Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident,
geschätzte Damen und Herren aus Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik,
liebe Thurgauerinnen und Thurgauer

Vielleicht denken Sie sich: Jetzt wird Hansjörg Walter einmal im Leben Nationalratspräsident, und wer kommt vom Bundesrat? - Ausgerechnet eine Sozialdemokratin.

Und das ist übrigens nicht einmal ein Zufall. Es gibt nämlich eine ungeschriebene Regel, die besagt, dass die Rede für den neuen Präsidenten des Nationalrats jeweils von einem Bundesrat oder einer Bundesrätin gehalten wird, die einer anderen Partei angehört.

Was ist der tiefere Sinn dieses ungeschriebenen Gesetzes? - Bestimmt vermuten Sie: Das ist wegen der Konkordanz. Und natürlich haben Sie Recht.

Eine Woche vor den Bundesratswahlen reden ja alle von Konkordanz. Nur scheinen auch alle ein bisschen etwas anderes darunter zu verstehen.

Was also ist Konkordanz? Das Wort stammt von concordare ab, was „übereinstimmen" bedeutet. Con heisst „mit" und cor heisst „Herz" (wie coeur im Französischen oder cuore im Italienischen). Konkordanz heisst also, mit dem Herzen miteinander verbunden sein. - Das ist in der Politik, seien wir ehrlich, manchmal vielleicht doch etwas viel verlangt.

Bei Hansjörg Walter fällt es uns aber leicht. Wir fühlen uns herzlich verbunden mit ihm. Hansjörg Walter ist ein herzlicher Mensch und Politiker.

Wenn ich Hansjörg Walter als konkordanten Politiker bezeichne, dann nicht etwa, weil wir meistens gleicher Meinung wären. Wir vertreten sehr oft unterschiedliche Ansichten.

Wenn wir aber ein gemeinsames Anliegen hatten, dann haben wir uns zusammen dafür eingesetzt, etwa in der Landwirtschaft. Das gab dann auch mal Mais im Bundeshaus, zum Beispiel beim Gentech-Moratorium in der Landwirtschaft.

Ich kenne Hansjörg Walter aber nicht nur aus gemeinsamen Sitzungen im Bundeshaus. Wir waren vor einigen Jahren auch zusammen auf einer Reise in Indien.

In einem abgelegenen Dorf mitten im zentralindischen Staat Maharashtra besuchten wir eine grosse Bauernversammlung. Etwa 100 Bäuerinnen und Bauern begrüssten uns, und einer legte Hansjörg Walter einen Blumenkranz um den Hals. Plötzlich stand Hansjörg unter der sengenden Sonne vorne auf einem kleinen Podium. Er begann zu erzählen und wirkte dabei, Sie könne es sich vorstellen, etwa doppelt so gross wie die Inder um ihn herum (und auch ein bisschen breiter). Und Hansjörg, du erinnerst dich, da war weit und breit keine Dolmetscherin, aber du hast engagiert und voller Herzblut diskutiert mit diesen indischen Bäuerinnen und Bauern.

Ich weiss nicht mehr, in welcher Sprache das war: Englisch, Thurgauerdialekt oder eine Mischung davon - und wenn die Worte fehlten, hast du sie durch heftiges Gestikulieren ersetzt.

Ich war beeindruckt, wie neugierig du warst, und wie du dich für die indischen Bauern und ihre Probleme mit dem gentechnisch veränderten Saatgut interessiert hast. Du hast dich auf die Menschen eingelassen, du hast ihnen zugehört. Ihr habt einander verstanden, über alle sprachlichen und kulturellen Grenzen hinweg.

Lieber Hansjörg, wer sich so mit 100 indischen Bäuerinnen und Bauern verständigen kann, der bringt alles mit, um auch 199 Nationalrätinnen und Nationalräte zu verstehen.

Meine Damen und Herren, der tiefere Sinn der Konkordanz besteht darin, aufeinander zuzugehen. Das ist anspruchsvoll. Das ist manchmal auch ziemlich anstrengend.

Aber genau diese Anstrengung macht die Qualität unseres politischen Systems aus. Sie führt dazu, dass viele Entscheide bei uns - wenn sie dann einmal gefällt sind - breit akzeptiert werden. Das macht unser System so stabil.

Wir sind zu Recht stolz auf unsere politische Kultur, aber wir müssen sie immer wieder erneuern, wenn sie nicht zum Mythos verkommen soll.

Unsere direkte Demokratie lebt von den Bürgerinnen und Bürgern, die sich politisch einbringen. Und unsere Demokratie ist angewiesen auf Politikerinnen und Politiker, die bereit sind, miteinander zu ringen, damit am Schluss eine gemeinsame Lösung da ist.

Meine Damen und Herren, Hansjörg Walter ist nun ein Jahr lang Präsident des Nationalrats und somit höchster Schweizer. Er übernimmt eine ebenso würdevolle wie anspruchsvolle Aufgabe.

Es ist mir eine persönliche Freude und eine grosse Ehre, Hansjörg Walter im Namen des Bundesrates für die Wahl zum Präsidenten des Nationalrats zu gratulieren.

Ich wünsche dir und deiner Familie, lieber Hansjörg, für das kommende Jahr alles Gute.

Feier zur Wahl des Nationalratspräsidenten Hansjörg Walter