Der Reihenfolge dieses Ansprachereigens ging ein gewaltiger diplomatischer Disput zwischen unseren beiden Ländern voraus. Wer spricht zuerst, wer zuletzt? Wer muss zuerst, wer darf zuletzt? Oder: Wer darf zuerst, wer muss zuletzt?

Nach dem deutschen Protokoll spricht der Ranghöchste zuerst.

Nach Protokoll der schweizerischen Diplomatie spricht aber der Bundespräsident immer zuletzt.

(Das haben wir deswegen so eingerichtet, dass ihm nachher niemand mehr widersprechen kann.)

Es ging nun darum, zu entscheiden, ob das deutsche oder das schweizerische Protokoll zum Zug kommt.

Deutschland hätte gerne auf die Schweiz Rücksicht genommen und unseren Präsidenten zuerst sprechen lassen.

Die Schweiz hätte gerne dem deutschen Bundesminister die Ehre erweisen wollen und ihn am Schluss sprechen lassen. Wessen Rücksicht auf wen geht vor?

Es folgten bilaterale protokollarische Noten, Verhandlungen zwischen gemeinsamen Zeremonienmeisterausschüssen hüben und drüben des Rheins und Krisenkommissionssitzungen und es wurde schliesslich die heutige Reihenfolge gefunden.

Und siehe da: Die gefundene Lösung ist beidseits ideal:

Sie kommen zum Zug.
Wir kommen zum Zug.

Es ist wie bei einer Speisekarte, die auf deutsch und arabisch geschrieben ist: Deutsch von links nach rechts und auf gleicher Höhe, spiegelgleich, Arabisch von rechts nach links.

Die Deutschsprechenden denken: Unsere Sprache kommt zuerst, wir beginnen links.

Die Araber denken: Unsere Schrift kommt zuerst, nämlich rechts. Beiden ist gleichermassen gedient.

Wir müssen nur nicht falsche Hemmungen haben. Wir müssen nur nicht immer in erster Linie auf das Trennende, auf die Grenze starren, und St. Florian anrufen, sondern wir müssen die Probleme nach den Kriterien der grenzüberschreitenden Vernunft entwickeln. Dann wird es ganz einfach und es ist uns beiden gedient.

Ich weiss, ganz so einfach ist es nicht immer.

Einige Steinwürfe von hier, in Laufenburg, bauten unsere beiden Länder zusammen eine Brücke über den Rhein und zwar nach gemeinsam errechneten objektiven Kriterien.

Auf beiden Seiten des Rheins wurde gebaut. Als die beiden Hälften hätten vereinigt werden sollen, ergab sich ein Höhenunterschied von einem halben Meter.

Ein Rätsel.

Die Zahlen stimmten, aber die Differenz blieb.

Der Oberexperte aus Deutschland reiste verzweifelt in die Ferien zu seiner Fraktion in die Toskana am Mittelmeer, derjenige aus der Schweiz nach Sylt, an die Nordsee. Das brachte die Wahrheit an den Tag:

Es lag an der Meereshöhe. Wir in der Schweiz berechnen sie ab dem Mittelmeer, Sie in Deutschland berechnen sie ab der Nordsee.

Nicht einmal mehr auf die Tiefe des Meeresspiegels kann man sich verlassen. Das nächste Mal werden wir im Vertrag genauer sein und festhalten: Wir berechnen die Meereshöhe nach dem Tiefensee.

Die Brücke von Laufenburg zeigt: Es gibt manchmal auch Grenzen der Verständigung, die wir im Eifer um Objektivität übersehen, zu Unrecht übersehen.

Wir müssen also mit Rücksicht auf die Fakten und die jeweiligen Interessen aller Betroffenen entscheiden, unabhängig davon, auf welcher Seite der Grenze sie sich gerade befinden.

Das ist nicht immer leicht. Das zeigt schon die Entstehung dieser Brücke:

Was sind die Interessen der Betroffenen?

Rheinfelden wurde damals durch seine Brücke stark und mit ihm die Region.
Doch das führte zu so viel Verkehr, dass die Bewohner dies- und jenseits der Grenze nach  Entlastung ausserhalb der Stadt verlangten.
Dasselbe spielte sich in Basel ab.
Das rief die Umweltschützer auf den Plan. Sie warnten, dass die  neue Verbindung noch mehr Verkehr bringen werde.
Die Differenzen wurden aufgelistet und führten zu einem 12 Punkte - Katalog, der wiederum
zu einem Mediationsverfahren führte, das schliesslich
die neue Brücke und den heutigen Tag ermöglichte.
Deswegen sind wir nun da, gemeinsam, einen Kompromiss einweihend. Es hat vierzig Jahre gedauert bis zu diesem Moment. Könnte die Geschichte dieser Brücke nicht auch die Brücke zur Lösung anderer gemeinsamer Herausforderungen sein?

Wir sind Nachbarn und zwischen Nachbarn gibt es nun mal immer wieder Probleme.

Einige haben wir gelöst:

Die Schweizer Bauern, die auf deutschem Boden wirtschaften, ein Problem, das wir gemeinsam lösen konnten,
und die Zollfreistrasse, das Resultat einer nachbarschaftlichen Vereinbarung, die eingehalten werden muss und die eingehalten wird.
Andere werden wir lösen: Das Endlager für atomare Abfälle, der Bypass Basel, der Verlauf der A98 und der Flughafen Zürich.

Zu den nuklearen Abfällen

Es ist für uns selbstverständlich, dass wir unsere Nachbarn in Deutschland und Österreich in die Arbeiten am Sachplan und zur Standortfrage eines nuklearen Endlagers einbeziehen. Die Landesgrenze soll dabei keine Rolle spielen. Das steht sogar in unserem Gesetz, die Nachbarn haben die gleichen Mitspracherechte wie die Schweizerinnen und Schweizer. Es kommt für uns überhaupt nicht in Frage, dass wir eine Lösung zulasten unserer Nachbarn anstreben.

Und dieses Prinzip muss doch auch bei allen anderen grenzüberschreitenden Problemen gelten.

Bypass Basel

Diese Brücke entstand auch, weil sich einige erfolgreich gegen mehr Verkehr in Rheinfelden gewehrt haben. Das tun auch andere.

Die Brücke von heute weckt ja auch Ängste über eine Zunahme des Lastwagenverkehrs auf der Nord-Südachse.

Er nimmt zu, und da gibt es nur eine Lösung: möglichst viel auf der Schiene  transportieren. Das funktioniert auch und deshalb wird es der Bahn in Basel zu eng.

Wegen der Grenze - und ihrer damaligen Bedeutung - muss sie sich durch zwei Bahnhöfe und über eine schmale Brücke zwängen. Es droht der Verkehrsinfarkt. Deshalb braucht es einen Bypass. Das ist die Lösung der Bahnen Frankreichs, Deutschlands und der Schweiz, die sie nach vernünftigen Kriterien gemeinsam erarbeitet haben, so wie wir das hier in Rheinfelden ebenso gemeinsam gemacht haben.

Die Brücke, die wir heute einweihen, ist ein Zubringer zur A 98. Die Diskussion über den weiteren Verlauf dieser deutschen Autobahn kommt  seit Jahren nicht weiter, unter anderem weil die vorgesehene Linienführung mit der Grenze in Konflikt kommt. Da gilt es, nach Kriterien der Vernunft zu suchen, so wie das für die anderen gemeinsamen Probleme auch getan werden muss.

Wir leben in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum, tauschen uns aus, profitieren je von den Angeboten, die wir uns gegenseitig über die Grenze hinweg machen.

Dabei spielt der Flughafen Zürich eine wichtige Rolle – ob als Verbindung in die ganze Welt oder als Wirtschaftsmotor für den ganzen Raum, auf beiden Seiten des Rheins. Er ist unter scharfem Konkurrenzdruck – nicht zuletzt von Frankfurt und München.

Wenn in Zürich die An- und Abflüge mehrmals täglich umgestellt werden müssen und die Kapazitäten nicht ausgeschöpft werden können, steigen die Kosten. Das könnte den Flughafen letztlich gefährden – und uns allen schaden.

Wir müssen auch bei dieser ganz schwierigen Frage Lösungen nach den Kriterien der Vernunft und unabhängig von der Grenze finden – für den Nutzen und die Lasten des Flughafens.

Wer von einer Infrastruktur profitiert, muss auch bereit sein, den Lärm mitzutragen, ob das nun eine Strasse, eine Eisenbahn oder ein Flughafen sei.

Da kann es doch keinen Unterschied machen, ob der von Fluglärm Belastete in einem Villenquartier oder in einer Arbeitersiedlung wohnt.

Da kann es doch auch keinen Unterschied machen, ob da eine Kantons- oder Landesgrenze dazwischen ist.

Die Kriterien der Vernunft können doch nicht plötzlich angesichts eines Grenzsteines begraben werden.

Die Lösung sollten wir im Gespräch finden, nicht im Diktat und nicht im Streit vor Gericht.

Das ist nicht immer leicht. Manchmal haben wir ja schon Mühe, uns auf eine gemeinsame Bewertung zu einigen.

Denken Sie an die Schulnoten. Bei uns ist die Sechs die Höchstnote, jenseits der Grenze ist es die Eins. Das hat schon zu schrecklichen Irrtümern geführt. Deswegen geht in Deutschland die Mär, Albert Einstein sei ein schlechter Schüler gewesen, weil er lauter Fünfer und Sechser hatte. Ich will hier festhalten: Er war ein guter Schüler, er ist nämlich in der Schweiz zur Schule gegangen.

Für die Rheinbrücke, vor der wir heute stehen, wurde ein 12-Punkte Katalog erstellt, der schliesslich zum Ziel führte. Um die Probleme des Endlagers, des Bypasses in Basel, der A 98 und des Flughafens Kloten zu lösen, müssen wir wohl einen Forderungskatalog von 1200 Punkten abarbeiten.

Aber das soll uns nicht entmutigen. Wir haben eine Lösung für die neue Brücke in Rheinfelden gefunden, mit der alle leben können. Genau so werden wir auch für die anderen Fragen Formeln finden.

Lieber greifen wir auf Albert Einstein zurück als auf St. Florian.

Er hilft sowieso immer nur den andern.

Wr aber begreifen Schwierigkeiten als gemeinsame Probleme. Dann kommen wir auch zu Kompromisslösungen wie zur heutigen Rheinbrücke oder zu Reihenfolge des heutigen Redereigens.

Es freut mich, dass ich als letzter sprechen durfte.

Unter Nachbarn