Sehr geehrte Damen und Herren
Mesdames et Messieurs
Egregi Signore e Signori

Es freut mich sehr, dass Sie am 5. CH-Asylsymposium gemeinsam Wege zu einer glaubwürdigen Asylpolitik suchen. Warum ist diese Glaubwürdigkeit eigentlich so wichtig, obwohl immer wieder - und zu recht - betont wird, der Asylbereich mache ja nur einen ganz kleinen Teil der Zuwanderung aus, und zwar 3%? Die Glaubwürdigkeit des Asylwesens ist aus einem einfachen Grund so wichtig:

Das Asyl, meine Damen und Herren, ist auch heute noch ein Grundpfeiler unserer Wertordnung: Dass wir Menschen, die in ihrem Land verfolgt werden, Schutz gewähren, sie bei uns aufnehmen und dass wir ihnen eine Chance auf ein würdiges Leben geben - das ist und bleibt Grundlage unserer humanitären Tradition. Das ist der Kern unseres Asylwesens. Und diesen Kern müssen wir schätzen - er ist wertvoll; nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für uns selbst.
Wie wertvoll dieser Kern für uns selbst ist, wird immer dann deutlich, wenn wir uns das Gegenteil vorstellen: nämlich, dass wir Flüchtlinge an der Grenze einfach abweisen würden. Wir wissen alle, dass auch das in der Geschichte unseres Landes vorgekommen ist. Menschen wurden im 2. Weltkrieg an der Landesgrenze abgewiesen und somit in den sicheren Tod zurückgeschickt. Der Bundesrat hat sich in den 90er Jahren offiziell dafür entschuldigt - im Wissen darum, dass ein solches Versagen letztlich unentschuldbar ist.

Humanitäre Tradition - sich ändernde Realitäten

Asyl zu gewähren ist eine ebenso edle wie elementare staatliche Aufgabe; es ist unsere menschliche Pflicht. Das ist und bleibt so, auch wenn sich im Laufe der Jahrzehnte die Realitäten im Flüchtlingswesen immer wieder ändern: Im November 1956 zum Beispiel, zwei Tage nach Einmarsch von Sowjettruppen nach Ungarn, gewährte der Bundesrat 2‘000 ungarischen Flüchtlingen die Einreise in die Schweiz. In den folgenden 3 Monaten gewährte der Bundesrat weiteren 10‘000 ungarischen Staatsangehörigen die Einreise. Diese grosszügige Politik des Bundesrates wurde in der Bevölkerung breit mitgetragen:

Alle politischen Parteien unterstützten den Entscheid des Bundesrates.
Um dem Schicksal der vertriebenen Ungarn zu gedenken, fanden in der ganzen Schweiz drei Schweigeminuten statt.
Die mit Sonderzügen eintreffenden Ungarn wurden an den Bahnhöfen von Menschenmengen empfangen.
Es wurden Kerzenaktionen und Wohltätigkeitskonzerte veranstaltet, um Geld zu sammeln.
Die Flüchtlinge wurden in Ferienheimen, Jugendherbergen, Pensionen und Hotels untergebracht.

In den 1960er Jahren gewährte der Bundesrat erneut tausenden Menschen die Einreise - diesmal Flüchtlingen aus Tibet und der damaligen Tschechoslowakei.
Die Aufnahme der Ungarn, Tibeter und Tschechoslowaken ist bis heute ein wichtiges Beispiel der „humanitären Tradition" der Schweiz. Verschiedene Umstände haben dazu beigetragen: Die Entscheide, diese Menschen aufzunehmen, fielen in die Zeit der Aufarbeitung der Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg. Es gab also ein Bedürfnis nach Wiedergutmachung. Zudem herrschte praktisch Vollbeschäftigung. Am Wichtigsten aber war, dass die Flüchtlinge aus der ‚richtigen politischen Ecke' kamen - sie flohen vor den Kommunisten.

Die heutige Situation ist in vielerlei Hinsicht komplexer:

Die Menschen kommen nicht mehr aus Europa, sondern aus Afrika, dem Nahen Osten, Asien.
Sie migrieren in immer grösserer Zahl: 2012 waren es über 200 Mio., was das 5. grösste Land der Welt ergeben würde.
Und sie verlassen ihre Heimat aus unterschiedlichsten Gründen: weil sie aus politischen, aus religiösen oder anderen Gründen verfolgt sind; weil sie in ihrem Land - auch aufgrund der klimatischen Veränderungen - keine Lebensgrundlage mehr haben; weil in ihrem Land Krieg herrscht; oder auch weil sie ihr Leben in die Hand nehmen und eine Perspektive suchen wollen, die es in ihrem Land nicht gibt.

Viele dieser Menschen machen sich unter grosser Gefahr auf den Weg. Obwohl wir für all diese Fluchtgründe Verständnis haben, sind wir trotzdem gehalten, uns am Flüchtlingsbegriff der Konvention von 1951 zu orientieren, weil diese Konvention den übergeordneten Sinn und Zweck unserer Asylpolitik zum Ausdruck bringt. Bei allem Wandel ist es also unsere gemeinsame Aufgabe, den Kern des Asylwesens zu schützen. Und deshalb ist es so wichtig, dass sich unsere Asylpolitik durch eine hohe Glaubwürdigkeit auszeichnet.

***

Vor zwei Jahren, am letzten Asylsymposium, sagte ich, dass die Schweizer Asylpolitik in einer ‚Krise der Glaubwürdigkeit' stecke. Ich führte dies damals vor allem auf die viel zu langen Asylverfahren zurück. Heute bin ich mehr denn je überzeugt, dass diese Analyse richtig war. Wir arbeiten nun seit 2 Jahren intensiv an einem Weg zu einer glaubwürdigen Asylpolitik. Selbstverständlich sind wir noch nicht am Ziel, aber wir sind auf einem guten Weg. „Gut" sage ich auch deshalb, weil sich immer mehr Kreise diesem Weg anschliessen.

Die nationale Asylkonferenz von letzter Woche war ein wichtiger Zwischenhalt - einige haben es auch einen „Meilenstein" genannt: Bund, Kantone, Gemeinden und Städte haben eine gemeinsame Erklärung verabschiedet und damit zum Ausdruck gebracht, dass sie gemeinsam auf diesem Weg weitergehen wollen.

Ich möchte heute nicht über die Neustrukturierung des Asylwesens sprechen, Herr Direktor Gattiker hat das gestern ausführlich getan. Ich möchte heute vielmehr die Rolle der Zivilgesellschaft im Asylwesen thematisieren. Und dabei möchte ich von verschiedenen Traditionen sprechen.

Von guten und schlechten Traditionen

Tradition des Engagements der Zivilgesellschaft
Das Asylwesen kennt verschiedene Traditionen. Es gibt zunächst die Tradition des Engagements der Zivilgesellschaft.
Nicht-staatliche Organisationen nehmen heute und seit Jahrzehnten zahlreiche Aufgaben wahr:

Sie begleiten und beraten Asylsuchende im Asylverfahren;
Sie unterstützen Kantone und Bund bei der Unterbringung von Asylsuchenden;
Sie bieten Integrationsprojekte, Opferhilfe, Rückkehrberatung an;
Sie führen Anlaufstellen für Sans-Papiers;
Sie nehmen Teil an der politischen Debatte.

Das heisst im Klartext:

Ohne Zivilgesellschaft könnten Asylsuchende ihre Rechte weniger gut wahrnehmen;
Ohne Zivilgesellschaft wäre das Asylwesen teurer - weil der Staat für diese Leistungen aufkommen müsste;
Ohne Zivilgesellschaft liefe das Asylwesen Gefahr, zu einem technokratischen Behördenakt zu werden;
Kurz: ohne Zivilgesellschaft wäre das Asylwesen nicht denkbar.

Tradition der Verschärfungen
Wir wissen, dass es auch andere Traditionen im Asylwesen gibt: die lange Tradition der Verschärfungen.
Wir sprechen von 10 Revisionen in 30 Jahren: immer mit dem deklarierten Ziel, weiter an der Verschärfungsspirale zu drehen und die viel zitierte „Attraktivität der Schweiz" zu senken. Das Ergebnis dieser Verschärfungspolitik kennen wir: Als ich Vorsteherin des EJPD wurde, stellten wir in einem Bericht fest, dass wir in der Schweiz lange, sehr lange Verfahren haben.

Tradition des Misstrauens zwischen Zivilgesellschaft und politischen Behörden
Und ich entdeckte bei meinem Amtsantritt eine dritte Tradition im Asylwesen: Als Resultat dieser ständigen Verschärfungen war ein Misstrauen zwischen Zivilgesellschaft und Behörden entstanden.

Meine Damen und Herren, mit der Neustrukturierung möchte ich mit zwei dieser drei Traditionen brechen:

Erstens: Die Neustrukturierung ist keine Verschärfungsvorlage.
Zweitens: Ich möchte die Rolle der nicht-staatlichen Organisationen im Asylwesen stärken.

Mit Neustrukturierung zu mehr Glaubwürdigkeit...

Ich habe kurz nach meinem Amtsbeginn die Neustrukturierung des Asylwesens mit folgenden übergeordneten Zielen in die Wege geleitet:

Schutzbedürftigen Menschen Schutz zu gewähren;
Rasche, faire Verfahren;
Missbrauch zu bekämpfen, denn Missbrauch schadet der Glaubwürdigkeit.

Für diese Ziele besteht heute ein breiter Konsens über alle Parteigrenzen hinweg - das halte ich nach wie vor nicht für selbstverständlich. Die Neustrukturierung ist ein Vorschlag, wie wir diese Ziele mittel- bis langfristig erreichen können.
Ich möchte kurz auf einige Punkte eingehen, die mir für den Erfolg dieser Neustrukturierung wichtig scheinen:

Erstens: Neustrukturierung und Beschleunigung sind nicht Selbstzweck, sondern bringen zum Ausdruck, dass in der Asylpolitik der Mensch im Vordergrund stehen muss, und das heisst, dass wir v. a. auch deshalb rasche Entscheide wollen, weil es unwürdig ist, Menschen - gerade junge Menschen - jahrelang in Ungewissheit zu lassen, ob sie bei uns bleiben können oder nicht.

Zweitens: Die Neustrukturierung muss folgende Balance gewährleisten: Beschleunigen ja, aber die Rechtsstaatlichkeit muss garantiert sein. Und das heisst, dass der Rechtsschutz ausgebaut werden muss. Denn unentgeltlicher Rechtschutz ist die Voraussetzung für eine Beschleunigung und kein Hindernis!
Ich kann Ihnen versichern, dass wir die Kritik an den Einschränkungen des unentgeltlichen Rechtsschutzes auf das ordentliche Verfahren gehört haben. Wir sind daran, dies noch einmal sorgfältig anzuschauen.

Drittens: Wir wollen kurze Verfahren möglichst für alle Asylsuchende. Das heisst: wir wollen sowohl positive als auch negative Entscheide rasch fällen. Das ordentliche Verfahren soll kein „Ablehnungsverfahren" sein. Das BFM muss aber die Möglichkeit haben, seine Behandlungsstrategie der aktuellen Situation anzupassen - und gegebenenfalls auch positive Entscheide zu sistieren, wenn es die äusseren Bedingungen erfordern.

Viertens: wir wollen den Einbezug aller Akteure. Die Asylkonferenz von letzter Woche war hierfür ein wichtiger Schritt: Bund, Kantone und Gemeinden haben ein Bekenntnis zu einem gemeinsamen Weg abgegeben. Und ich möchte anfügen: den ganzen Tag waren parteipolitische Positionen an dieser Konferenz kein Thema - die gemeinsame Suche nach Lösungen stand bei allen im Vordergrund.

Für den Erfolg der Neustrukturierung braucht es Verbindlichkeit und das Commitment aller wichtiger Akteure - und dazu gehören auch die nicht-staatlichen Organisationen, denn sie werden mit Blick auf die neu zu gestaltende Rechtsberatung und Rechtsvertretung der Asylsuchenden eine zentrale Rolle in der Neustrukturierung einnehmen. Ich habe mich selber jahrelang in NGO engagiert und weiss deshalb sehr genau: Auch wenn eine NGO konstruktiv mitarbeitet, so muss sie doch kritische Distanz behalten. Diese Rolle der Zivilgesellschaft bleibt, denn es wird aufgrund der unterschiedlichen Rollen immer auch Differenzen geben, und das ist auch richtig so. Aber ich möchte die Zivilgesellschaft einladen, sich in den Prozess einzubringen - anstatt nur zu beobachten.

... und zu neuer Tradition

Die Neustrukturierung soll in diesem Sinne auch ein Projekt sein, um neue Tradition des gegenseitigen Vertrauens zwischen nicht-staatlichen Organisationen und Behörden zu beginnen. Denn ich bin überzeugt: wir können uns ein Abseitsstehen der Zivilgesellschaft im Asylwesen nicht leisten.

Und zwar nur schon, weil wir nicht auf menschliche, geistige und intellektuelle Ressourcen verzichten wollen.

Bund, Kantone und Gemeinden haben letzte Woche in gemeinsamer Erklärung ausdrücklich ihren Willen bekundet, die Zivilgesellschaft in die Neustrukturierung einzubeziehen. Auch seitens der Zivilgesellschaft spürte ich in den letzten Wochen und Monaten ermutigende Zeichen: vor Weihnachten hatte ich einen offenen und lebendigen Austausch mit zahlreichen Vertreterinnen und Vertretern nicht-staatlicher Organisationen. Und beim 9-Punkte-Programm von SFH / AI sehe ich viele Übereinstimmungen mit der Neustrukturierung.

Für mich sind dies starke und wichtige Signale, dass der Wille zur Zusammenarbeit beiderseits vorhanden ist. Die Form der Zusammenarbeit werden wir mit allen Beteiligten bald diskutieren.

Meine Damen und Herren, haben Sie herzlichen Dank, dass Sie gestern und heute mit suchen. Ihre Suche ist wichtig und eine Grundlage dafür, dass wir gemeinsam Wege zu mehr Glaubwürdigkeit finden werden. Es freut mich auch, dass sich die Medien heute mit einer Podiumsdiskussion an dieser Suche beteiligen - ich kann dieser Diskussion leider nicht mehr folgen, weil ich in einer parlamentarischen Kommission eingeladen bin, die Neustrukturierung des Asylwesens vorzustellen - aber ich werde mich selbstverständlich genau informieren lassen, wie die glaubwürdige Asylberichterstattung der Zukunft aussieht.

5. Schweizer Asylsymposium: Rede von Bundesrätin Simonetta Sommaruga