Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste,

ich habe das Vergnügen und die Ehre, zum heutigen Jubiläum die Glückwünsche des Bundesrates zu überbringen. Als Ostschweizer fällt mir dies leicht, gehöre ich doch gleichsam auch zu den Empfängern dieser Botschaft.

Ich möchte zu vier Themen sprechen, die alle eng mit den Bahnen zu tun haben, nämlich zum Fortschritt, zum Überwinden von Hindernissen, zur Rolle des Staates als Bahnunternehmer und schliesslich zur Mobilität unserer heutigen Gesellschaft.

Zum Thema Fortschritt will ich erst die Fragen stellen, wie die damalige Welt aussah, als diese Schienen hier gelegt wurden, was also damals symbolisch gesprochen auf die Schienen gelegt wurde? – Dazu zwei, drei Müsterchen.

Im Jahr 1856 war der Schweizerische Bundesstaat erst 8 Jahre alt. Gottfried Keller – ein politisierender Schriftsteller und Namensvetter von Regierungsrat Joseph Keller – verfasste gerade ‚die Leute von Seldwyla’. Schauplatz war ein wonniges und sonniges Städtchen, aber stehen geblieben als immer das gleiche Nest. Kellers Seldwyler liebten die Abwechslung der Meinungen und Grundsätze und waren stets den Tag darauf, nachdem sie eine Regierung gewählt hatten, in Opposition gegen dieselbe. Das tönt sehr ‚heutig’, nicht wahr?

In Wien wurde im gleichen Jahr 1856 Siegmund Freud geboren, ein Seelenheiler, der später den Menschen sagte, weshalb man im Leben den Zug verpassen kann, wo und warum Weichen falsch gestellt sind und wohin die Reise gehen soll. Freud war der Begründer der modernen Psychiatrie.

Das Zeitalter der Eisenbahnen und der Stahlschiffe hatte seinen Höhepunkt schon fast erreicht. Mit ihm waren das moderne Fabriksystem und die Massenproduktion entstanden.

Die Welt stand ein Jahr vor der ersten grossen Wirtschaftskrise; diese hatte ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten. Der Fortschrittsglaube der industriellen Revolution schien zum ersten Mal etwas erschüttert.

Immerhin: das neue Zeitalter der Elektrotechnik und damit des nächsten Aufschwunges zeichnete sich nebelhaft ab. Der Bau der Bahnlinie war einerseits also durchaus eine Pioniertat, aber anderseits lag er doch ganz im Zug der Zeit. Die berühmte Schwarzwaldbahn wurde übrigens im selben Jahr eröffnet.

Die spurgebundene Fortbewegung ist vom Grundprinzip bis heute gleich geblieben. Aber das technische Umfeld hat sich enorm verändert. Nicht nur, weil Neuerungen wie die Untergrundbahn, die Magnetschienenbahn oder neuestens die Schnellstrecken dazugekommen sind. Nein, die Bahn hat Innovationen hervorgebracht, welche weit über die eigene Branche hinaus Verwendung gefunden haben, denken wir nur an Bereiche wie Motorenbau, Rollmaterial, Signal- und Übertragungstechnik, Zeitmanagement, Arbeitswelt, Tunnelbau, ja selbst Marketing. In Winterthur wie in der engeren Ostschweiz gab und gibt es Unternehmen, die an dieser Entwicklung teilhaben und die als Zulieferer der Bahnen ihr Geld verdienen und Arbeitsplätze anbieten. – Einzig in der Kulinarik (das als ironische Bemerkung) tut sich die Bahn bis heute etwas schwerer.

Fortschritt entsteht in erster Linie in einem Klima von Freiheiten. Gemeint sind Freiheiten in der Bildung und Forschung, Freiheiten im Denken, Freiheiten in den Märkten. Fortschritte sind das Produkt freier Geister. Es waren vor allem unabhängige Ingenieure und Financiers, welche mit Wagemut und Kreativität die Bahnen gebaut haben. Dabei gilt noch heute: das Wichtigste am Erfolg grosser Gemeinschaftswerke ist nicht der Staat. Das Wichtigste sind die Menschen, Menschen als Unternehmer, als Erfinder, als Leute mit Pioniergeist, Mut, Fleiss, Freude am Arbeiten, Männer und Frauen mit Qualitätsbewusstsein, aber auch mit Raffinesse und Wettbewerbsgeist. Im Masse, wie sich alle diese humanen Kräfte in einem freiheitlichen Umfeld entfalten können, entsteht der Fortschritt. Das war damals nicht anders als heute.

Jetzt ein paar Worte zum Überwinden von Hindernissen.

Zwischen Rorschach und Winterthur stellen sich der Bahn eine Menge von Hindernissen entgegen, vor allem als Täler, als gutes Landwirtschaftsland, aber auch als Flüsse. Wer in der Ostschweiz Militärdienst leistet, kennt den Goldachgraben, den Sittergraben, den Thurbogen und die Töss. Man ging immer davon aus, dass fremde Panzerheere an diesen Flüssen an natürliche Hindernisse stossen. Im Volksmund spricht man seit jeher von der Saane als dem Röstigraben; in Analogie dürften wir eigentlich vom Bratwurstgraben sprechen, wenn wir in Winterthur an der Töss stehen.

Das Bundes-Bahnnetz ist gut 3'000 Kilometer lang, es verläuft in 300 Tunnels und führt über 5’800 Brücken. Etliche davon sind östlich des Bratwurstgrabens.

Bis kurz vor dem Bau der Bahn gab es noch weitere Hindernisse, nämlich die Zollgrenzen. Die Sitterbrücke bei St. Gallen wurde 1811 mitsamt einem Zollhäuschen mit vorgebautem Portikus und einem ebenmässigen Walmdach errichtet als Ersatz für die am Flussufer unten bestehende Holzbrücke. Das schmucke Gebäude steht noch heute, obschon die Schweiz seit 1848 bekanntlich eine Zollunion ist. Als die Brücke eingeweiht wurde, fuhr die frohgestimmte St. Galler Regierung als erste in einer Pferdekutsche darüber, worauf am anderen Tag ein Spassvogel an den Pfeiler schrieb: ‚Nun Bürger, kannst Du’s ruhig wagen, die Brücke hat des Landes schwerste Last getragen!’

Wenn wir vom Staat als Bahnunternehmer sprechen, dann reden wir automatisch von den in den letzten Jahren eingeleiteten Privatisierungen von öffentlichen Dienstleistungen. Unsere These lautet, der Staat sei zum Unternehmer weniger gut geeignet als die Privatwirtschaft. Der Staat solle jedoch die Leistungen und die Standards für die Grundversorgung - den service public - festlegen und als Regulator durchsetzen. Solche Überlegungen sind im Zeitalter der Globalisierung, sprich der grenzüberschreitenden Entwicklungen zweifellos richtig. Viele Staaten sind in dieser Privatisierung weit vorangeschritten und sie machen damit gute Erfahrungen. Die SBB sind indessen gerade aus der umgekehrten Bewegung hervorgegangen.

Im Jahr 1898 entstanden durch Verstaatlichung von Privatbahnen die Schweizerische Centralbahn und die Schweizerische Nordostbahn. Ziel der Verstaatlichung war es insbesondere, die Bahnunternehmen einerseits der Spekulation und anderseits ausländischem Kapital zu entziehen. In den 90-iger Jahren des letzten Jahrhunderts sind die SBB wiederum in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden.

Viele Unternehmen sind aus staatlicher Tätigkeit hervorgegangen und haben den Weg ins Private gefunden. Banken, Waffenfabriken, Textilbetriebe, Nahrungsmittel-Hersteller waren zeitweise in staatlichem Besitz. Je nach Zeitumständen und Freiheit der Märkte schlug das Pendel sodann zwischen Privatem und Öffentlichem hin und her. Angesichts liberalisierter Märkte und eines funktionierenden Wettbewerbs ist es angezeigt, dass der Staat sich heute erstens auf das Festlegen der Leistungen, zweitens auf das Wahrnehmen der Regulierung, und drittens auf die Vergabe von Konzessionen und Aufträgen konzentriert. Die Schweiz tut sich mit diesem Prozess schwer, schwerer als andere Länder. Noch gibt es mehr Fragen als Antworten. In meinem Departement wird in diesen Tagen ein Bericht fertig erstellt, der sich vertieft mit den Fragen der Auslagerung und der Steuerung von Bundesaufgaben befasst. Er kommt zum Schluss, dass gewisse Kernaufgaben von Politik und Verwaltung nicht ausgelagert werden können, dass sich jedoch Aufgaben der Wirtschafts- und Sicherheitsaufsicht, vor allem aber auch gewisse Dienstleistungen am Markt, aber durchaus auch solche mit Monopolcharakter sehr wohl zur Auslagerung eignen. Die SBB AG ist ein gutes Beispiel dafür.

Von Wirtschaft und Bevölkerung wird immer wieder mehr Mobilität gefordert, und damit bin ich beim letzten Thema angelangt.

Unsere Bahnen leisten einen wichtigen Beitrag dazu. Trotz Informatik und Telekommunikation, Internet, Handy und Computer bleibt der tägliche Gang zum Arbeitsplatz und damit meist in städtische Gebiete zwingend. Das Verkehrsvolumen nimmt zu, nicht ab.

Ich erinnere mich, dass der Morgen-Schnellzug Rorschach-St. Gallen-Winterthur als Zubringer zum Grossraum Zürich aus etwa 7-8 Wagen bestand. Heute bietet die Bahn im 30-Minutentakt die wohl dreifache Kapazität an und der Zug ist jeweils so besetzt, dass man ihn scherzhaft den ‚Termitenhaufen’ nennt. Die Bahn ist also sowohl Urheberin als auch Vollstreckerin der Mobilität. Dabei hat sie mit einem wachsenden Parkplatz-Angebot um die Bahnhöfe herum sogar noch einen Pakt mit dem Erzrivalen Strasse geschlossen. Der Verkehr wird je länger je mehr zu einem Verbundsystem. Die Kunden wollen à la carte und dabei reichhaltig auswählen. Aus dieser Erkenntnis heraus haben die beiden Departemente von Herrn Kollege Leuenberger und mir den Infrastruktur-Fonds vorgeschlagen. Er soll u.a. helfen, dringende Projekte des Agglomerationsverkehrs zu finanzieren.

Als Finanzminister komme ich allerdings nicht um die Feststellung herum, dass mit der Mobilität auch die Kosten gewachsen sind. Der Bund hat im Jahr 2005 total 8,7 Mia Franken für den Verkehr ausgegeben, das sind doppelt soviel wie für die Landwirtschaft, Forschung und Entwicklung oder Armee. Zum Vergleich waren es vor 40 Jahren noch weniger als 1 Mia und vor 20 Jahren erst 3,4 Mia.

Wir sind an einer Ausgabenmarke angelangt, wo sich Effizienzsteigerungen, Synergien und das Setzen von Prioritäten aufdrängen. Etliche Bahnunternehmen und Verkehrsträger haben die Botschaft verstanden, bei anderen hat dieser Zug noch Verspätung.

Es gibt zwei Kantone, welche sowohl vom Bahn- wie vom Nationalstrassen-Netz in elegantem Bogen umfahren werden, nämlich die beiden Appenzell. Dabei hiess das Projekt der Bahn Rorschach – Winterthur ursprünglich sogar St.Gallen-Appenzell-Bahn, weil die Streckenführung via Herisau vorgesehen war. Um die Mitlandleute dieser beiden Stände auch am heutigen Jubiläum teilhaben zu lassen und um ihren Willen zum eigenen Bahnnetz – fast so stark wie der bündnerische für ihre Rhätischen Bahnen – in Erinnerung zu rufen, möchte ich mit einigen Versen aus dem Gedicht ‚d’Appezeller Isebahne’ schliessen, welche Julius Ammann vor über 50 Jahren gedichtet hat:

D Appezeller Isebahne
hend Charakter, glob mers no.
Jedi macht en ääges Zögli,
ali chönnd zor Not devo.

Die vo Herisau – St. Galle
nennt der Setteregump wie Schnopf;
aber die vo Goosse n’une
wie ne Wiibli met eme Chropf
chüüchet schuuli.

S Gääserbähnli nennt der Stecke zwüschet d Bää
ond lood rüüche ond macht Böge,
määnscht, chäämscht nomme lebtig hää.

S Häädlerbähnli zom Erbarme
rotscht de ganz Weg of de Chneu;
aber s bringt met vollne Arme
Kurgescht hää met Geld wie Heu
S Trognerbähnli lauft wie gschleffe.

Z Vögelinsegg stoht s schief ond chrom,
aber s hebt si met em Tröhtli
am elektrische Strom.

D Appezeller Isebahne
hends bi Zite no erlickt:
Zämmeteenke, zämmeheenke,
as üüs käni do verstickt.

150 Jahre Bahnlinie Winterthur - Rorschach