Es gilt das gesprochene Wort!

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Herr Gemeindepräsident!
Liebe Gäste!

Ich freue mich sehr, hier im tausendjährigen Wileroltigen mit Ihnen zusammen über die Schweiz nachzudenken! Dass Sie mich dazu eingeladen haben, ehrt mich, und ich danke Ihnen dafür.

Vielleicht ist ja die Einladung eine späte Anerken-nung dafür, dass ich Wileroltigen als Angehöriger des damaligen Feldarmeekorps 1 in den Manövern mehrmals und erfolgreich verteidigt habe, bei Tag und bei Nacht?

Auf der Gemeinde-Homepage hat man Ihnen eine Rede versprochen, an die man sich noch in den nächsten tausend Jahren erinnern werde.

Ehrlich gesagt, da überfordert mich Ihr Webmaster! Ich bin froh, wenn Sie sich morgen früh noch an den einen oder anderen Satz erinnern werden!

Wileroltigen hat eine faszinierende Geschichte! Und teilweise war sie auch blutig, so 1410, als die Oltiger die Burg erstürmten und ihren Herrn erschlugen.

Dass Bern dann die Herrschaft kaufte und es 1413 allen Oltigern ermöglichte, sich aus der Leib-eigenschaft auszukaufen, zeigt, dass soziale Emanzipation und Territorialbildung zwei der Motoren der eidgenössischen Geschichte waren.

Nur acht Jahre nach dem Ende der Leibeigenschaft in Wileroltigen wurde in Bern der Grundstein des Münsters gelegt. "Machs nah", ist an einem Pfeiler eingemeisselt.
"Machs nah". Ein Vermächtnis des Alten Bern und der Alten Eidgenossenschaft an uns.

Ich beglückwünsche Sie dazu, ein Festspiel auf die Beine gebracht zu haben, das diese Geschichte erlebbar macht.

Machen wir nun aus der Wileroltiger Geschichte einen beherzten Sprung in die Gegenwart, in den Sommer 2006!

Denken wir laut nach über die Schweiz, über ihre Werte, ihre Trümpfe, ihren Weg in die Zukunft.

Das führt mich vorerst zu Fragen: Über welche Schweiz denken wir denn nach? Welche Schweiz feiern wir heute, am 1. August? Auf welche Schweiz sollen wir stolz sein?

Wir werden nicht bei allen Überlegungen zu den gleichen Schlüssen kommen. Aber das ist gut so.

Mit einem unkomplizierten, aber ehrlichen und stärkeren Selbstvertrauen als auch schon kommt unser Land an seinem 715. Geburtstag daher!

Anlass für dieses Selbstvertrauen ist nicht die Politik. Die Bundesratswahl im Juni hat nur ein paar Tage bewegt.

Anlass für dieses Selbstvertrauen ist auch nicht die Wirtschaft. Obwohl uns die Zahlen Freude machen, vom Wachstum bis zur Beschäftigung.

Anlass für dieses unkomplizierte, ehrliche Selbstverständnis ist vielleicht die Kultur. Tausende zieht es landauf landab wieder an die Openair-Festivals und in die Openair-Kinos - vor allem bei diesem Wetter der letzten Wochen!

Im rot-weissen Fahnenmeer

Anlass für das gestiegene Selbstwertgefühl in diesem Sommer ist bei vielen der Sport! Sind die herausragenden Leistungen unserer Fussball-Nationalmannschaft an der Weltmeisterschaft in Deutschland.

Die Schweiz, aber auch deutsche Städte und deutsche Stadien, sind im rot-weissen Fahnenmeer beinahe untergegangen. Was im expo-Jahr 2002 begonnen hat, hat diesen Sommer einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Man zeigt wieder Flagge! Die Schweizer Fahne als grafisch perfektes Symbol nicht nur an Fahnen-stangen, sondern auch auf Kleidern, Schlüssel-anhängern, Portemonnaies. Die Grenze zwischen Kunst, Kitsch und Kommerz ist dabei fliessend.

Man zeigt Flagge - und man singt! Die National-hymne wird wieder laut und inbrünstig gesungen. Das Strahlenmeer im Fahnenmeer. Im Morgenrot und nach dem Einnachten.

Unbefangener Nationalstolz schwingt mit in dieser Begeisterung für ein Team junger Männer, die ihre familiären Wurzeln  in Spanien, in der Türkei, in Italien, im Kosovo, in der Elfenbeinküste und auch in der Schweiz haben und die mehrheitlich im Ausland leben und arbeiten.

Zu Zehntausenden haben wir Schweizerinnen und Schweizer in Stuttgart, Dortmund, Hannover und Köln Köbi Kuhns Truppe unterstützt. Zu Hundert-tausenden sassen wir vor dem Fernsehapparat oder in improvisierten Fan-Meilen vor Grossleinwänden.

Welcher Schweiz haben wir zugejubelt?

Der sportlichen Schweiz! Die ja mit Roger Federer, mit Martina Hingis, mit dem Alinghi-Team, mit Simone Niggli-Luder, mit Tom Lüthi noch andere Aushängeschilder mit weltweiter Ausstrahlung hat.

Weltoffen und selbstbewusst

Der Jubel gilt damit einer weltoffenen,  jungen und selbstbewussten Schweiz, die gleichzeitig Integrationsstärke zeigt. Einer Schweiz, die zunehmend auch bei ihren Nachbarn und im weiteren Ausland als eigenständiges, aber durch und durch europäisches Land wahrgenommen wird.

Die europapolitischen Abstimmungen des letzten Jahres bestätigen nur diesen Befund eines welt-offenen Selbstbewusstseins. Das kleine, aber wirtschaftlich starke Land hat nach intensiven Diskussionen deutlich Ja zu Schengen und Ja zur erweiterten Personenfreizügigkeit gesagt.

Europa, mit dem wir seit jeher geographisch, historisch, kulturell und wirtschaftlich eng verflochten sind, hat diese Weichenstellungen sehr wohl zur Kenntnis genommen.

Vielleicht ist die Schweiz doch ein Sonderfall? Wir tun jedenfalls gut daran, nicht alle positiven Abweichungen vom Standardverhalten, vom "mainstream", mit aller Kraft einebnen zu wollen.

Weltoffenheit ist für unser an Rohstoffen armes Binnenland durchaus ein Wert. Aber da gibt es noch andere.

Ich erwähne nur einige: Die Sachlichkeit, die Miliz, die Leistungsbereitschaft oder die Wachsamkeit.

Ich meine jene Sachlichkeit, mit der wir unsere politischen Aufgaben angehen. Natürlich geht es am Familien- oder am Stammtisch, in den Leserbriefspalten, in der Arena oder auf den Abstimmungsplakaten jeweils hoch her. Manchmal auch tief, bisweilen unter die Gürtellinie.

Wenn es dann darum geht, im stillen Kämmerlein Ja oder Nein auf den Stimmzettel zu schreiben, dann sind Herr und Frau Schweizer unbestechlich, nüchtern, sachlich. Dann entscheiden sie hin und wieder auch anders als Bundesrat und Parlament, anders als die Partei, der sie angehören oder nahe stehen.

Einer Million oder zwei Millionen Menschen, je nach Stimmbeteiligung, kann man kein X für ein U vormachen.

Diese Sachlichkeit ist ein hoher staatspolitischer Wert! Bewahren wir einen klaren Kopf in einer Welt, die alles tut, um die Geister zu verwirren.

Die Schweiz hat eine selbstbewusste Zivilgesell-schaft. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir Staatsbürger sind und am gesellschaftlichen Leben mitwirken, beeindruckt Aussenstehende immer wieder.

Wir dürfen stolz sein auf unsere Zivilgesellschaft. Sie hat Vorbildcharakter. Wir müssen ihr aber auch Sorge tragen. Wir müssen die nachfolgende Generation von diesem Wert überzeugen.

Ohne Freiwilligkeit geht nichts

Die Weltoffenheit und die Sachlichkeit also sind hohe Werte unseres Landes. Und eben die Miliz. Die Freiwilligkeit.

Das freiwillige Engagement durchdringt viele Gebiete unserer Gesellschaft.
Miliz heisst letztlich, dass viele freiwillig mehr leisten, als sie müssten. Und dass diese Leistung uns allen zu Gute kommt.

Ohne Freiwilligkeit würde unser Breitensport nicht funktionieren. Ohne Freiwilligkeit würde unser Gesundheitswesen zusammenbrechen. Ohne Frei-willigkeit würde der grösste Teil unseres Kultur-lebens schlicht nicht stattfinden. Ohne Freiwillig-keit wäre das politische Leben in den Gemeinden undenkbar.

Dass hier in der Schweiz vieles ohne den Staat, ohne staatliches Eingreifen funktioniert, das kann man sich andernorts gar nicht vorstellen. Auch das ist ein Wert, auf den wir stolz sein können. Den wir pflegen müssen. Von dem wir auch die nach-folgende Generation überzeugen müssen.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir müssen noch weiter gehen. Wir müssen das entwickeln, was ich als "Mut zur Exzellenz" bezeichne.

Fördern wir die Eliten des Landes in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, im Sport, in der Kultur und in der Politik.
Fördern wir die Besten der Jungen, die Fähigsten der Älteren, die Innovativsten der Wirtschaft und die Mutigsten in der öffentlichen Meinungsbildung.

Ist die WM-Euphorie Patriotismus?

Noch einmal zurück zur WM: Könnte es sein, dass die Euphorie rund um unsere Fussballer an der WM wenig mit Patriotismus, aber auch viel mit einer riesigen Party zu tun hatte?

Ein Fest, bei dem man auch dabei sein wollte? An dem man sich durchaus auch zur Schweiz bekannte?

Dessen Unterhaltungswert ich im Übrigen keineswegs in Frage stelle! Ich habe im Stadion von Hannover beim Zweinull gegen Südkorea auch gesungen, auch gejubelt, auch eine rote Krawatte mit dem Schweizerkreuz darauf getragen.

Welche politischen oder welche gesellschaftlichen Motive gibt es hinter dem rot-weissen Massen-taumel?

Und ist es nicht so, dass sich echter Patriotismus für das Land und seine Leute engagiert?
Dass er nicht nur lärmig daherkommt, sondern auch und vor allem im Stillen wirkt? Jenseits der Schlag-zeilen? Nachhaltig? Wenn die Grossleinwände längst eingerollt sind?

Diese Schweiz gibt es. Auch diese Schweiz feiert heute Geburtstag. Die Schweiz der Vereine, die vielen Heimat bieten, die Schweiz der freiwilligen Betreuung von Jugendlichen oder Behinderten oder Alten, die Schweiz der sozialen Netze im Familien- und Bekanntenkreis.

Augen öffnen für die andere Schweiz

Patriotismus, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Patriotismus hat auch mit Offenheit und mit Ehrlichkeit zu tun. Wer sein Land liebt, der vergöttert es nicht. Der sieht auch das, was nicht gut ist, was nicht stimmt, was geändert werden muss.

Auch diese Schweiz feiert heute Geburtstag.

Eine Schweiz, die dramatisch überaltert. In der immer mehr junge für immer mehr ältere Menschen Verantwortung übernehmen.

Eine Schweiz, in der familiäre Geborgenheit immer mehr von einer Art  Beziehungs-Beliebigkeit abgelöst wird.

Eine Schweiz, deren Lebenshaltungskosten für viele Mitbürgerinnen und Mitbürger schwer bezahlbar sind.

Wenn in unserem wohlhabenden Land Zehn-tausende an der Armutsgrenze leben, dann müssen wir das ändern. Jedes Anzeichen einer Ent-Solidarisierung muss in einer Eid-Genossenschaft ein Alarmzeichen sein.

Wir dürfen nicht wegschauen, wir müssen hinschauen und die Zeichen an der Wand sehen. Wir müssen unsere Verantwortung übernehmen: Wir als Eltern, wir als Lehrerinnen und Lehrer, wir als Vertreter der Kirche, wir als Trainer.

Wir müssen die Dinge wieder beim Namen nennen statt uns hinter falsch verstandener "Political correctness" zu verstecken.

Wir müssen aufstehen und Nein sagen: Nein zur Jugendgewalt. Nein zum Drogenkonsum. Nein zu Raser-Exzessen. Nein zu einer schleichenden Verslumung unserer Dörfer und Städte.

Nein zum latenten Antisemitismus. Nein zu Neo-nazis. Nein zu gewaltbereiten Linksextremisten. Nein zu jeder Form des Extremismus und Nein zu Exzessen, welche den sozialen Frieden bedrohen.

Nein sagen auch zu falsch verstandener Toleranz. Wer bei uns und mit uns leben will, der muss seine Identität und seine Religion nicht verleugnen. Aber er hat unsere Werte zu respektieren, unsere Gesetze einzuhalten, unsere Sitten zu akzeptieren.

Auf der anderen Seite müssen wir uns bewusst sein, dass die Schweiz eine kontrollierte Zuwanderung braucht, wenn sie längerfristig bestehen will und ihre Werte weiterleben sollen.

Dessen müssen wir uns bewusst sein. Und es erfordert Wachsamkeit. Wachsamkeit als ewiger Preis der Freiheit.

Trotz des unkomplizierten, ehrlich gemeinten Selbstvertrauens in die Werte der Schweiz darf nie vergessen gehen, dass wir nicht auf einer Insel der Seligen leben. Auch wenn es uns gut geht.

Tragen wir also Sorge zu den Institutionen, die unser Land und unsere Werte schützen. Die Armee ist nur eine davon.

Die Kraft der Eid-Genossenschaft

So ist denn meine Eingangsfrage beantwortet: Welche Schweiz feiern wir heute? Wir feiern unsere Schweiz. Die weltoffene, die sachliche, die freiwillige, die patriotische, die stille, die engagierte Schweiz.

Wir vergessen aber auch die Problem-Schweiz, die Schatten-Schweiz nicht. Sie soll uns Ansporn sein, nach Verbesserungen und Lösungen zu suchen.

Es ist die grosse, über Jahrhunderte gewachsene Kraft einer Eid-Genossenschaft, die viele "Schweizen" umfasst und letztlich aus sich heraus solidarisch ist.

Diese Schweiz, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, gibt uns die Kraft, die Zukunft anzupacken!

Verabschieden wir uns von der Selbstbedienungs- und Opfermentalität. Von der Idee oder von der Forderung, der Staat müsse es stets richten. Verabschieden wir uns von der weit verbreiteten Neidkultur.

Jede und jeder von uns muss sein Schicksal selber in die Hand nehmen. Muss etwas für seine Familie tun, für seinen wirtschaftlichen Erfolg, für seine Gesundheit, für seine Weiterbildung.

Aber auch etwas für seine Nachbarn, für sein Land. Eigenverantwortlich und diszipliniert. Lernen wir von den anderen und freuen wir uns am Erfolg der anderen.

Jede und jeder von uns starte am morgigen 2. August mit drei ganz konkreten persönlichen Schritten zum Glück, zur Prosperität und zum Erfolg!

Dazu wünsche ich uns allen Glück und gutes Gelingen!

Wir brauchen alle! "Auf dich kommt es an!"

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Die Schweiz feiern! Aber welche Schweiz?