Familie schliesslich gibt es keinen Ausschluss. Wer einen Fehler begeht, wird dafür zwar bestraft – "the gilty must be punished", sagte Churchill – aber er wird nicht verdammt, jeder kann der Verzeihung gewiss sein und darauf, dass ihm die andern Vertrauen schenken. "There must be this act of faith in the European Family", ermahnte Churchill.

Die Grundwerte einer glücklichen Familie vermitteln eine solide Lebenszuversicht und bieten jedem einzelnen Mitglied die Grundlage, auf der es seine Kräfte voll entfalten kann. Das ist, worauf es ankommt. Und das ist es auch, was wir uns selbst in mühsamen und langwierigen politischen Verhandlungen immer wieder vor Augen halten sollten.

Voneinander Lernen

Winston Churchill hat seine Vision von einem friedlichen Europa wohl nicht ohne Absicht hier in der Schweiz skizziert. Die Schweiz ist durch ihre Sprachgemeinschaften sehr eng mit grossen europäischen Kulturen verbunden. Manche sehen in ihr sogar ein Vorbild für den Bau Europas. Ich glaube nicht, dass eine Helvetisierung Europas auch nur zur Diskussion stehen kann. Die Formen des Zusammenlebens müssen, wie bereits gesagt, von den Beteiligten gemeinsam erarbeitet werden. Aber wir können gegenseitig aus unseren Erfahrungen lernen.

Kraft und Noblesse des Föderalismus

Die Schweiz hat z.B. die Erfahrung gemacht, wie recht Winston Churchill hatte, als er sagte: "Small nations will count as much as large ones and gain their honour by their contribution to the common cause”. Gut gelebter Föderalismus ist in der Tat fähig, einen fruchtbaren, dynamischen Ausgleich zu finden zwischen gross und klein, wirtschaftlich stark und wirtschaftlich schwach, zwischen Stadt und Land, Flachland und Berggebiet, zwischen Mitte und Rand.

Erfahrung haben wir auch in der Teilung der Macht. Es ist den Schweizer Kantonen bei der Gründung des Bundesstaates recht schwer gefallen, einen Teil ihrer Macht an den Bund abzugeben. Aber die Pessimisten, die damals von Verlust und Selbstaufgabe sprachen, behielten nicht recht. Die Kantone haben vielmehr erfahren, dass die Betonung der Gemeinsamkeit die Kraft und den Gewinn jedes einzelnen verstärkte. Auch von Selbstaufgabe war rasch keine Rede mehr. Die Zürcher sind durchaus Zürcher geblieben, die Waadtländer Waadtländer und die Tessiner Tessiner. Alle haben sie ihren Charakter und ihre Identität gewahrt.

Wenn das Volk das letzte Wort hat

Teilung der Macht heisst für die Schweiz auch, das Volk auf allen Ebenen des Staates in den politischen Entscheidungsprozess mit einzubeziehen. Als in Frankreich und in den Niederlanden das Volk sich gegen den Entwurf für eine europäische Verfassung entschied, breiteten sich weit herum Katerstimmung und Resignation aus. Erstaunen konnte das allerdings nicht, hatten doch die Regierungen für den Fall einer Ablehnung mit eigentlichen Katastrophenszenarios gedroht.

Wir Schweizer können in einem negativen Volksentscheid keine Katastrophe erkennen, sondern haben im Verlauf der über 150-jährigen Geschichte unserer Demokratie gelernt, auch mit einer Ablehnung einer Vorlage durch das Volk umzugehen. Es gehört nun einmal zum Wesen der Referendumsdemokratie, dass das Volk nein sagen kann und hin und wieder auch mal nein sagt. Ein Nein heisst übrigens nicht, eine Vorlage sei total untauglich. Meist bedeutet es einen Auftrag, die Vorlage in neuer Auseinandersetzung mit dem Volk zu optimieren.

Die Referendumsdemokratie ist vielleicht nicht ohne weiteres zu ganz grossen Würfen fähig – was auch in der Schweiz ab und zu bemängelt wird. Sie verträgt es schlecht, wenn der Abstand vom Sein zum Sollen zu gross gewählt wird. Sie liebt die kleinen Schritte, dafür aber ist sie grundsolid. In der Geschichte unserer Referendumsdemokratie haben Regierung und Parlament das Volk in der politischen Auseinandersetzung immer wieder als valablen Partner erfahren. Vielleicht ist es manchmal etwas langsam – wir mussten für das Frauenstimm- und Wahlrecht drei Anläufe nehmen – aber es ist durchaus in der Lage, auch sehr komplexe Vorlagen zu beurteilen. Politiker sind deshalb gut beraten, wenn sie sich in dieser Hinsicht mit Bescheidenheit ausstatten. Dass heisst nun aber nicht, dass sie keine Visionen haben und Leadership übernehmen sollten – ganz im Gegenteil!

Alles in allem: Das Nein der Franzosen und der Holländer zum Entwurf einer EU-Verfassung ist aus meiner Sicht bei weitem kein Grund zur Resignation, vielmehr kann es auch als Qualitätszeichen der französischen und niederländischen Demokratie verstanden werden.

Mehr Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger

Je mehr Europa sich von einer wirtschaftlichen zu einer politischen Gemeinschaft entwickelt, desto mehr ist es auf die Mitwirkung wacher Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Lassen Sie mich dazu Folgendes sagen: Ein grosser Teil der gegenwärtigen Bevölkerung im westlichen Europa ist unter ganz anderen Bedingungen aufgewachsen als unsere Jugend. Für die allermeisten war die Sicherheit des Arbeitsplatzes gegeben, die Altersvorsorge galt als perfekt gesichert, und das Gesundheitswesen erschien stabil und allen Herausforderungen gewachsen.

Die Vorstellung einer auf immer gesicherten Wohlfahrt hat uns politisch träge werden lassen und uns dazu verleitet, viele persönliche Entscheidungen an eine perfekte, aber mehr oder weniger anonyme Verwaltung und an den Staat abzugeben. Innert weniger Jahre aber ist dieses Sicherheitsgebäude ins Wanken geraten. Es fehlten plötzlich Massen von Arbeitsplätzen, die demographische Entwicklung führte zu einer Explosion der Kosten bei den Sozialversicherungen und machte deutlich, dass eine auch noch so sicher konzipierte Altersvorsorge leicht aus der Balance gebracht werden kann. Verunsicherung griff um sich, und sie wurde noch dadurch verstärkt, dass vielen die Globalisierung auch als Desolidarisierung erschien. Wir mussten lernen und müssen es immer noch: Wohlstand und Sicherheit lassen sich nicht einfach verwalten, sie müssen, Generation für Generation, immer wieder neu geschaffen werden.

Die Menschen haben auf diese Entwicklung indes nicht nur mit Verunsicherung reagiert, sondern auch mit einer neuen Wachheit und dem Willen, an der Gestaltung des Lebens unmittelbarer mitzuwirken. Es ist wohl kein Zufall, dass die chinesische Sprache für das Wort Krise das gleiche Schriftzeichen verwendet wie für das Wort Chance. Die Krise bricht jede Festung der Selbstgenügsamkeit und Selbstzufriedenheit, in der wir uns selbst gefangen halten, auf und macht uns den Weg frei.

Diese Entwicklung ist eine gute Voraussetzung für einen intensiveren Dialog zwischen Regierungen und Volk, und es wäre zu wünschen, dass sie breit genutzt wird – auch von der EU -, um die Distanz der Behörden zum Volk zu verringern.

Wir brauchen eine demokratiefähige Sprache

Ein breit geführter demokratischer Meinungsbildungsprozess ist aber nur möglich auf der Grundlage einer klaren, ehrlichen, einfachen und verständlichen Sprache. Schon Konfuzius hat es gesagt: "Das Volk muss wissen, wohin es Hand und Fuss setzen soll". Das gilt für die Art und Weise, wie Politiker und Politikerinnen kommunizieren, ebenso wie für die Sprache der Gesetzgebung.

Auf die politische Kommunikation möchte ich mich heute nicht einlassen. Erlauben Sie mir aber doch, die Bedeutung einer verständlichen Gesetzgebung für die Demokratie zu unterstreichen. Ich tue dies, weil in diesem Bereich erheblich gesündigt wird. Auch die EU muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass ihre Sprache in der Regel überhaupt nicht verständlich ist, dass sie sich in bürokratischem Eifer ins letzte Detail verliert und selbst für Spezialisten nicht überschaubar ist.
Die EU hat das Problem zwar durchaus erkannt und hat eine „interinstitutionelle Vereinbarung über die redaktionelle Qualität ihrer Rechtsakte“ – verstehen sie, was damit gemeint ist? - getroffen. Da stehen ausgezeichnete Grundsätze drin. Aber leider ist diese Vereinbarung bis heute toter Buchstabe geblieben.

Wenn die EU aber zu einem lebendigen Dialog mit dem Volk kommen und dieses in die Lösungssuche einbeziehen will, muss sie zu einer demokratiefähigen Sprache kommen. Ich betrachte dies als eine ihrer grossen Herausforderungen. Verständliche Sprache ist der Atem der Demokratie.

Wir sind denn auch glücklich, dass sich die EU für unsere, in langjähriger Praxis erarbeiteten Methoden und Verfahren, die nicht zuletzt von der Mehrsprachigkeit geprägt sind, interessiert und die Bundeskanzlei in Brüssel mitwirken kann.

Was kann die Schweiz von der EU lernen?

Was kann die Schweiz von der EU lernen?
So seltsam es klingt: Die Schweiz könnte von der Europäischen Gemeinschaft lernen, sich auf ihre eigene Geschichte zurückzubesinnen, auf die Zeit von 1848, als sie sich ihre erste Verfassung gab. Die Probleme, die divergierenden Interessen, die Sorgen und Ängste, die die Kantone damals überwinden mussten, gleichen in Vielem dem, was die EU-Staaten und die Staaten, die der Gemeinschaft beitreten wollen, heute durchzustehen haben. Die Kantone, die damals eben noch Krieg gegeneinander geführt hatten, beseitigten jetzt Zölle, schufen eine kaum überschaubare Zahl von Währungen zugunsten einer Einheitswährung ab, sie vereinheitlichten das Postwesen, schufen eine gemeinsame Armee und übergaben dem Bund neben zahlreichen Kompetenzen die Aussenpolitik.

Und sie haben diese Verfassung, die sie an die Spitze der demokratischen Bewegung brachte, in weniger als einem Jahr erarbeitet – eine gewaltige Leistung. Es ist gut, wenn wir uns heute wieder bewusst machen, dass wir all das, was die Schweiz befähigte, sich zu einem prosperierenden Land zu entwickeln, und vieles von dem, worauf wir heute stolz sind, dem beispielhaften Mut und dem unternehmerischen Sinn unserer Vorfahren verdanken.

Es tut dieser Leistung keinen Abbruch, wenn ich darauf hinweise, dass die Verfassung von 1848 ohne den intensiven Austausch mit der politischen Kultur Frankreichs und der Vereinigten Staaten in dieser Form wohl kaum zustande gekommen wäre.

So ist auch der ganze Austausch zwischen der Schweiz und der EU ein grosser Lernprozess. Wir verdanken der EU nebst vielem Anderem die Fortentwicklung wichtiger Teile unseres Rechts. Wir sagen das zwar nicht so direkt, sondern verwenden dafür den seltsam widersprüchlichen Ausdruck autonomer Nachvollzug, den man auch als ein zu Sprache gewordenes Augenzwinkern bezeichnen könnte.

Im Dschungel der Details das Ganze nicht aus den Augen verlieren

Meine Damen und Herren, Europa ist eine Grossbaustelle der Demokratie. Gebaut wird an einem Gebäude, dessen Plan sich im Bauprozess ständig verändert, um neuen Gegebenheiten und Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Das Leben auf einer Grossbaustelle ist oft hart und mühsam. Man kann sich in Details verheddern, oft klappt es mit der Zufuhr von Material nicht so, wie man es sich vorgestellt hat, und man ist verschiedensten Witterungen ausgesetzt. Da ist es gut, sich immer wieder an einer Vision orientieren zu können, die klar zeigt, worauf es letztlich ankommt. Diese Vision hat Churchill uns vor 60 Jahren gegeben. Wir sind ihm dankbar dafür und bauen weiter.

Ansprache von Bundeskanzlerin A. Huber-Hotz am Churchill - Symposium