Der Umgang mit Visionen ist ein schwieriges Unterfangen. Visionen haben nämlich oft entweder den Charakter eines Prospektes, der die schönsten und treffendsten Bilder von einem noch unbekannten Ort zeigt, oder dann sind sie derart kühn, dass man sich die konkrete Umsetzung nicht vorstellen kann.
Lassen Sie mich zur Vision einer offenen Schweiz deshalb zuerst einen gewissermassen ideellen Teppich legen. Darauf werde ich anschliessend dann die politischen Inhalte stellen.

Offenheit ist zuerst einmal eine Frage der Mentalität. Die offene Mentalität von Bevölkerung und Politik ist darum eine erste Voraussetzung für ein offenes Land. Wer aufgeschlossen, tolerant und vorurteilslos an die Dinge herangeht, wer also bereit ist, hinzuschauen, zuzuhören, zu diskutieren, abzuwägen, der ist offen für Neues, offen für Anliegen und bereit, sich und sein Umfeld zu entwickeln. Offenheit ist die Bereitschaft, auf andere Menschen zuzugehen. Dazu gehören der Dialog und der Wille zur Zusammenarbeit, aber auch die Bereitschaft zur Integration, besonders aktuell im Migrationsbereich. Das neue Ausländergesetz fördert und fordert richtigerweise die Integration.

Zur Offenheit gehört aber ebenso die Pflege des Verständnisses zwischen den Generationen. Wer mehr als 65 Jahre zählt, ist nur dann alt, wenn er die jüngeren Generationen und die Gesellschaft nicht mehr verstehen kann oder will. Offenheit führt schliesslich auch hinein in den Alltag, meinetwegen bis hin zum freundlichen Umgangston.

Offenheit hat schliesslich auch mit Toleranz zu tun. Der Begriff kommt von tolerare, ertragen und meint, andere Menschen auch dann zu akzeptieren, wenn sie nicht auf unserer Wellenlänge liegen. Toleranz setzt Weitherzigkeit und den Respekt vor den Mitmenschen voraus.

Offenheit ist aber keine Selbstverleugnung. Freie Geister bleiben stets in sich selber stark. Offenheit bedeutet also kein Preisgeben unserer Eigenheiten, Traditionen und Institutionen.

Der Liberalismus ist das wohl markanteste Muster zur Vision einer offenen Schweiz. Der Liberalismus garantiert unsere Freiheiten, die Verwirklichung unserer eigenen Lebenspläne und in der Form der sozialen Marktwirtschaft auch unseren Wohlstand. Es ist deshalb nicht vermessen zu sagen, der Liberalismus als solcher sei schon eine Vision für das Land.

Eine nächste Voraussetzung zur Offenheit ist die Bildung im weiten Sinne des Wortes. Wir Freisinnige setzen uns bekanntlich für eine intelligente Schweiz ein. Wir wollen, dass unser Bildungsangebot stimmt, dass Frauen und Männer zum Beispiel Sprachen lernen, um mit anderen, auch andersartigen Menschen verkehren zu können. Bildung verbindet, macht aber auch frei. Wir streben deshalb die Chancengleichheit an.

Naher Verwandter der Bildung ist der Fortschritt. Fortschritt kommt von Voran-Schreiten. Die Freisinnigen waren immer auch die Erneuerer, die Modernisierer. Die Freisinnigen haben nie vor dem Experiment zurückgeschreckt. Sie waren es, welche den eidgenössischen Proporz ermöglichten und welche den Ausbau der Volksrechte im 19. und 20. Jahrhundert herbeiführten. Sie sind es auch, welche heutzutage der Bildung und der Forschung die Stange halten, indem sie letzterer die nötigen Freiheiten zum Beispiel in der Gentechnologie gewähren, die erforderlichen Ressourcen zubilligen und nicht zuletzt ihren Trägern die parteipolitische Heimat öffnen.

Eine weitere Voraussetzung zur offenen Schweiz ist die starke Wirtschaft. Unsere Wirtschaft muss Produkte herstellen und Dienstleistungen erbringen, welche exportfähig sind, denn als Land ohne Rohstoffe haben wir sonst keine Chance auf den Weltmärkten. Im Wettbewerb kann nur bestehen, wer diese Märkte aufsucht, deren Bedürfnisse aufnimmt und wer sich dann aber auch virtuos in ihnen bewegt. Es sind vor allem unsere Unternehmer, welche diese besondere Art von Offenheit täglich beweisen müssen. Sonst wäre unsere Wirtschaft nicht in der Lage, an jedem Arbeitstag eines Jahres für mehr als eine halbe Milliarde Franken Produkte zu exportieren. Die Geschichte beweist es: jedesmal, wenn sich die Schweiz wirtschaftlich öffnete, war das Ergebnis positiv. Der Schritt über die Landesgrenze hinaus wurde gleichsam stets mit Wachstum belohnt.

Jetzt Frage: Wo verwirklichen wir diese Vision einer offenen Schweiz konkret, wo soll  sie sichtbar werden?

Ein erster Schauplatz sind die Beziehungen zum Ausland, insbesondere auch zur Europäischen Union. Die Schweiz ist nicht isoliert. Das Land besitzt als Mitglied der Weltgemeinschaft hohes Ansehen. Es gehört wirtschaftlich zu den führenden Nationen. Wir wirken in zahlreichen Organisationen wie UNO, OECD, WTO, IWF, Weltbank und OSZE teilweise an vorderster Front mit und wir sind zudem Sitzland von wichtigen internationalen Institutionen. Unsere Aussenpolitik ist dabei richtigerweise die Fortsetzung der Innen- und damit Interessenpolitik.

Die Schweiz liegt mitten in Europa. Sie kann als geografischer Teil des Kontinents, vor allem aber als Exportland nicht abseits stehen. Die Frage ist nicht: mit oder ohne die EU zu leben, sondern sie lautet: wie mit der EU leben? – In Abwägung zu anderen Optionen stellt sich der Weg des Bilateralismus als gangbar und pragmatisch heraus. Er meidet jene staatspolitischen Territorien, die unvereinbar sind, aber er öffnet jene Tore, welche unser Export als wichtigster Pfeiler der Volkswirtschaft benötigt. Mit den Bilateralen Verträgen kann die Schweiz in Europa die Schweiz bleiben. Bei einem ‚Nein’ zur Kohäsions-Vorlage würde unser Land verlieren. Das ganze Gebäude der guten Beziehungen mit den Ländern der EU würde belastet.
Die Beziehungen zur EU sind heute nun so intensiv, dass Meinungsverschiedenheiten nicht ausbleiben können. Wir dürfen uns deshalb beispielsweise auch nicht durch die aktuelle Suche mit der Lupe nach selektiven Steuervorteilen durch die EU-Behörden in den Kantonen irritieren lassen.

Die Vision einer offenen Schweiz verwirklichen wir nicht nur in grossen politischen Würfen, sondern vor allem auch als harte Knochenarbeit in der Sachpolitik.

Erinnern wir uns einiger konkreter Beispiele. So endet die Verkehrspolitik nicht an den Grenzen; sie muss verlässliche Anbindungen ans Ausland offerieren. Die Steuerpolitik muss durch Doppel-Besteuerungs-Abkommen abgestützt werden. Die Bedürfnisse des Zollwesens leiten sich je länger je mehr aus volkswirtschaftlichen Bedürfnissen und nicht aus fiskalpolitischen Zielen ab (indem z.B. der Zoll neuerdings zum Kunden geht). Auch das sicherheitspolitische Engagement hat spätestens seit dem Ende des kalten Krieges eine wie auch immer geartete internationale Dimension erhalten.
Die Vision einer offenen Schweiz ist sodann auch eine gesellschaftliche Vision. Wir haben in dieser Legislatur viel für eine offene Gesellschaft erreicht. Die Abstimmungen über die Ladenöffnungszeiten, über das Partnerschaftsgesetz, über die Mutterschaftsversicherung, über die Stammzellenforschung und über die Bilateralen Verträge II sind Marksteine einer offenen Schweiz, jedes Mal von unserer Partei aktiv von der Entstehung bis zur Abstimmungsurne unterstützt.

Abschliessend ein paar Worte zum ‚Wie’? der Vision offene Schweiz. Zur Umsetzung stehen uns nämlich verschiedene Strategien zur Verfügung.
Eine erste besteht im Ausspielen der Stärken. Wir verfügen über einen hohen Bildungsstandard, einen ernstzunehmenden Wirtschafts-, Forschungs- und Finanzplatz. Daraus haben sich mit der Zeit die bekannten Schlüsselbranchen entwickelt; wir denken vor allem an die Pharma-, die Maschinen- und Uhrenindustrie und an den Bankenplatz. Aber auch unser Gewerbe profiliert sich sowohl als Zulieferer wie auch als Innovator. Diesen Stärken müssen wir Sorge tragen.

Eine weitere Strategie besteht im Geben und Nehmen. Das Nehmen als Profitieren von den Märkten der Welt ist mit dem Geben, der Solidarität verbunden. Gute Zusammenarbeit ist fast immer symbiotisch. Auch aus diesem Blickwinkel ist unser Beitrag an die europäische Kohäsion nichts anderes als eine Strategie, um unser Land offen zu halten.

Eine nächste Strategie ist der soziale Friede im Land. Nur ein Volk mit stabilen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ist zu offenen Beziehungen, zum Geben und Nehmen fähig. Konkordanz und Referendums-Demokratie, vor allem aber auch unsere Sozialwerke und der Arbeitsfrieden sind die Pfeiler des sozialen Zusammenhalts.

Die vierte Strategie ist die Neutralität der Schweiz. Sie bedeutet, dass sich unser Land aus fremden Händeln, aus Kriegshandlungen zwischen Staaten heraushält und dass es die Neutralität in Friedenszeiten politisch absichert. Zur Neutralitätspolitik gehört die militärische Bündnisfreiheit. Dort, wo innerstaatliche ethnische, religiöse, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Konflikte in Europa oder unmittelbarer europäischen Nähe stattfinden, liegt deren Befriedung in unserem eigenen Interesse. Der Einsatz von Gelbmützen, Hilfskorps und der Swisscoy liegen genau auf dieser Linie. In der Nahostkrise leisten wir öffentliche und private humanitäre Hilfe. Für die betroffenen Menschen ist die rasche und wirkungsvolle Unterstützung überlebenswichtig. Daran und weniger an völkerrechtlichen Feinheiten sollten wir uns messen. 

Liebe Parteifreunde. Die Vision einer offenen Schweiz ist das liberale Bekenntnis zu einem toleranten, fortschrittlichen und wohlhabenden Land und zu einem  verlässlichen Partner in der internationalen Staatengemeinschaft. Wie kaum in einem anderen Gebiet treffen in der offenen Schweiz die attraktiven liberalen Werte und Tugenden zusammen.