Sehr geehrte Damen und Herren,

Seit Menschengedenken versuchen wir, Naturkatastrophen einen Sinn zu geben.

Wenn eine Katastrophe eintritt, sprechen Politiker – und vor allem Präsidenten – ihr Mitgefühl aus und bieten den Opfern die Hilfe ihres Landes an. Anschliessend suchen sie nach Lösungsansätzen, mit denen die Auswirkungen zukünftiger Katastrophen verringert werden könnten. 

Die Politik kann zwar den Sinn einer Katastrophe nicht erklären, aber sie kann – und muss sogar – Konsequenzen daraus ziehen.

Sie hingegen, als Männer und Frauen vom Fach, als Ingenieure und Wissenschaftler, messen und orten die Risiken, analysieren frühere Erdbeben, überwachen die Bewegungen der Erdkruste und formulieren Regeln für erdbebensicheres Bauen. Mit anderen Worten: Sie liefern den politischen Verantwortungsträgern, Unternehmen und Privatpersonen die notwendigen Instrumente, um eine Katastrophe zu minimieren.
Auch die Wissenschaft kann den Sinn einer Katastrophe nicht erklären, aber sie kann versuchen, ihre Auswirkungen zu verringern.

Schon immer gab es Menschen, die sich angesichts der Gewalten einer Naturkatastrophe ohnmächtig fühlen und im Beben der Erde oder in der Verwüstung ganzer Landstriche durch sintflutartige Überschwemmungen die Hand Gottes sehen. Die Strafe Gottes. Ein Schicksalsschlag, dem der Mensch hilflos ausgeliefert ist - er ist das Opfer und somit unschuldig.

Aber es gab auch immer jene, die davon überzeugt sind, dass einzig und allein der Mensch für Naturkatastrophen verantwortlich ist, weil er durch seine Tätigkeiten in die Natur eingreift. So sehr, dass sich das Klima erwärmt, die Gletscher zu schmelzen beginnen und Berge auseinander brechen.

Seit Menschengedenken ist der Mensch also auf der Suche nach dem Sinn und philosophiert. Nach dem Tsunami Ende Dezember 2004 erklärte der französische Philosoph Paul Virilio, die Attentate vom 11. September 2001 seien ebenso wie der Tsunami „jene Ereignisse, die unsere Epoche bestimmen werden“. Nach den grossen Revolutionen sei die Menschheit nun in das Zeitalter der Offenbarung eingetreten. Nicht mehr die Visionen der Aufklärung, eines Lenin oder Mao würden die Welt verändern. Vielmehr gingen die wichtigsten politischen Impulse von nun an von Naturkatastrophen aus. Allen voran von einer Katastrophe dieses Ausmasses, deren Bilder allgegenwärtig sind und überall auf der Welt Emotionen und Ängste auslösen.

Doch bei den Naturunglücken, die uns heute hier beschäftigen, lässt sich die Theorie von Paul Virilio nicht immer bestätigen. Manche Katastrophen finden statt, ohne dass die internationale Gemeinschaft sie überhaupt bemerkt, andere treten hinter wichtigere Sorgen zurück.

Durch den Tsunami, der Ende 2004 unter anderem zahlreiche Dörfer an der thailändischen Küste zerstört hat, wurde sich die ganze Welt darüber bewusst, wie überlebenswichtig Warnsysteme für die Bevölkerung sind. Die Katastrophe hat denn auch dazu gedient, dass im Indischen Ozean Alarmsysteme für Flutwellen eingerichtet wurden. Sie hat uns auch daran erinnert, dass Mangroven-Wälder einen natürlichen Schutzwall gegen den Tsunami geboten hätten, wären sie nicht zugunsten intensiver Garnelenzuchtfarmen abgeholzt worden.

Man kann also sagen, dass die Katastrophe in diesem Fall durchaus politische Impulse gegeben hat.

Der Tsunami hingegen, der diesen Sommer die Insel Java heimsuchte, hat die Welt kaum bewegt. Wird eine Katastrophe also von den Medien nicht beachtet, so bewirkt sie auch keinen politischen Druck.

Mit anderen Worten:Die Politik kann niemals erwarten, dass eine Katastrophe ihrem Handeln zusätzliche Legitimation verschafft, selbst wenn es sicher stimmt, dass der Druck der Öffentlichkeit nach einer Katastrophe zunimmt und sich dadurch die Chancen für finanzielle Zusagen verbessern. Die Politik muss die globale Emotion berücksichtigen, „das was unsere Zeit bestimmt", wie Virilio sagt. Doch um Lösungen zur Schadenminderung zu finden, muss sie in erster Linie der Vernunft gehorchen und auf wissenschaftlichen Analysen beruhen.

Und was sagt uns unsere Vernunft?

Wir können ein Erdbeben zwar nicht verhindern. Aber wir können seine Auswirkungen minimieren und damit sowohl die Folgen für die Bevölkerung als auch die Kosten reduzieren. Denn ein Erdbeben muss nicht notwendigerweise katastrophale Folgen für die Bevölkerung und die Wirtschaft haben. Sie als Fachleute wissen, was zu tun ist, damit ein Gebäude bei einem Erdbeben nicht einstürzt, Sie wissen, wie gebaut werden muss und welche Massnahmen zu treffen sind, um den Schaden auf ein Minimum zu reduzieren.
Die einzelnen Regionen sind nicht im gleichen Mass den Gefahren eines Erdbebens ausgesetzt. Daher werden die Gefahren von Fachleuten geortet, beobachtet und gemessen. Durch diese Überwachung lässt sich für jedes Gebiet ein Risikograd bestimmen, der wiederum als Grundlage für Bauvorschriften dient.

Die Wege, die uns die Vernunft vorschreibt
     
Gehorcht der Staat der Vernunft und dem Vorsorgeprinzip, so hat er mehrere Möglichkeiten, um sich vor Erbeben zu schützen:

Vorschriften für erdbebensicheres Bauen erlassen, die natürlich den geographischen und geologischen Gegebenheiten der jeweiligen Region angepasst sein müssen.
Diese Vorschriften verbindlich machen, indem sie gesetzlich verankert werden.
Kontrollinstanzen schaffen, um sicherzustellen, dass die Bauvorschriften tatsächlich eingehalten werden.
Und schliesslich ein (öffentliches oder privates) Versicherungssystem schaffen, wie wir es für andere Risiken auch kennen. Ein Teil der Versicherungsprämien könnte für Vorsorgemassnahmen gegen Erbeben eingesetzt werden.

Bei diesem Kongress hier in Genf wird vor allem die Vernunft zu Wort kommen – eine Rückkehr in das Zeitalter der Aufklärung. Das ist ja auch nur selbstverständlich, wenn man es mit Wissenschaftlern zu tun hat, die rational denken. Und es ist auch durchaus notwendig.

In der Schweiz gibt es z.B. seit 1989 moderne erdbebensichere Baunormen. Über 90 Prozent aller Gebäude wurden aber schon vorher gebaut.

Ich würde mir daher wünschen, dass die Schweiz und andere europäische Länder ein Inventar über die Sicherheit ihrer Gebäude aufstellen, insbesondere ihrer wichtigsten Infrastrukturen wie Spitäler, Energieversorgungsnetze, Feuerwachen, Staudämme, Kernkraftwerke.

Kurz: Ich würde mir wünschen, dass mein Land dem Philosophen Virilio nicht Recht gibt und nicht erst wartet, bis eine Katastrophe eingetreten ist, um zu handeln.

Aus diesem Grunde habe ich eine Revision unserer Verfassung angeregt. Mit dieser Revision würde im Bereich Erdbebensicherheit die Kompetenz auf den Bund, d.h. auf den Zentralstaat, übertragen. Mangels politischen Willens und aus Angst vor den finanziellen Folgen sind wir aber noch nicht so weit. Ein weiterer Grund ist, dass das Risiko, von einem Erdbeben getroffen zu werden, noch als zu niedrig eingestuft wird.

Die Schweiz und Europa sind anfällig

Dabei existiert in der Schweiz durchaus ein reales mittleres Erdbebenrisiko. Zwar haben Erdbeben in den letzten Jahrzehnten keine grossen Schäden verursacht, doch befinden wir uns auf der Stossstelle zwischen der europäischen und der afrikanischen Kontinentalplatte.

Und das schwerste Erdbeben Mitteleuropas im letzten Jahrtausend fand in der Schweiz statt. 1356 wurde die Stadt Basel grösstenteils zerstört. Ein ähnliches Ereignis würde heute Schäden in Höhe von schätzungsweise 50 bis 100 Milliarden Franken verursachen.
Denn sowohl die Schweiz als auch Europa sind für Erdbeben anfälliger geworden. Unsere Gebäude und Infrastrukturen wachsen ohne Unterlass weiter, ebenso wie unser Bedürfnis nach Mobilität, Kommunikation und stetigem Austausch.

Sie als Fachleute sind sich darüber einig: Selbst wenn die letzten grossen Erdbeben bereits einige Generationen her sind, so stellen sie doch in verschiedenen Gegenden Europas die grösste Naturgefahr dar, nämlich die, die am meisten zerstören und am meisten kosten würde.

Der Sinn von Politik und Wissenschaft

Politische Vertreter aus aller Welt werden sich auch weiterhin in Erdbebenregionen begeben und versuchen, den Opfern zu helfen.

Sie sind aber auch verpflichtet vorzusorgen, Regierung und Parlament zu sensibilisieren und davon zu überzeugen, dass investiert werden muss, damit derartige Katastrophen weniger verheerende Auswirkungen für die Menschen und das Funktionieren der Gesellschaft haben.

Wenn die Erde bebt, ist es tatsächlich die Natur, die uns zum Handeln drängt. Aber Politiker dürfen Paul Virilio nicht Recht geben. An ihnen liegt es, wieder zur Vernunft zu kommen und die politischen Impulse zu liefern, bevor sie dazu gezwungen sind; an ihnen liegt es zu sensibilisieren, vorzubeugen, vorzusorgen.

Und an den Fachleuten – also an Ihnen, meine Damen und Herren - liegt es, die Politiker beharrlich, mit Wissenschaft und Vernunft auf die Risiken aufmerksam zu machen.

Unsere gemeinsame wissenschaftliche und politische Arbeit gibt Katastrophen ganz sicher keinen Sinn. Doch unsere Arbeit hat einen Sinn, denn sie dient dazu, menschliches Leben zu schützen.

Tun wir also das, was wir können und wofür wir zuständig sind, um die Risiken einzudämmen und die Folgen von Erdbeben zu mindern, um das zu lindern, was manche als das Werk Gottes bezeichnen.

Leisten wir des Menschen Beitrag.

Gottes Werk und des Menschen Beitrag