Sehr geehrter Herr Präsident
Sehr geehrter Herr Präsident des Ständerates
Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesgerichts
Sehr geehrte Damen und Herren

Herzlichen Dank für Ihre Einladung. Es ist für mich etwas sehr Spezielles, als Pianistin vor einer solch illustren Schar von juristischen Persönlichkeiten eine Rede zu halten - und erst noch die Festansprache zum 150 jährigen Jubiläum des Schweizer Juristenvereins. Ich habe mich aber sehr gefreut, zu Ihnen zu kommen, denn schliesslich haben Musik und Recht sehr viele Gemeinsamkeiten.

Die Parallelen beginnen schon bei der Entstehung. Musik wird komponiert. Jemand hat eine Idee - eine Vision - und setzt diese dann um, indem er die Noten zu Papier bringt.

Auch Rechtstexte müssen komponiert respektive geschaffen werden. Sie entstehen, weil jemand eine Idee, eine Vorstellung hat, ein Problem lösen oder eine Klärung herbeiführen möchte. Ein solches Anliegen wird in Worte gefasst und durchläuft dann einen längeren Prozess, vom Entwurf über die Vernehmlassung bis zu seiner Verabschiedung durch Bundesrat, Parlament oder Stimmvolk.

Beim Musikstück wie beim Rechtstext ist aber die Arbeit nach dem Komponieren - respektive dem Niederschreiben - nicht abgeschlossen. Bei beiden gibt es keine abschliessende Klarheit darüber, was entstanden ist.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich das gleiche Musikstück tönen kann, je nachdem, wer es spielt, wer es dirigiert, ob es mit alten oder neuen Instrumenten gespielt wird. Selbst eine eigentlich klare Tempo-Angabe wie „Allegro" oder „Presto" kommt je nach Interpret völlig verschieden daher.

Aber nicht nur die individuelle Interpretation spielt eine Rolle, sondern es gibt in der Musik - wie auch im Recht - eigentliche „Strömungen", wie man etwas auslegt.

Auch Gesetze und Verordnungen müssen gedeutet und interpretiert - eben ausgelegt werden. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie unklar für die Juristinnen und Juristen auch auf den ersten Blick klare Rechtstexte sind.

Das Bonmot „2 Juristen, 3 Meinungen" entspricht durchaus auch meinen persönlichen Erfahrungen! Das hat übrigens auch Vorteile: Ich höre mir sehr gerne verschiedene Meinungen an, bevor ich zu einer Entscheidung komme.

Die Jurisprudenz wie auch die Musik sind also durchwegs kreative Tätigkeiten. Nicht zuletzt deshalb habe ich wohl den Sprung von der Musik in die Politik - und damit auch in die Rechtsetzung - so gerne und recht leicht geschafft.

Kreativität alleine genügt aber weder für die Musik noch für das Recht. Es braucht für beide Bereiche auch viel Sachkenntnis, Hintergrundwissen, langjährige Erfahrung und eine gute Portion gesunden Menschenverstand.

Von alldem ist in Ihrer Vereinsarbeit sehr viel vorhanden. Und noch mehr: beim Durchblättern Ihrer Jubiläumsschrift hat mich ganz besonders beeindruckt - und auch gefreut! -, dass der Schweizer Juristenverein in diesen letzten 150 Jahren stets mutig, offen und unabhängig war.

Mutig und progressiv war zum Beispiel, dass sich der Juristenverein für die Vereinheitlichung des Zivil-, Straf- und Prozessrechts engagiert hat. Dieses war ja bei seiner Gründung noch kantonal geregelt.

Damit hat der Juristenverein einen wichtigen Beitrag für die Industrialisierung und die Förderung von Handel und Gewerbe geleistet. Er hat die beiden grossen Schweizer Kodifikationen des 20. Jahrhunderts - das Zivil- und das Strafgesetzbuch - inhaltlich mitgeprägt und damit auch wesentlich dazu beigetragen, dass unser Bundesstaat gestärkt und der Zusammenhalt der Schweiz gefördert wurde.

Die Offenheit des Schweizer Juristenvereins ist

einerseits eine geographische Offenheit: Der Verein hat den Stellenwert des internationalen Rechts erkannt und sich schon früh mit Europarecht, mit der Internationalisierung des Wirtschaftsstrafrechts und dem internationalen Menschenrechtsschutz auseinandergesetzt.
Der Juristenverein ist aber auch in inhaltlicher Hinsicht offen: Er scheut sich nicht vor der öffentlichen Auseinandersetzung mit kontroversen Themen. Und er tut dies auf eine souveräne Art, indem er befürwortenden und kritischen Stimmen Gehör verschafft. Die letztjährige Jahrestagung zur Verfassungsgerichtsbarkeit ist ein gutes Beispiel dafür.

Der Schweizer Juristenverein war drittens immer unabhängig. Er hat sich nie von politischen Strömungen oder Modeerscheinungen leiten lassen, sondern war immer der Wissenschaftlichkeit verpflichtet.

Mut, Offenheit und Unabhängigkeit: das sind - nicht nur vor den Wahlen - keine selbstverständlichen Eigenschaften. Und es sind Eigenschaften, die mich ganz besonders beeindrucken! Ich gratuliere Ihnen daher nicht nur zu Ihrem runden Geburtstag, sondern vor allem auch zur Art und Weise, wie Sie alt geworden sind!

Mut und Offenheit würde ich mir von den Juristinnen und Juristen aber nicht nur in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit rechtlichen Fragestellungen wünschen. Und damit komme ich zu einem langjährigen Anliegen, das sich in meinen ersten 10 Monaten als Justizministerin noch akzentuiert hat. Nämlich zur Sprache oder allgemein ausgedrückt, zur Verständigung.

Die Sprache ist - gerade in der Jurisprudenz - das wichtigste Ausdrucksmittel. Das Recht wird ja meistens durch Sprache vermittelt. Ich denke dabei an Gesetze, Verordnungen, Verfügungen oder Gerichtsentscheide. Dabei dominiert oft die Schriftlichkeit.

Das bedeutet, dass die nonverbale Kommunikation fast vollständig wegfällt. Dabei wäre gerade sie für eine umfassende Verständigung zwischen den Menschen und Institutionen so wichtig.

Vor diesem Hintergrund erhält die Sprache für die Juristinnen und Juristen eine spezielle - eine sehr wichtige - Bedeutung. Bei vielen juristischen Texten, Urteilen oder Verfügungen musste ich feststellen, dass sie alles andere als leicht verständlich sind.

Juristinnen und Juristen wollen möglichst präzise und vollständig sein, sie verweisen gerne auf unzählige Rechtsquellen und verwenden sehr viele Fachbegriffe. Das Resultat ist, dass sich ihre Texte von der Alltagssprache der Bürgerinnen und Bürger so weit entfernen, dass sie für die Rechtsuchenden kaum mehr verständlich sind.

Das ist bedauerlich, denn damit schadet sich die Jurisprudenz selber - sie verliert an Vertrauen und Glaubwürdigkeit, weil sie für Normalbürger nicht einmal mehr nachvollziehbar ist.

Fehlende oder mangelhafte Verständigung untergraben das Vertrauen in die rechtsanwendenden Behörden. Das ist vor allem dort problematisch, wo die Menschen von Entscheiden ganz direkt und in ihrem täglichen Leben betroffen sind.

Ich plädiere daher immer wieder für eine einfache, klare, unkomplizierte, ehrliche und höfliche Sprache.

Egal ob es sich um die Erteilung einer Konzession für eine Spielbank, um die Nichteintragung eines Patents, eine Eichverfügung für ein Alkoholtestgerät, einen Bericht zur Suizidhilfe, Erläuterungen zur Pflegekinderverordnung oder um einen abweisenden Asylentscheid handelt: Wer einen Rechtstext von uns erhält, muss ihn verstehen können.

Es gibt im Übrigen - und davon bin ich wirklich überzeugt! - kein Problem, das so kompliziert ist, dass es nicht auch meine Grossmutter oder mein fast volljähriger Neffe verstehen könnte.

Deshalb erlaube ich mir, diese Erwartung, diese Bitte, heute auch an Sie zu richten: Schreiben Sie so, dass Sie ein durchschnittlich intelligenter Mensch verstehen kann. Alles andere ist unnötig und überflüssig - beeindrucken können Sie mit hochkomplexen, mit unzähligen Fremdwörtern gespickten Texten allenfalls Ihre Studierenden, aber wer über ein gesundes Selbstbewusstsein verfügt, braucht diese Art von Bestätigung nicht.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschliessend drei aktuelle Themenbereiche aus meinem Departement ansprechen.

Ich habe einleitend von den Parallelen zwischen Musik und Recht gesprochen. Eine wichtige Gemeinsamkeit ist, dass beide interpretationsbedürftig sind.

Ein eindrückliches Beispiel aus diesem Bereich ist die Ausschaffungsinitiative. Für die Umsetzung des gleichen Verfassungsartikels sind von einer Expertengruppe vier unterschiedliche Varianten erarbeitet worden.

Welche Interpretation ist nun die richtige? Was heisst hier richtig? Gibt es überhaupt eine richtige Umsetzung? Oder mit anderen Worten, wer hat die Definitionsmacht über den vom Volk angenommenen Verfassungsartikel?
Diese Fragen zu beantworten wird nicht ganz einfach sein. Gefordert ist zuerst der Bundesrat und dann das Parlament. Je nach Ausgang der laufenden Diskussionen um die Verfassungsgerichtsbarkeit werden sich auch noch kantonale Gerichte oder das Bundesgericht zu diesen Fragen äussern.

Man kann das Verhältnis zwischen Musik und Recht aber noch weiter reduzieren: Musik ist in Töne gefasste Ordnung, Recht ist in Worte gefasste Ordnung.

Das Thema „Ordnung" ist im EJPD allgegenwärtig. Es umfasst Aspekte wie die Gewährleistung der öffentlichen und der privaten Sicherheit, das Aufstellen von Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben oder die Ordnung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat.

So habe ich zum Bespiel versucht, die Verantwortung von getrennt lebenden Eltern für ihre Kinder zu ordnen. Im Zentrum steht für mich immer das Kindeswohl. Die gerechte Verteilung der Unterhaltspflichten zwischen den Eltern erachte ich dabei als ebenso wichtige Frage, wie jene nach der elterlichen Sorge.

Den Ausgang der Geschichte zu meinem ersten Ordnungsversuch kennen Sie. Sie trägt den Titel: „Wie hole ich mir in kürzester Zeit den Zorn möglichst vieler Väter?" Mit diesem Ordnungsversuch habe ich zwar zuerst einmal Unordnung stiftet. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich diese erste Unordnung im Sinne einer Auslegeordnung später zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen lässt.

Ordnung braucht es schliesslich auch im Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Oberstes Ordnungsprinzip muss zweifelsohne die Rechtsstaatlichkeit sein.

Die aktuellen Ereignisse in Nordafrika zeigen eindrücklich, welch fundamentale Errungenschaft ein Rechtsstaat von moderner Prägung ist. Ein Rechtsstaat, der einerseits die Macht des Staates durch demokratisch legitimierte Gesetze determiniert. Ein Rechtsstaat, der andererseits aber auch eine materielle Gerechtigkeit gewährleisten soll.

Wenn Menschen bereit sind, für die Etablierung eines solchen Rechtsstaates oder kürzer - für die Freiheit - zu sterben, dann beeindruckt mich das zutiefst.

Auch in der Schweiz müssen die Regeln im Verhältnis zwischen Bürgerin und Staat immer wieder überprüft und angepasst werden. Dies kann aufgrund von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder technischen Entwicklungen nötig sein.

Ein gutes Beispiel aus meinem Departement ist die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs. Mit dem entsprechenden Ordnungsversuch habe ich zwar tatkräftig geholfen, das mediale Sommerloch zu füllen. Dies meines Erachtens aber zu Unrecht.

Denn die anstehenden Revisionen im Bereich der Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs haben nichts mit Schnüffelstaat und nachrichtendienstlicher Datenspeicherung auf Vorrat zu tun. Schliesslich sind diese Überwachungen - und das wissen Sie besser als ich - nur für ganz bestimmte Delikte möglich, und sie müssen immer richterlich genehmigt werden.

Im Zusammenhang mit der Überwachung stellen sich aber andere wichtige Fragen. Fragen nach der Verhältnismässigkeit von Datenspeicherungen, nach den effizienten Überwachungsmassnahmen, nach der Sicherheit von Netzen und der sicheren Übertragung von hochsensiblen Daten.

Das, meine Damen und Herren, waren zum Abschluss also drei Themen, die mich aktuell beschäftigen. Die Liste der Herausforderungen, die das EJPD in den nächsten Monaten zu bewältigen hat, könnte ich problemlos fortsetzen. Ich möchte aber keine Unordnung in Ihre Jubiläumsveranstaltung bringen und schliesse meine Ansprache mit einem grossen und herzlichen Dankeschön für das, was Sie bisher für die Rechtsentwicklung in der Schweiz geleistet haben.

Ich wünsche dem Schweizer Juristenverein, dass er seine Rollen, die er seit seiner Gründung wahrgenommen hat, auch in Zukunft ausüben wird. Dass er Impulsgeber für die Gesetzgebung bleiben und unsere Rechtsordnung kritisch begleiten und beleuchten wird.

Der Schweizer Juristenverein beschäftigt sich mit den grossen Linien und den Grundzügen unserer Rechtsordnung. Er sieht Zivilrecht, Strafrecht, öffentliches und internationales Recht nicht isoliert nebeneinander, sondern richtet seinen Blick immer wieder aufs Ganze. Er ist damit fast schon ein Monolith in der spezialisierten Welt der Juristinnen und Juristen. Ich ermutige Sie, diesen Weg weiter zu verfolgen und wünsche Ihnen von Herzen noch einen schönen und unterhaltsamen Galaabend.

150 Jahre Juristenverein