Wir Deutschschweizer nennen das Tessin oft die Sonnenstube der Schweiz. Viele suchen hier die Sonne, die sie zuhause vermissen.

Aber ein Mal im Jahr – immer im August -  kommen Menschen  nach Locarno, die kommen nicht wegen der Sonne, sondern sie suchen die Dunkelheit auf: Sie stehen in gleissender Sonne Schlange, um in die Dunkelheit der Kinosäle zu gelangen. Sie können die Finsternis kaum erwarten und sind ungeduldig, bis endlich alle Lichter auf der Piazza gelöscht sind (auch diejenigen des Postgebäudes), damit sie sich der schwarzen Nacht hingeben können. Es gibt viele Leute, die verachten die Sonne auf der Piazza und wollen sich nur vom Licht der Filmprojektoren bezaubern lassen. Sie lassen nur gerade ihre Kleider auf den Stühlen liegen. Sie kehren erst wieder zu ihren Jacken und Pullovern, wenn es dunkel ist- aber da sind die Kleider neuerdings schon weggeräumt.

Diese Anbetung der Dunkelheit gab es schon beim ersten Filmfestival vor 59 Jahren im Garten des Grand Hotels. Die Sonne war untergegangen, es wurde dunkel, der Projektor wurde angeworfen. Und  was für ein Film wurde gezeigt? „O sole mio“ von Giacomo Gentiluomo.

Es gibt eben während des Festivals nur eine Sonne in Locarno, die Sonne des Filmes. Sogar der Präsident heisst Solari.

Die Sonne aller schweizerischen Kulturereignisse, welche weit über unsere Landesgrenzen strahlt,  findet hier in Locarno statt.
 
Das heisst zunächst: Die schweizerische Kulturpolitik ist nicht ein Sonnensystem, wo sich alle Planeten um das Zentrum Genf oder Zürich drehen. Schweizerische Kultur lebt davon, dass es keine Leitkultur gibt.
 
Es ist sodann auch kein ein Zufall, dass sich dieses Festival des internationalen Kulturaustausches hier in der italienischsprachigen Schweiz entwickelt hat.

Zunächst tut hier offensichtlich der genius loci seine Wirkung. Hier wurden viele Architekten von der Muse geküsst: Die berühmten Architekten Snozzi, Vacchini und ein gewisser bis jetzt nicht so bekannter Leonardo da Vinci. Er schuf den Rivellino. Bereits gibt es darüber einen Film: „Der da Vinci Code von Locarno.“ Auf der Piazza kann er nicht gezeigt werden, weil er zu teuer ist.

Der Tessin bildet eine kulturelle und sprachliche Minderheit. Das sehen wir ja schon an den Abstimmungsresultaten. Die Tessiner stimmen immer gegen die Parolen des Bundesrates und des Parlamentes. Da nützen die besten Überredungskünste am Fernsehen nichts. Ich rechne also damit, dieser Geist des Widerspruches erfolge konsequent - auch bei der nächsten Abstimmung über das Asylgesetz...

Doch die Bedeutung einer sprachlichen Minderheit hat eine grössere politische Dimension. Wir gelten als Land mit vier Sprachen. Jeder könne im Parlament in seiner eigenen Sprache sprechen, heisst es. Die Wahrheit ist nüchterner. Tessiner Politikerinnen und Politiker haben es in Bern nicht leicht: Sie müssen besonders sprachgewandt sein. Sie können sich nicht damit begnügen, in ihrer Muttersprache zu sprechen. Das verletzt zwar das Recht auf Muttersprache, das ein Menschenrecht sein sollte. Aber es ist eine Realität:

Es ist sehr schwierig, die Finessen einer anderen Sprache zu lernen. Ich habe mich ans Italienische erst als Bundesrat gewagt. Vor 10 Jahren war ich in Chiasso und sagte dort: „Schiasso e und zitta schpeziale“. Man korrigiert mich: Chiasso e una città speciale“. Und als ich nach Locarno kam wollte ich das anwenden und sagte „Locarno e molto speciale.“ Und da korrigierte man mich wieder: Es heisst: „Locarno  e und città esclusivamente speziali“.

Wer in einer sprachlichern Minderheit aufwächst, muss weitere Sprachen erlernen, wenn er verstanden werden will.  Er ist gezwungen, sich in die Sprache und damit in das Denken der anderen einzufühlen und das ist ein grosser intellektueller und moralischer Wert.

Der Kanton Tessin ist fähig, diese Erkenntnisse auch befruchtend zu verwenden. Der Sprachunterricht geniesst einen hohen Stellenwert und das hat mit der eigenen Minderheitssituation zu tun. Bei der Integration ausländischer Schüler sind die Tessiner erfolgreich:  Flüchtlingskinder aus dem Balkan konnten sich besser integrieren als in der übrigen Schweiz.

Wer eine andere Sprache erlernt, schafft die Grundlage eines Dialoges, nämlich nicht nur zu sprechen, sondern auch verstehen zu wollen. Verstehen wollen, um verstanden zu werden, das ist das Wesen des Dialogs.

Wer hingegen in der Sprache der Mehrheit aufwächst und es damit bewenden lässt in der überlegenen Gewissheit, dass sich das Gegenüber ihm anzupassen hat, weiss nicht, was ein Dialog ist.

Stets hat der Geist des Dialoges das Filmfestival von Locarno geprägt. In Locarno stand immer der Film und seine kulturelle Botschaft im Mittelpunkt. Mitten im Kalten Krieg öffnete Locarno ein Fenster nach Osten und zeigte Filme aus Osteuropa und aus der Sowjetunion. Später sahen wir hier Filme aus so genannten Entwicklungsländern und aus Palästina, Israel und dem Libanon. So leistete dieser Hort kultureller Auseinandersetzung immer auch Zeichen für einen Dialog und zum Frieden. Was haben wir denn im Nahostkonflikt für eine andere Hoffnung als den Dialog? Keine. Und gerade wegen der Ohnmacht, die uns alle erfasst, wenn wir das skandalöse Elend im nahen Osten sehen müssen, wollen und müssen wir an der einzigen Hoffnung arbeiten, nämlich am Dialog der Religionen und Kulturen. 

Wer sich nicht in eine andere  Kultur hineinfühlen kann, wer in einer anderen Kultur oder Religion nur das Böse sieht, wer nur in Kategorien des Entweder - Oder, von Schwarz oder Weiss, Gut oder Böse denkt, kann keinen Dialog führen. Er monologisiert an seinem Gegenüber vorbei. Das kann zu Autismus und imperialistischem Verhalten führen, ich meine nicht nur Sprachimperialismus.

Dass ein Festival mit diesem Geist der kulturellen Offenheit in einer Gegend gedieh, welche ihrerseits die kulturelle Verständigung traditionellerweise pflegte, ist kein Zufall. Diese Offenheit ist einer der ursprünglichen Werte der italienischsprachigen Schweiz – ich meine ausdrücklich auch die vier Täler del Grigioni italiano -, die es auch im Tessin wieder zu entdecken und zu bewahren gilt. Es ist ein Grundwert, von dem die ganze Schweiz zehrt und ohne den die Schweiz nicht die Schweiz wäre.

Diese ursprüngliche Offenheit ist es, die nicht nur uns von jenseits des Gotthards, sondern Menschen aus der ganzen Welt in den Sopraceneri zieht  Diese kulturelle Dimension macht die Sonnenstube aus, welche die Schweiz erwärmt. Dieser offene Geist ist die Sonne von Locarno.

Die Sonne von Locarno