Wann sind wir alt?

• Ganz genau heute vor zwei Jahren ist mein Vater gestorben. In seinen gesammelten Briefen fand ich eine Gratulation, die ich ihm, als ich 10 war, zu seinem 40. Geburtstag geschrieben hatte. Um einen gemalten Blumenstrauss zählte ich bewundernd auf, was er alles leiste (Sitzungen leiten, den Kompost pflegen, Geschichten erzählen). Das widmete ich „meinem lieben, frommen und vierzigjährigen Vater“ und überschrieb es mit „Was Er trotz seines hohen Alters noch alles leistet!“
• Als ich den 50. Geburtstag feierte, gratulierte mir der damals 60-jährige Bundesratskollege Arnold Koller mit den Worten: „Welche Jugend! Welche Kraft!“ Ich musste etwas lächeln, weil ich seine Perspektive als 60 Jähriger noch nicht kannte.
• Und kürzlich hatte ich einen Briefwechsel mit dem 100-jährigen Albert Hofmann über Realität und Phantasie. Manch 30-Jähriger ist unbeweglicher und verglichen mit ihm recht alt.

Wann das Alter einsetzt und in welchem Bereich - ob in der körperlichen oder geistigen Beweglichkeit - ist von Mensch zu Mensch verschieden. Auch, ob er unter der Veränderung leidet oder nicht. Darum ist es ja auch unmöglich zu sagen, wann „das Alter“ beginnt und wohl deswegen tun wir uns auch so schwer mit dem Ausdruck „alt“. Der heutige Tag heisst nicht „Tag des Alters“, sondern „Tag der älteren Menschen“. Statt „alt“ sagen wir heute „Senioren“ oder - abstrakter - „3. und 4. Generation“.

Diese wechselnden Bezeichnungen deuten darauf hin: „Das“ Alter gibt es nicht. Wir begegnen deshalb jedem einzelnen Menschen, als Individuum, je nach seinen Schwächen - einmal ist es eine körperliche, einmal eine geistige - und nach seinen Stärken, egal, wie alt er ist.

Das tönt jetzt etwas gar idyllisch. Wir wissen alle: Es gibt auch andere Töne. Viele Junge haben Angst um ihre Zukunft. Sie glauben, die Älteren lebten auf ihre Kosten und sie selber erhielten später sowieso keine AHV mehr.

Zum Glück sind alte Menschen heute finanziell besser abgesichert. Dafür haben sie auch gearbeitet und ihre ganzes Leben lang Sozialversicherungen bezahlt. Diese Versicherungen sind grosse Werke der Solidarität. Solange wir dieser Solidarität treu bleiben, bleibt auch der heutigen jungen Generation die soziale Sicherheit im Alter erhalten.

Alter war einst gleichbedeutend mit Armut und Krankheit. Generationen vor uns, also diejenigen, die heute alt sind, haben das zu Recht nicht akzeptiert und politisch gehandelt. Es gibt heute viel grössere soziale Sicherheit, eine gute medizinische Versorgung, es gibt das Handy und das Internet. Das sind wichtige Errungenschaften, die ja auch das Leben der jungen Generation verbessern. Die Älteren müssen diese neuen Formen oft noch lernen. Es gibt viele, die scheuen sich davor. Aber der kleine Aufwand lohnt sich und Sie werden grossartige Entdeckungen machen.

Sie werden nämlich nicht nur laufend darüber orientiert, was in der Welt läuft, Sie können nicht nur sofort über alles Bescheid wissen, wofür Sie früher ein Buch bestellen mussten. Sie können auch einfacher Ihre Meinung einbringen und sich an vielen Entscheidungen beteiligen. Das bringt uns allen etwas, denn Sie haben uns ja auch vieles zu bieten. Sie haben Erfahrung, Sie haben auch mehr Zeit, als all diejenigen, die von Sitzung zu Sitzung rasen. Wir sind auf Ihre Mitwirkung angewiesen.

Wenn Menschen nach ihrer Pensionierung noch lange unabhängig, gesund und mobil sind, können sie in einem Verein Verantwortung übernehmen, für die betagten Eltern sorgen, sich in Projekten engagieren, Grosskinder betreuen, Andere von ihren Erfahrungen profitieren lassen. Wir brauchen Sie und wir freuen uns, wenn Sie unser Land so auch weiterhin mitprägen. Das tut auch jemand, der gar nicht mehr aktiv sein kann.

Kraft und Schnelligkeit sind nicht Alles. Wir wollen es uns nicht leisten, auf Ihre Erfahrung, Gelassenheit und Weisheit zu verzichten. denn Sie können einen unschätzbaren Beitrag leisten zum Kitt, der uns alle zusammen hält.

Das ist ja das Ziel der Eidgenossenschaft: Alle sollen sich einbringen können ob jung oder alt.