Heute vor 200 Jahren hat das Schicksal unendliches Leid über den Ort gebracht, an dem wir jetzt stehen. Der Berg ist gekommen. Er hat Hunderte von Menschen und alles, was zu ihnen gehörte, unter sich begraben.

Es ist für uns in unserer Informationsgesellschaft zur traurigen Routine geworden, jeden Tag von Menschen zu hören, die durch Unfälle, Katastrophen oder Terror und Krieg ihr Leben verloren haben. Wir können sie aber kaum mehr als Menschen wahrnehmen, ihr ganzes Sein wird allein durch die Flut der Meldungen auf eine nackte, dürre Zahl reduziert.

Wenn wir die Ausstellung zum Goldauer Bergsturz besuchen, erfahren wir etwas anderes: Wir stehen vor einem Bild brennender Kerzen. Daneben erscheinen in einfacher Schrift die Namen der Opfer und die Tätigkeiten, die sie ausübten. In der andachtsvollen Stille, die uns umgibt, fühlen wir uns mit den Opfern wie in einem Raum, von Angesicht zu Angesicht. Aus Namen erstehen Menschen, sie werden uns unmittelbar gegenwärtig. Menschen jeden Alters, mitten in der Arbeit, mitten in gemütlicher Unterhaltung, mitten in einer Sorge oder erfüllt von einer Freude. Dieser Menschen, die tief unter uns im zermalmten Gestein ruhen, gedenken wir.

Wie haben sie die Tage vor dem schrecklichen Ereignis erlebt? Was haben sie gefühlt, als die zerreissenden Wurzeln der Bäume wie Gewehrschüsse das Unheil ankündigten? Wie haben sie überhaupt mit ihrem Berg gelebt? Wie war ihr Verhältnis zu ihm geprägt?

Das Verhältnis der Menschen zu den Bergen hat sich stets gewandelt und es ist vielleicht ganz gut, wenn wir diesen Wandel kurz betrachten.

Unsere alten Sagen erzählen uns von einem sehr magisch mythischen Verhältnis. Die Menschen des Mittelalters fühlten sich den Bergen wie einer dunklen Macht ausgeliefert. Sie empfanden sie einmal als Richter oder Rächer, die sündiges Verhalten oder Verstösse gegen Ehre und Recht mit grausamer Konsequenz bestraften. Sie empfanden sie auch als eine ganz willkürliche Macht, die Menschen entführte, Vieh tötete und blühende Alpen in Ödland verwandelte.

Oder sie sahen in ihnen den Ort, wo die armen Seelen der Erlösung entgegenlitten.

Im Jahrhundert vor dem Goldauer Bergsturz änderte sich dieses Bild völlig. Unser Dichter Albrecht von Haller besang die Alpen als Paradies, als herrliche Quelle körperlicher und geistig seelischer Kraft. Man begann sich mit den Bergen in bewundernder Begeisterung anzufreunden, es war die Geburtsstunde des Bergtourismus.

Vom Objekt ehrfürchtiger Bewunderung wurden die Berge aber bald zum Objekt der Eroberung. Was früher als unfassbares Schicksal empfunden wurde, erschien im Lichte der fortschreitenden Erkenntnis der Naturgesetze als fassbar und berechenbar. Die Menschen wurden von einem Lebensgefühl erfasst, das vor Mut und Eroberungslust nur so strotzte.

Wo man sich einst fürchtete, baute man jetzt Tunnels, und wo man einst nächtliche Prozessionen der Verstorbenen ahnte, da legte man nun die Schienen für Zahnradbahnen. Wenn wir heute auf der Kleinen Scheidegg stehen und die Jungfraujoch-Bahn betrachten, wie sie die unwirtlichste und gefährlichste Welt überwindet und sich in Eiger bohrt, dann können wir es fast nicht glauben, dass vor mehr als hundert Jahren Menschen mit den damaligen technischen Mitteln den Mut hatten, einen solchen Feldzug gegen die Kräfte der Natur zu wagen.

Die Schweiz hat mit ihren Bergbahnen Grossartiges geleistet, aber sie war durchaus nicht allein. Es war die Zeit in der, um nur zwei Beispiele zu nennen, auch der Suezkanal und der Panamakanal gebaut wurden, äusserst, komplexe Bauwerke von unglaublichem Ausmass. Mit dem Aushubmaterial des Panamakanals hätte man ohne weiteres eine chinesische Mauer von New York nach San Francisco bauen können. Der Mensch fühlte sich tatsächlich in einem Feldzug gegen die Natur.

Dank grossartiger technischer Errungenschaften haben wir ein Gefühl entwickelt, wir könnten über die Welt und ihre Ressourcen fast nach Belieben verfügen.

Zwar sind unsere Berge für uns immer noch Sehnsuchts- und Zufluchtsort, aber wir haben sie auch zu riesigen Sportarenen verwandelt, und die potenzielle Gefahr, die sie trotz allem immer noch bergen, empfinden viele als positive Herausforderung und als Intensivierung des Erlebnisses.

Die gossen Naturkatastrophen, die auch in den letzten Jahren weite Gebiete der Erde heimsuchten, erinnern uns aber daran, dass der Mensch gegenüber entfesselten Naturkräften ein sehr, sehr schwaches Wesen ist. Wenn im Goldauer Bergsturz 40 Millionen Kubikmeter Fels mit 200 Stundenkilometern daherkommen, wenn ein Vulkan ausbricht, ein Orkan oder die gewaltigen Wassermassen einer Sturmflut über ein Land hinwegfegen, dann hat der Mensch dem nichts entgegenzusetzen, es bleibt ihm höchstens die Flucht. Eine Risikokultur, wie sie die Ausstellung in Schwyz fordert, die vermeidet, was vermieden werden kann, und die rechtzeitig warnt, wenn nur Flucht retten kann, ist deshalb sinnvoll und absolut notwendig.

Die grossen Naturkatastrophen rufen uns aber auch in Erinnerung, was wir im Grunde schon wissen. Sie geben uns mit aller Deutlichkeit zu verstehen, dass wir unser Verhältnis zur Natur, zum Berg, zur Erde wandeln müssen. Es ist Zeit, dass wir sie nicht nur als Objekt der Eroberung und der Ausbeutung sehen sollten. User Ziel muss vielmehr ein partnerschaftliches Verhältnis sein.

Die Raumfahrt hat es uns deutlich gemacht: Unsere Erde ist nicht nur unendliche Weite. Ganz im Gegenteil; Sie ist ein verhältnismässig kleiner und ein recht fragiler Planet. Die mit Hilfe von Satelliten erzielten Forschungsergebnisse zeigen, dass die Erde ein hochkomplexes System ist, dessen Vernetzungen wir noch lange nicht kennen. Sie zeigen aber auch, in welch erschreckendem Mass rücksichtslose Ausbeutung durch den Menschen, das Gleichgewicht der Kräfte in diesem System stören, ja dauernd gefährden kann.

Die Erde trägt und ernährt die Menschheit seit vielen Tausenden von Jahren. Wir Menschen nennen sie seit Jahrhunderten unsere Mutter Erde. Aber unser Handeln, das durch technische Entwicklungen immer grössere und nachhaltigere Folgen zeitigt, entspricht diesem Bild in keiner Weise. Wir sind aber auf Gedeih und Verderb mit unserer Erde verbunden. Wir müssen deshalb lernen, sie und ihre Gesetzmässigkeiten zu respektieren. Das Kyotoprotokoll ist ein Anfang, wenn auch ein zögerlicher, und seine bisherige Geschichte zeigt, dass die Erdbevölkerung noch einen riesigen Lernprozess vor sich hat.

Lassen Sie mich aber schliessen mit einem Gedanken, der mich immer wider zuversichtlich stimmt. Der Goldauer Bergsturz hat in unserem Land und weit darüber hinaus eine grosse Solidaritätswelle ausgelöst. Die Behörden, die damals nur über sehr spärliche Kompetenzen verfügten, haben mit grosser Umsicht die Hilfe im ganzen Land organisiert und dafür gesorgt, dass sie unkompliziert, rasch und gerecht den vom Unglück Heimgesuchten zugute kam. Es war der Anfang einer Entwicklung, die schliesslich zu unserer Glückskette geführt hat, auf deren Erfolge wir stolz sein dürfen.

Die grosse Solidarität unseres Volkes mit den Mitmenschen, die in Not geraten stimmt mich auch zuversichtlich, dass sich mehr und mehr auch ein Solidaritätsbewusstsein entwickelt für die Generationen, die nach uns kommen. Lassen wir uns nicht vom Gedanken anstecken, die kleine Schweiz, könne ja doch nicht mehr bieten als gerade einen Tropfen auf einen heissen Stein. Vergessen wir nicht: In der Not, die der Bergsturz über Arth-Goldau gebracht hat, ist die Schweiz zusammengestanden. In der Bewältigung der Katastrophe ist der Zusammenhalt gewachsen und stark geworden, und daraus heraus ist zum Wohle aller unser Bundesstaat entstanden.

Es wäre wunderbar, wenn die Staatengemeinschaft in gegenseitiger Hilfe ebenso zusammenstehen und zusammenwachsen könnte. Nicht nur, um Katastrophen zu bewältigen, sondern um durch globale Massnahmen Katastrophen zu verhindern und dafür zu sorgen, dass unsere Mutter Erde den Menschen auch in Zukunft Mutter sein kann.

Gedenkfeier zum Goldauer Bergsturz am 2. September 1806